Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.12.2006. Anlässlich der Teheraner Negationisten-Konferenz fordert Ayaan Hirsi Ali in der Welt die westlichen Staaten auf, mehr gegen den Antisemitismus in der islamischen Welt zu tun. Die FR fürchtet: Der Documenta-Leiter Roger M. Buergel wird nicht schmusen wollen. Auch die SZ staunt nicht schlecht über den Mann. Die taz staunt dagegen über dreißig Jahre Emma und bedauert die Christen im Irak. Die FAZ bietet zu Weihnachten eine Liste mit den am schlechtesten verkauften guten Büchern dieses Jahres.

Welt, 16.12.2006

Auf der Meinungsseite fordert Ayaan Hirsi Ali (mehr) die westlichen Staaten auf, etwas gegen den Antisemitismus in der arabischen Welt zu tun. "Vom Holocaust erfuhren wir nie. Später in Kenia, als ich ein Teenager war und die Wohltaten aus Saudi-Arabien und anderen Golf-Staaten uns in Afrika erreichten, erinnere ich mich, dass der Bau von Moscheen und die Spenden für Krankenhäuser und Arme Hand in Hand gingen mit der Verwünschung der Juden. Die Juden, hieß es, seien schuld am Tod von Babys, an Epidemien wie Aids, an Kriegen. Sie seien gierig und würden absolut alles tun, um uns Muslime zu töten. Und wenn wir je erleben wollten, was Frieden und Stabilität bedeute, dann müssten wir sie vernichten, bevor sie uns auslöschen würden... Westliche Politiker, die heute sagen, sie seien von Ahmadinedschads Konferenz der Holocaust-Leugner schockiert, müssen sich dieser Realität stellen. Für die Mehrheit der Muslime weltweit ist der Holocaust keine historische Tatsache, die sie leugnen. Wir wissen einfach nicht davon, denn man hat uns nie aufgeklärt. Schlimmer noch, die meisten von uns wurden darauf getrimmt, den Juden einen Holocaust zu wünschen."

Für die Literarische Welt war Peter Stephan Jungk mit der Dichterin Lavinia Greenlaw im Kino, in "Little Miss Sunshine". Niemand im Fim scheint eine Wandlung durchzumachen, wie das sonst üblich ist, bemerkt Jungk. "'Man hat nicht einmal den Eindruck, dass sie sich je ändern werden!', sekundiert Lavinia Greenlaw, 'und im Fall von Olive ist das nur gut so, denn sie wird eine Persönlichkeit bleiben, die gegen den Strom schwimmt, eine Individualistin bis ins Mark.'"

Abgedruckt sind eine Erzählung aus Irene Disches neuem Erzählband "Lieben" und die Laudatio von Uwe Wittstock auf Daniel Kehlmann zum Kleist-Preis. Marko Martin porträtiert die israelische Schriftstellerin Mira Magen. Besprochen werden unter anderem Pierre Assoulines Roman "Hotel Lutetia" und Gregor Hens' Buch "In diesem neuen Licht".

Im Feuilleton erzählt Hendrik Werner von der Liebe der Deutschen zur italienischen Küche. Sean Rainbird spricht im Interview über seine neue Tätigkeit als Direktor der Staatsgalerie Stuttgart. Michael Pilz schreibt zum Tod von Ahmet Ertegün. Manfred Quiring berichtet vom Kampf der russischen Regierung gegen Kunsträuber. Besprochen werden Christian Boltanskis Installation "Zeit" in Darmstadt und Eugen d'Alberts Oper "Tiefland" in Frankfurt.

FR, 16.12.2006

Elke Buhr porträtiert den Leiter der im nächsten Jahr statffindenden documenta, Roger M. Buergel: "Und so verbindlich Buergel auch wirkt, wenn er auf Veranstaltungen mit leiser Stimme vorträgt und gewandt Fragen des Publikums beantwortet: Er wird nicht schmusen wollen. Das Kunstsystem, so sagt er, steckt zwischen Geschäft, Unterhaltung und Spektakel fest, er empfiehlt 'intellektuellen Eros als Gegenkur gegen hohe Preise'. Und als Ziel der documenta stellt er einen klassisch aufklärerischen Begriff auf den Sockel zurück, von dem er im Amüsierbetrieb der Blockbuster-Ausstellungen lang verstoßen war: Ästhetische Erziehung."

Weitere Artikel: Karl Grobe schreibt über das Bild der Deutschen von den Russen. Petra Kohse denkt über den allgemeinen Drang zum Bei- und Nebengeschäft nach. Martina Meister meditiert in ihrer "Plat du jour"-Kolumne über Paris und die Liebe

Besprochen werden eine August-Macke-Ausstellung in Bad Homburg und eine Lesung mit kulinarischen Texten von Eva Demski.

TAZ, 16.12.2006

Jacques Naoum berichtet von der außerordentlich schwierigen Lage der Christen im Irak: "Zwischen allen Regionen zerstreut, geraten die Christen im Irak zwischen die Fronten der interkonfessionellen Kämpfe zwischen Schiiten und Sunniten. Seit den antiislamischen Zitationen Papst Benedikts im September sehen sie sich dem Zorn beider Seiten ausgesetzt. Eine offizielle Distanzierung der irakischen Kirchen von der Papstrede, verbunden mit der Reduzierung aller sichtbaren christlichen Aktivitäten im Lande, wie etwa Gottesdienstbesuche oder das Glockenläuten, hat nicht geholfen - viele Kirchen wurden Ziel von Anschlägen, wie die St.-Marien-Kathedrale in Bagdad, die durch eine Autobombe beinahe zerstört wurde."

Weitere Artikel: Für den Dachs und den Nachtfalter in unseren Breiten ist die Klimaerwärmung verunsichernd, aber nicht weiter schlimm, stellt Cord Riechelmann fest. Aber der Eisbär im warmen Polar, der ertrinkt. Harald Fricke verfasst den Nachruf auf den Atlantic-Plattenlabel-Gründer Ahmet Ertegun. Ines Kappert war auf einer Pressekonferenz, auf der ein FAZ-Vertreter vergeblich die weltweite Verbreitung deutscher liberaler Leitkultur durch Goethe-Institute einforderte. Daniel Schreiber berichtet von der Foto- und Videotriennale "ecotopoia" in New York. Auf der Medien-Seite gibt es ein Interview mit dem neuen Chefredakteur Max Dax zu Umzug und Umbruch bei der Pop-Zeitschrift Spex.

In der zweiten taz konstatiert Susanne Lang nach dreißig Jahren Emma: "Der lange Marsch gegen die Institution Mann scheint sich gelohnt zu haben. Alice Schwarzer jedenfalls sieht an diesem Freitag so aus, als wäre sie am richtig Ort angekommen: mitten in Berlin, am politischen Spreeviertel, in der Bundespressekonferenz." Barbara Dribbusch erläutert eine Studie von Psychologen zu manchmal paradoxen Ergebnissen des Gerechtigkeitsempfindens. Roland Schmidseder glossiert den Finalsieg des Wortes "Fanmeile" beim Wettbewerb ums "Wort des Jahres".

Im Dossier des taz mag berichtet Susanne Lang von künstlerischen Befriedungsversuchen auf Zypern. Philipp Gessler informiert über das Verhältnis Sigmund Freuds zum Judentum. Der Fotograf Bernd Hartung schreibt über seine Fotografien der Schweizer Garde.

Rezensionen gibt es zu nachkriegsdeutschen Briefwechseln Uwe Johnsons mit Fritz J. Raddatz und Walter Kempowski, zu John Haskells Roman "Amerikanisches Fegefeuer", zum zweiten Teil von Neal Stephensons Barock-Trilogie "Confusion" und zu neuen Agententhrillern. In der Rubrik "Politisches Buch" geht es um einen reichlich missglückten west-östlichen Dialog mit dem Titel "Die Verschwulung der Welt" und Heinz A. Richters Standardwerk über die Geschichte Zyperns (mehr in der Bücherschau ab 14 Uhr).

Und Tom.

FAZ, 16.12.2006

Noch auf der Suche nach einem Weihnachtsgeschenk? Literaturredakteur Hubert Spiegel hat für das neue "Bilder und Zeiten" eine Liste der "Worstseller" zusammengestellt, die auf eine Umfrage unter Verlagen beruht: "Bitte nennt uns euren 'heißgeliebten Ladenhüter', ein Buch also, das dem Verlag am Herzen liegt, aber vom Publikum ignoriert wird. Unsere Umfrage ist nicht repräsentativ, sie soll keinen Verlag und erst recht keinen Autor bloßstellen. Sie soll jedoch ein Schlaglicht auf die gegenwärtige Situation des Buchmarkts werfen und zeigen, unter welchen schwierigen Bedingungen renommierte Verlage wie Diogenes, Hanser, Suhrkamp, S. Fischer, Wagenbach und viele andere ihre Backlist pflegen." An der Spitze steht der Roman "Vorsätzlich Herumlungern" von Muriel Spark (6 verkaufte Exemplare 2006). Es stehen auch Bücher von Heinrich Mann, Claude Simon und Jean Amery auf der Liste.

Weitere Artikel in der Samstagsbeilage: Als Ergänzung zu den Worstsellern werden einige Bestseller aus anderen Ländern vorgestellt. Niklas Maak begibt sich auf die Suche nach Green Glamour und findet sie in technizistischen Häusern von Werner Sobek und einigen neuen Hybridautos. Andreas Rosenfelder probiert die neue Spielkonsole "Wii" aus. Tilmann Lahme unterhält sich mit dem Standup Comedian Kurt Krömer. Besprochen werden Bücher von Gianni Celati und Niklas Holzberg.

Im Feuilleton schreibt Regina Mönch den Aufmacher über das Problem häufig straffälliger Jugendlicher in Berlin. Jürgen Kaube schreibt eine Glosse über die viel zitierte Heitmeyer-Studie, die den Deutschen bescheinigt, dass sie den Islam nicht ausreichend bewundern. Jürgen Dollase singt in seiner Gastrokolumne ein Loblied auf den österreichischen Koch Heinz Hanner. Edo Reents schreibt zum Tod des legendären Plattenproduzenten Ahmet Ertegun. Jürg Altwegg berichtet über die Krise der französischen Zeitschriften.

Sehr auffällig ist eine halbseitige Anzeige des Steidl-Verlags, die begeisterte Kritiken aus Großbritannien über Günter Grass' "Beim Häuten der Zwiebel" präsentiert.

Auf der Medienseite geht Michael Hanfeld einem von den Freien Wählern in Hessen aufgebrachten angeblichen Stimmenkaufskandal nach. Für die letzte Seite besucht Andreas Platthaus die neu präsentierte Porzellansammlung in Dresden und beklagt die "perfiden Strategien", mit denen die Anwälte des Hauses Wettin Stücke aus der Sammlung als angeblichen Privatbesitz herausklagen wollen, um sie auf dem Markt zu verscherbeln.

Besprochen werden eine Ausstellung über den Cartoonisten Saul Steinberg in New York und eine Münchner Ausstellung über Dichter im Exil (mehr hier).

Auf der Schallplatten-und-Phono-Seite stellt Ulrich Schreiber einige empfehlenswerte Aufnahmen des "Messias" von Händel vor. Susanne Schmetkamp feiert die Avantgardeband Portugal. The Man aus Alaska. Eric Pfeil hört sich die neue CD von Robyn Hitchcock an. Und Richard Kämmerlings erinnert an das Phänomen der Weihnachtssingles.

Und Walter Hinck stellt in der Frankfurter Anthologie ein Gedicht von Dieter Schlesak vor - "Meine Liebste lass uns gehen:

"sieh wir haben uns schon die Hände
über die Augen gelegt.

War nicht dein Geschlecht schon wie immer
der Aus- und eingang zur Welt? (...)"

NZZ, 16.12.2006

Der Historiker Carlo Moos schreibt über die italienische Mafia in Geschichte und Gegenwart. "Das Phänomen reicht mit seinen Wurzeln tief in die Vergangenheit zurück, letztlich bis zum altrömischen System der Abhängigkeit des Klienten vom Patron. Dieser bietet Schutz und Hilfe, jener verspricht Gehorsam und 'omerta'. Durch die Schicksalsläufe der italienischen Geschichte scheint sich das System immer weiter tradiert und bis in die Gegenwart erhalten zu haben."

Besprochen werden die laut NZZ erste monografische Ausstellung zu Annibale Carracci in Bologna, Eugen d'Alberts Oper "Tiefland" in der Oper Frankfurt und eine Ausstellung über den Architekten Alvaro Siza in Nizza.

Die Beilage Literatur und Kunst bringt mehrere Artikel zum 50. Todestag Robert Walsers. "Sein stiller Tod im Schnee vor fünfzig Jahren, am Weihnachtstag 1956, erscheint uns als Vollendung seines Verschwindens und gleichzeitig als die Einlösung seines Werks durch sein Leben", schreibt Peter Utz in einem Essay über Robert Walsers "brouillons de soi". Reto Sorg berichtet über eine wiederaufgefunde Walser-Lesung durch Walter Benjamin für den Rundfunk in den zwanziger Jahren. Roman Bucheli schreibt über das Verhältnis des Autors Gerhard Meier zu Walser.

Weitere Artikel in der Samstagsbeilage: Franz Haas plädiert für die hierzulande kaum bekannte italienische Autorin Anna Maria Ortese (1914-1998) Axel Christoph Gampp stellt das Künstlerduo Monica Studer und Christoph van den Berg vor, dessen Internetprojekt Hotel Vue des Alpes von Reinhard Storz besucht wird. Elsbeth Gut Bozzetti macht eine "Nouvelle vague" in der sardischen Literatur aus. Besprochen werden Erzählungen von Robert Schopflocher.

Berliner Zeitung, 16.12.2006

Der Architekt David Chipperfield verteidigt im Gespräch mit Nikolaus Bernau seinen Entwurf für einen Glasbau als Eingangsbau der Museumsinsel am Kupfergraben in Berlin: "Schinkel hat auch immer die neuesten Baumaterialien benutzt, wie im Alten Museum oder in der Bauakademie. Vielleicht würde Schinkel heute mit Glas bauen."

SZ, 16.12.2006

Holger Liebs staunt nicht schlecht über die Pläne und Ankündigungen Roger M. Buergels, des Leiters der im nächsten Jahr stattfindenden Documenta. Solche Sätze zum Beispiel: "'Ich will die Schönheit, die ästhetische Erfahrung aus dem Boutiquenbereich, aus der Welt von Louis Vuitton wieder in die Ausstellung zurückholen', erklärt Buergel. 'Ich will Atmosphäre herstellen. Die Documenta findet im Park statt, nicht in der Stadt. Ich habe eine Verantwortung für das steuerzahlende Bildungsbürgertum. Die Zeitgenossen sollen zur Documenta kommen und denken: Was ist das denn? Und wenn sie diese Offenheit einer bodenlosen ästhetischen Erfahrung aushalten, wenn sie mal nicht gleich verstehen wollen, was sie sehen, kann das in eine ethische Perspektive münden.'"

Weitere Artikel: Tilman Spengler erinnert an die Veröffentlichung der Mao-Bibel vor vierzig Jahren. Gustav Seibt erklärt den Sinn staatlicher Rauchverbote. Bis nach Sao Paolo ist Jürgen Berger Frank Castorf gefolgt, um zu erleben, dass der dort "seine Volksbühne mit den Mysterien des Voodoo gekreuzt" hat. Alle Pläne, die Architektur an die Schule zu bringen, kann Katharina Mütter nur unterstützen. Gerhard Matzig staunt über den rasant sich verteuernden Berliner Hauptbahnhof. Arnd Wesemann stimmt ein auf die untersubventionierte große Gala des Tanzes am heutigen Abend. Gemeldet wird, dass Bob Dylan Klage erhebt gegen die verfälschende Darstellung seiner selbst im Film "Factory Girl", in dessen Zentrum der Warhol-Star Edie Sedgwick steht.

Besprochen werden der Enzo-Ferrari-Film "Ferrari", Eduardo Mignognas Film "Der Wind", eine Ausstellung mit Zeichnungen von Karl Bohrmann in der Münchner Pinakothek der Moderne und ein Konzert des Münchner Kammerorchesters unter Leitung der Estin Anu Tali.

Auf der Literaturseite berichtet Helmut Böttiger, dass die Kulturstiftung des Bundes am Montag entscheiden wird, ob litrix.de, die Initiative zur Vermittlung deutscher Literatur ins Ausland, weiter finanziert wird. Jens Bisky informiert über die drohende Schließung des Koeppen-Hauses in Greifswald. Außerdem gibt es Rezensionen zu Jane-Austen-Hörbüchern und zu Heiko Michael Hartmanns Politsatire "Das schwarze Ei" (mehr in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Im Aufmacher der SZ am Wochenende denkt Willi Winkler grimmig über den Marktwert des Menschen in der Mediengesellschaft nach. Stefan Klein hat ein Tagebuch seiner Reisen mit der oft verspäteten, aber dennoch "großartigen" deutschen Bahn verfasst. Wäis Kiani gratuliert Benetton zum 40. bzw. zum 41. Geburtstag. Auf der Historien-Seite geht es um Wolfgang Harich und um Zypern. Tobias Lehmkuhl hat einen Reise-Essay über deutsche Erinnerungsorte geschrieben. Im Interview spricht der Filmproduzent Jerry Bruckheimer über "Strategie" und lässt sich von Thomas Mann auf Ideen bringen: "Sie werden sehen: Mein nächster Schurke hat schlechte Zähne!".