Heute in den Feuilletons

"Sie wollen den Alten endlich loswerden"

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.10.2007. Günter Grass ist achtzig! Die Welt verteidigt ihn gegen die Bürgerkinder des liberal-urbanen Justemilieu und andere Wortführer unter seinen Verächtern. Die FR bringt eine lange Hommage von John Irving. In der taz tragen heute alle Schnauzbart. Im Tagesspiegel äußert er sich selbst - und zwar gegen den Überwachungsstaat. Die SZ bedauert, dass er nicht immer auf der Höhe seiner Kunst blieb. Die FAZ stellt sich an die Spitze des Justemilieu, in dem sie Grass praktisch gar nicht gratuliert.

Welt, 16.10.2007

Eckhard Fuhr würdigt auf Seite 3 Günter Grass, auch gegen die Wortführer unter seinen Verächtern: "Jedenfalls nimmt er einen Rang ein, den kein Schriftsteller der nachfolgenden Generationen für sich beanspruchen kann." Und: "Heute schreckt der Alte die Bürgerkinder des liberal-urbanen Justemilieu. Er erinnert sie daran, wie weit entfernt sie von wirklicher Bürgerlichkeit sind. Dass einer Wurzeln in kaschubischen Kartoffeläckern hat und immer noch daran glaubt, dass demokratisches Engagement die Welt, wenn auch nur im Schneckentempo, besser machen könne, empfinden sie als ästhetische und politische Zumutung. Sie wollen den Alten endlich loswerden. In den Medien verfügen sie über starke Stimmen."

Fuhr hat auch einen Geburtstagsgruß von Martin Walser notiert, der es noch nicht ganz verwunden hat, dass Grass sein Engagement für die DKP in der frühen Siebzigern nicht nachvollziehen konnte: "Mir hat die SPD den Vietnamkrieg zu sehr gebilligt. Und die Konservativen haben jeden, der gegen diesen Krieg war, als Parteigänger der Sowjetunion abgekanzelt. Grass hat das natürlich so nicht gesagt. Aber es gab schon manche böse Bemerkung über meine damalige Haltung."

Auch im Feuilleton geht's weiter mit Grass: Sein dänischer Übersetzer Per Ohrgaard bringt ihm eine Hommage dar. Außerdem: Hannes Stein verfolgte einen New Yorker Auftritt des Neocon-Papstes Norman Podhoretz, der an einer gewaltsamen Demokratisierung Arabiens festhält ("'Entweder bringen wir ihnen die Freiheit oder sie zerstören uns', zitiert Podhoretz den Orientalisten Bernard Lewis"). Roland Pawlitschko besucht die von Coop Himmelblau entworfene "Welt" für einen bayerischen Autohersteller. Manuel Brug unterhält sich mit Alexej Ratmansky, dem Leiter des zur Zeit in Berlin gastierenden Bolschoi-Balletts.

Besprochen werden die Ausstellung "Ursprünge der Seidenstraße" in Berlin, "Hoffmanns Erzählungen" in Hamburg, die "Meistersinger" unter Dirigent Fabio Luisi in Dresden und die Ausstellung "Antoni Tapies - Zeichen und Materie" im Museum Schloss Moyland.

Im Forum bringt Reimer Gronemeyer, Autor eines Buchs zum Thema eine gute Nachricht: "Der Tod ist mehr als Sterben."

Tagesspiegel, 16.10.2007

"Da ich in den letzten Jahren viel Häme und Niedertracht erfahren habe, tut mir es mir gut, wenn meine sechs Jahrzehnte währende Arbeit anerkannt wird", antwortet Günter Grass im Geburtstagsinterview mit Matthias Hoenig auf die Frage, warum er sich nun vom Bundespräsidenten ehren lässt, wo er früher noch das Bundesverdienstkreuz abgelehnt hat. Und natürlich macht Grass auch einige politische Anmerkungen: "Wir sind jahrelang in Deutschland, zum zweiten Mal, bemüht gewesen, eine Demokratie aufzubauen, mit wechselndem Erfolg, aber sie festigte sich. Zurzeit sind wir dabei, sie zu demontieren. Wir werden aus hysterischer Terroristenfurcht mehr und mehr zu einem Überwachungsstaat, betreiben das Geschäft der Terroristen, indem wir das, was die Terroristen so hassen, nämlich den demokratischen Rechtsstaat, mehr und mehr schwächen, wobei wir es hinnehmen, dass ein Innenminister von Woche zu Woche die Angst antreibt. Ich sehe, wie bestimmte politische Leistungen der Nachkriegszeit, auf die wir eigentlich stolz sein könnten, ins Bröckeln geraten. Wir machen einen Kotau vor dem Terrorismus, indem wird die Grundrechte schmälern. All das ist Abrissarbeit am Gebäude der Demokratie, das wir mit sehr viel Mühe aufgebaut haben."

TAZ, 16.10.2007

Die ganze taz steht heute - leider nur im Print - im Zeichen des Schnauzbarts: "Voll Grass, Alter" lautet die Titelschlagzeile. Außerdem hat die Fotoredaktion beinahe jedermann und jederfrau einen Bart ins Gesicht retuschiert. (Besonders nett: Auch dem Selbstporträt Paula Modersohn-Beckers im Kulturaufmacher.)

Alexander Cammann zitiert zum Auftakt seines Grass'schen Geburtstagsartikels auf den vorderen Seiten eine Würdigung aus der Feder eines Kritikers. "Der eben verstorbene Walter Kempowski musste im April 1983 bei der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung in Bad Godesberg auftreten. 'Als ich in das Versammlungslokal trat, hatte ich in der Menschenansammlung mit Hemmungen zu kämpfen', notierte er in sein Tagebuch. Doch die Fantasie half: 'Wie öfter in solchen Fällen stellte ich mir vor, ich sei Günter Grass, und da gings.'" Und Dirk Knipphals fordert auf Seite 1, nun endlich Autor und Großdebattierer zusammenzudenken.

Im Kulturteil fällt Wolfgang Ullrich auf, dass der Konsument sich nicht nur als moralisch, sondern auch als Schlingel inszenieren darf, je nach Belieben. Stefan Reinecke fasst eine Berliner Tagung über die Rolle der meist linken Protestbewegungen in der Bundesrepublik zusammen. Manilas Bürgermeister Alfredo Lim zerstört die letzten Ruheinseln der philippinischen Hauptstadt, seufzt Tilman Baumgärtel. In der zweiten taz kommentiert Michael Braun den Fall des wegen homosexueller Anzüglichkeiten suspendierten Vatikan-Geistlichen.

Besprochen werden die Ausstellung über Paula Modersohn-Beckers Zeit in Paris in der Kunsthalle Bremen und eine Schau über die Goldenen Jahre der Haute Couture von 1947 bis 1957 im Londoner Londoner Victoria & Albert Museum.

Und Tom.

NZZ, 16.10.2007

Es ist keine rein rhetorische Frage, die Mona Naggar in ihrem Artikel über den Europäischen Fatwa-Rat gleich zu Beginn stellt: "Kann ein islamischer Rechtsgelehrter, der Selbstmordattentate in Israel für erlaubt erklärt, der sich nicht klar von den Gewaltexzessen im Irak distanziert und sich nicht dazu durchringen kann, die weibliche Genitalverstümmelung zu verbieten, für Muslime in Europa eine wegweisende Rolle spielen?" Der Mann, um den es geht, ist der sunnitische Prediger Yusuf al-Qaradawi, und er ist der Vorsitzende des Fatwa-Rates, der Muslimen in Europa Rechtssicherheit in Fragen der Vereinbarkeit von Islam und säkularer Gesellschaft geben soll.

In der einzigen weiteren Nicht-Besprechung gratuliert Roman Bucheli Günter Grass recht knapp zum Achtzigsten.

Besprochen werden David Hermanns Luzerner Inszenierung von Giuseppe Verdis "Falstaff", ein Strawinsky-Ballettabend in Genf, die Ausstellung "Monet bis Picasso" in der Wiener Albertina und Bücher, darunter Daniel Kehlmanns Poetikvorlesungen "Diese sehr ernsten Scherze", Michal Witkowskis Roman "Lubiewo" und Bernice Eisensteins autobiografisches Buch "Ich war ein Kind von Holocaust-Überlebenden" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 16.10.2007

Lorenz Jäger wird abgeordnet, um im durchdringenden Schweigen des Großfeuilletons doch zumindest per Leitglosse den achtzigsten Geburtstag eines gewissen Günter Grass zu begehen, der es mit dem Handlesen, den Waagen und gelegentlich auch dem Poltern hat.

"Deutschlands Picasso ist eine Frau" - so steht es heute auf der FAZ-Titelseite über einem Selbstbildnis von Paula Modersohn-Becker. Im Feuilleton preist Julia Voss zwei Bremer Ausstellungen, die die Künstlerin im Kontext der Moderne situieren und so einen neuen Blick auf Modersohn-Becker möglich machen: "Mit der Tradition der europäischen Porträtmalerei, immer näher an das Individuum zu rücken, bricht sie und kehrt ins Altertum zurück. Ihre Bildnisse von Menschen sind keine psychologischen Bestandsaufnahmen, Körper und Gesicht erscheinen mit der grafischen Klarheit von Zeichen - und bleiben dabei so entrückt wie Hieroglyphen."

Weitere Artikel: Gina Thomas hat Robert Harris' neuen Thriller "The Ghost" (bzw. in der deutschen Übersetzung nur "Ghost") gelesen - einen kritischen Schlüsselroman über die Tony-Blair-Jahre. Rose-Maria Gropp fragt sich, wie es mit Schloss Salem weitergehen soll, das das Haus Baden wohl verkaufen muss, hat aber auch keine konkreten Antworten. Mechthild Küpper war dabei, als sich anlässlich von Grabsteinwiederherstellungen eine ganze Menge Mendelssohns in Berlin trafen. Sascha Karberg weiß zu berichten, dass Alan Colman, der einst Dolly mitklonte, nun in Sachen Stammzelltherapie zurückrudern muss. Jordan Mejias hatte das Privileg, über Governors Island geführt zu werden, eine Insel vor der Südspitze Manhattans, die lange Sperrgebiet war und zukünftig touristischer Nutzung zugeführt werden soll. Rainer Blasius gratuliert dem Historiker Rudolf Morsey zum Achtzigsten. Andreas Platthaus vermeldet die Träger des möglicherweise nicht mehr lange undotierten Sondermann-Preises für Comickunst.

Auf der DVD-Seite schreibt der Regisseur Dominik Graf über Nicolas Roegs Audiokommentar zur Neu-Edition seines Films "Don't Look Now" - zu Deutsch: "Wenn die Gondeln Trauer tragen". Außerdem werden eine Box mit Buster-Keaton-Filmen und Nicolas Roegs "Bad Timing" empfohlen.

Besprochen werden Ben Lees Album "Ripe", eine Inszenierung von Wagners "Meistersingern" an der Dresdner Semperoper, Karin Baiers Inszenierung von Hebbels "Nibelungen", mit der sie auch ihre Intendanz eröffnet und Literatur, nämlich Margit Schreiners Roman "Haus, Friedens, Bruch" (mehr in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FR, 16.10.2007

Leicht gekürzt abgedruckt wird eine zuerst in der New York Times veröffentlichte Hommage des Schriftstellers John Irving an sein großes Vorbild Günter Grass. Ein Vorbild freilich, das mit dem Bewunderer nicht immer zufrieden war, wie Irving in einer Anekdote berichtet: "Auch ich entging seiner Missbilligung nicht. In New York, wo ich Anfang der 80er Jahre lebte, arrangierte ich bei einer Dinner Party eine Zusammenkunft von Schriftstellern aus Westdeutschland und Ostdeutschland - darunter Günter... Es gab viel Wein, es wurde sehr spät. Doch als Grass aufbrach, wirkte er besorgt. Er nahm mich beiseite und sagte, er mache sich Sorgen um mich. Ich sei, sagte er, nicht mehr so zornig, wie ich früher gewesen sei, und dann sagte er Gute Nacht... Er hatte mir auf diese Weise klarmachen wollen, dass der neuere Roman ihn enttäuscht hatte. Die ostdeutschen Schriftsteller blieben und blieben, doch ich verbrachte den Rest der Nacht damit, dass ich mir vornahm, zorniger zu werden und zornig zu bleiben."

Weitere Artikel: Andrzej Wajdas Film über das Massaker an 4000 polnischen Offizieren in "Katyn" durch den sowjetischen NKWD 1940 wird in Polen von allen politischen Lagern begrüßt, wie Knut Krohn berichtet. Axel Brüggemann erfährt im Gespräch mit dem Intendanten der Berliner Staatsoper, Peter Mussbach, dass der Umbau des Hauses 2010 wohl beginnt und die Truppe dann für drei Jahre im Schillertheater residiert. Henrik Schmitz stellt diverse alternative Modelle zur Erhebung der Rundfunkgebühren vor, die auf der Konferenz der Ministerpräsidenten der Länder in Wiesbaden beraten werden. Jürgen Otten resümiert eine mit Peter Sloterdijk, Wolfgang Rihm und anderen prominent besetzte Diskussion über die "Sehnsucht nach dem Grandiosen" an der Deutschen Oper Berlin. Christian Schlüter annonciert die kanadischen Progressive-Rocker "Rush", die durch Deutschland touren. In der Times mager freut sich Peter Michalzik auf Johan Simons, der ab 2010 Intendant der Münchner Kammerspiele werden soll.

Besprechungen widmen sich einer Ausstellung mit Fotografien aus Paris von Eugene Atget im Martin-Gropius-Bau Berlin, Axel Richters "melancholisch, satte" Version von Henrik Ibsens "Peer Gynt" am Staatstheater Darmstadt, und Burkhard C. Kosminskis Aufführung von Roland Schimmelpfennigs für das German Theatre Abroad geschriebene Stück "Start Up".

SZ, 16.10.2007

Thomas Steinfeld scheint in seinem Geburtstagsartikel für Günter Grass zu bedauern, dass der Autor nicht auf der Höhe seiner früheren Bücher blieb: "Günter Grass ließ sich vom Erfolg tragen, vergaß, was er eigentlich wollte, und dann bediente er die öffentliche Figur mit allem, was ihm zur Verfügung stand. Dieser Günter Grass gleicht einem Hans im Glück, der einen Goldklumpen, den Lohn für sieben Jahre Arbeit, eintauscht für immer gewöhnlicher werdende Waren - nur, dass er dabei nicht glücklich bleibt wie die Märchenfigur, sondern sich vom energetisch leuchtenden, bartlosen jungen Mann verwandelt in eine von allen Seiten verschattete Ikone der Bedenklichkeit und des Misstrauens."

Die Schweizer Zeitschrift du ist verkauft, den Redakteuren gekündigt, und Walter Keller ist zum Alleinredakteur bestellt worden, berichtet Hans Peter Kunisch: "Aber kann denn einer allein eine Redaktion schmeißen, die bislang mit vier Leuten und mehr bestückt war? 'Es gibt eben auch andere Strukturen', sagt (Besitzer) Oliver Prange: 'Beispielsweise einen Chef mit einem Zirkusdirektor für das jeweilige Heft.' Keller bestätigt die Richtung. 'Ich möchte davon abkommen, dass 80 Prozent der Ausgaben für Redakteure ausgegeben werden. Bei mir soll das Verhältnis umgekehrt sein: 20 Prozent für die Redaktion und möglichst viel bleibt frei verfügbar.'"

Weiteres: Grün war gestern, Blau ist die neue Farbe für alle, die Umweltbewusstsein demonstrieren wollen, notiert Oliver Herwig. Christine Dössel begrüßt die Entscheidung, den niederländischen Theaterleiter und Regisseur Johan Simons 2010 als Nachfolger von Frank Baumbauer als Intendant der Münchner Kammerspiele zu installieren. Reinhhard J. Brembeck merkt nach dem Saisonauftakt am Münchner Gärtnerplatztheater mit Mozarts "Figaro", dass der neue Intendant Ulrich Peters in Richtung "Light Theater" marschieren will. Alex Rühle testet "Ludwig", das Kompositionsprogramm des "Deep- Fritz"-Erfinders Matthias Wüllenweber, und hört eher "Traumschiff" als Tschaikowsky. Claus Heinrich Meyer gönnt sich eine Zwischenzeit, um über die kulturelle Woche in Berlin zu plaudern.

Auf der Medienseite wühlt sich Viola Schenz durch die 60 Wohn- und Gartenmagazine, die der deutsche Markt zu bieten hat.

Besprochen werden eine Schau mit Druckgrafiken von Albrecht Dürer im Frankfurter Städel, Jan Bonnys Film "Gegenüber", und Bücher, darunter der Briefwechsel von Uwe Johnson und Günter Grass sowie Jeffrey S. Rosenthals Gedanken über den Zufall "Vom Blitz getroffen" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).