Heute in den Feuilletons

"Ihr sollt den dolch im lorbeerstrausse tragen"

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.11.2007. Die Zeitungen begehen heute allesamt den hundertsten Geburtstag Graf von Stauffenbergs, den, wie die SZ weiß, gerade mal die Hälfte der Deutschen überhaupt kennt. In der FAZ schreibt Stefan-George-Biograf Thomas Karlauf , in der Welt Hans Mommsen. Die FR konstatiert, dass die SPD keinen Begriff von Regierungspolitik mehr hat. Und der taz beweist Münteferings Rücktritt, dass die emotionalen Grundlagen unserer Gesellschaft stabil sind.

SZ, 15.11.2007

"Stauffenberg ist, in diesem Jahr seines 100. Geburtstages, wie nie im Blickfeld der Öffentlichkeit", schreibt der Historiker Peter Hoffmann. "Sein Name tauchte 1944 kurz auf in den Nachrichten und der Propaganda des NS-Regimes, und nach dem Zusammenbruch 1945 in den Erinnerungen Überlebender. Die Verschwörer galten vielen als Verräter, die Alliierten machten sie als opportunistische Putschisten verächtlich. In der deutschen Bevökerung wirkten diese Urteile lange nach. Noch 1970 kannten laut Umfragen nur 32 Prozent den Namen Stauffenberg, negative Beurteilungen überwogen, erst 1985 ermittelte das Allensbacher Institut für Demoskopie 'wachsende Sympathie für die Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944', nun kannten 68 Prozent der Bevölkerung den Namen Stauffenberg. 1994 wiederum fanden in der Bundesrepublik nur 47 Prozent, dass man den 20. Juli 1944 in Ehren halten solle, 44 Prozent erklärten das für nicht angebracht. 46 Prozent konnten Namen oder ein Ereignis der Erhebung nennen, 50 Prozent wussten nichts. 2004 war es kaum anders. Die Mehrheit - 54 Prozent - wusste 2004 immerhin, dass am 20. Juli 1944 ein Attentat auf Hitler stattgefunden hatte."

Weiteres: Christiane Kohl bringt uns in Sachen Dresdner Waldschlösschenbrücke auf den neusten Stand. Wolfgang Schreiber gratuliert dem Dirigenten Gabriele Ferro zum siebzigsten Geburtstag. Abgedruckt ist die Laudatio Eva Menasses auf Imre Kertesz, der am vergangenen Montag in der Augsburger Synagoge den Marion-Samuel-Preis 2007 der Augsburger "Stiftung Erinnerung" erhielt.

Besprochen werden Mike Cahills neuer Film "King of California" mit Michael Douglas ("Magischer Realismus für Hochbegabte", lästert Doris Kuhn) - es gibt auch ein Interview mit Hauptdarsteller Douglas, Robert Zemeckis Fantasy-Epos "Die Legende von Beowulf" (in dem es Hans Schifferle von Phallussymbolen in 3D wimmeln sieht, währernd Angelina Jolie "in einer geradezu vaginalen Grotte" haust), Hans Weingartners neuer Film "Free Rainer - Dein Fernseher lügt" (für Fritz Göttler "ein ganz naiver, manchmal arg gut gemeinter Botschafts-Film"), ein Konzert der Sex-Pistols in London und Bücher, darunter Frank Zöllners, Christof Thoenes' und Thomas Pöppers Michelangelo-Buch, das laut Holger Liebs nicht nur ein epochales Panorama eröffnet, sondern auch kunsthistorisch Brisantes birgt (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Welt, 15.11.2007

Zum hundertsten Geburtstag Claus Schenk Graf von Stauffenbergs schreibt der Historiker Hans Mommsen über die Beweggründe des Hitler-Attentäters: "Militärische Argumente verschränken sich bei Stauffenberg aufs engste mit humanitären Erwägungen. Seine grundsätzliche Position geht eindrucksvoll aus einer nur indirekt in einer Zusammenfassung durch Gestapobeamten überlieferten Aufzeichnung hervor, die er am Tag des Attentats bei sich trug. Darin wies er darauf hin, dass das Regime nicht das Recht habe, 'das ganze deutsche Volk mit in seinen Untergang zu ziehen' und dass die wichtigste Aufgabe der Umsturzregierung darin bestehen müsse, 'dass Deutschland im Spiel der Kräfte noch einen einsetzbaren Machtfaktor' darstelle."

Weitere Artikel: Marion Leske berichtet von neuen Querelen um das im September eröffnete Jean-Arp-Museum in Remagen. Im Kommentar hält Kai Luehrs-Kaiser die in der "Jedem Kind ein Instrument"-Initiative zum Ausdruck kommende Idee, dass Musik ein "Leistungsmerkmal" sein könne, für Blödsinn - das Musizieren sei sehr viel eher ein "Ausdruck fröhlicher Leistungsverweigerung". Bei der Frankfurter Jörg-Fauser-Woche hat sich Philipp Haibach umgetan. Thomas Lindemann erklärt, warum die norwegische Autorin Ragnhild Moe anders, als ihr deutscher Verlag Goldmann behauptet, keinen "erotischen Roman" geschrieben hat. Auf der Magazin-Seite porträtiert Dexter Filkins den in den USA lehrenden irakischen Professor Kanan Makiya, der vom Irakkriegs-Befürworter zum -Skeptiker geworden ist (der Artikel ist ursprünglich im New York Times Magazine erschienen).

Besprochen werden eine Prager Ausstellung zum Codex Gigas, dem größten Buch der Welt, die Pilotfolge der neuen SAT1-Serie "Deadline - Jede Sekunde zählt" und die Filme "American Gangster", "Die Legende von Beowulf", "Takva", "Schöner Leben" sowie "Wir sagen du! Schatz".

FR, 15.11.2007

"Wenn man Minister ist unter einer Bundeskanzlerin, dann kann man zumindest theoretisch entlassen werden, und das stärkt einen nicht unbedingt", zitiert Christian Schlüter Kurt Becks Begründung, warum er auch nach Münteferings Rücktritt kein Ministeramt in Berlin übernehmen will. Verantwortungslos ist das, findet Schlüter: "Und zwar nicht, weil er sich gegen irgendein - und dazu noch befristetes - Ministeramt entschieden hat, sondern weil er seine Entscheidung vor allem mit dem Wohlergehen seiner Partei und möglicherweise auch seiner eigenen Person begründet. Das ist ein überaus merkwürdiges, vielleicht allzu provinzielles, in jedem Fall aber kümmerliches Verständnis der Berliner Politik. Die SPD scheint über keinen Begriff von Regierungspolitik zu verfügen. Schlimmer noch: Mit Franz Münteferings Abgang ist ihr dieser Begriff vollends abhanden gekommen."

Weitere Artikel: Christoph Schröder stimmt auf eine Jörg-Fauser-Themenwoche in Frankfurt ein. Christian Thomas widmet die heutige Kolumne Times mager den verschlungenen Verwaltungswegen, auf denen die Jurisprudenz ihre Oberaufsicht im geschwungenen Dresdner Elbtal wahrnimmt. Gemeldet wird außerdem, dass der amerikanische Bestsellerautor Ira Levin, Schöpfer der Horrorgeschichte "Rosemaries Baby", 78-jährig in New York gestorben ist.

Besprochen werden Robert Zemeckis Fantasy-Epos "Die Legende von Beowulf" ("Auch hier stirbt die Hoffnung auf den ersten Metern belichteten Films", seufzt Michael Kohler enttäuscht und klagt Zemecki besonders für die "Gollumisierung der Schauspielkunst" an), Özer Kiziltans Film "Takva - Gottesfurcht" (der Heike Kühn "äußerst unbequeme Fragen zur Kompatibilität von fundamentalistischem Glauben und westlicher Ertragssteigerung" gestellt hat), und drei neue Kleist-Biografien (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

TAZ, 15.11.2007

"Immerhin haben wir jetzt neben einer Kanzlerin und diversen schwulen Bürgermeistern auch einen Ex-SPD-Vorsitzenden, Vizekanzler und Arbeitsminister, der, nachdem er sich jahrelang den Ruf der Bärbeißigkeit erarbeitet hat, freiwillig auf seine Macht verzichtet", räsoniert Dirk Knipphals auf der Tagesthemenseite über die tiefere Bedeutung von Franz Münteferings Rücktritt und sieht diesen schließlich als Indiz dafür, "dass die emotionalen und sozialen Grundlagen unserer Gesellschaft ja möglicherweise doch gelegentlich ganz gut funktionieren - sosehr Kirchenvertreter und Konservative aus der Emanzipation von rollenzentrierten Beziehungsmodellen auch Verfallsszenarien zimmern mögen."

Weiteres: Julian Weber beschreibt, wie die Independent-Szene in Großbritannien ihre Musik von den Rechten zurückerobern will. Besprochen werden Ridley Scotts neuer Film "American Gangster" mit Denzel Washington und Russel Crowe, Jay-Zs neues Album "American Gangsters", das Tobias Rapp zufolge nichts mit dem Soundtrack von Scotts Film zu tun hat und trotzdem auf ähnliche Mechanismen wie der Film verweist, Nadia Conners' und Leila Conners Petersons abendfüllender Klimaschocker "11th Hour - 5 vor 12" mit Leonardo DiCaprio (für Claudia Lenssen "kein seriöser Dokumentarfilm" zum Klimaschutz, sondern "ein visuelles und argumentatives Bombardement"), Axel Schills Dokumentation "The Man Who Shot Chinatown - Der Kameramann John A. Alonzo" und die Ausstellung "Kunstmaschinen - Maschinenkunst" in der Frankfurter Kunsthalle Schirn.

Und TOM

NZZ, 15.11.2007

Aldo Keel berichtet von der Osloer Kontroverse um den Literatur-Nobelpreisträger und Hitler-Verehrer Knut Hamsun, dem man zu dessen 150. Geburtstag einen Platz in der Hauptstadt widmen möchte. Äußerst angetan zeigt sich Roman Hollenstein von der architektonischen Gestaltung des neuen Sterbehospiz' St. Martin in Stuttgart, die dem Büro Aldinger & Aldinger zu verdanken ist. Peter Hagmann rühmt ein von Rene Jacobs dirigiertes Konzert des Freiburger Barockorchesters in Zürich.

Die Filmseite empfiehlt den in Cannes mit der Palme d'Or ausgezeichneten Film des rumänischen Regisseurs Cristian Mungiu "4 Monate, 3 Wochen, 2 Tage" über eine illegale Abtreibung zu Zeiten Ceausescus, und Ridley Scotts neues Werk "American Gangster".

Besprochen werden Milena Mosers Roman "Stutenbiss", die Satire "Das Hühnerparadies" von Dan Lungu, Jacob Neusners jüdisch-christlicher Dialog "Ein Rabbi spricht mit Jesus" und Vincenzo Todiscos Roman "Der Bandoneonspieler" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr)

Zeit, 15.11.2007

Anlässlich des Streiks von Hollywoods Drehbuchautoren gibt Eva Schweizer einen Überblick über die amerikanische Fernsehproduktion (und glaubt tatsächlich, dass sich beim Verkauf ans deutsche Fernsehen die "teure Qualitätsarbeit" durchsetzt!). Salomon Korn, Vizepräsident des Zentralrats der Juden, übt scharfe Kritik an Gedenkstättenkonzept der Bundesregierung: "Hier werden Nationalsozialismus und SED-Diktatur gleichrangig behandelt." Johannes Schweikle erklärt die heutigen Besitzverhältnisse der einstigen KdF-Anlage Prora, die der Bund in einer "großen Koalition der Geschichtsvergessenheit" zu einem Spottpreis an Privatinvestoren verhökert hat.

In der Randglosse staunt Hanno Rauterberg, wie Caspar David Friedrich mit der Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle zur Galionsfigur des Stadtmarketings wird. Tobias Timm hat sich im Berliner Grill Royal getummelt, in dem sich die arrivierte Galeristenszene der Stadt gern mit russischen Neureichen trifft. Carsten Fastner berichtet vom Festival "Wien Modern" für zeitgenössische Musik. Der Soziologe Richard Münch warnt davor, bei aller Elitenherrlichkeit die Kreativität der Forschung zu gefährden.

Besprochen werden Ridley Scotts Harlemer Drogenkönigsgeschichte "American Gangster" mit Denzel Washington, die deutsch-türkische Koproduktion "Takva", Alvis Hermanis' Stück "The Sound of Silence" beim Berliner Festival "Spielzeit Europa" sowie Enrico Paces Einspielung von Bachs Violinsonaten und originale Schönberg-Aufnahmen.

Im Aufmacher des Literaturteils liest Peter Hamm mit Hochspannung Marguerite Duras' erstmals veröffentlichte "Hefte aus Kriegszeiten". Für das Dossier begibt sich Reiner Luyken in das von "Freischärlern und Banditen" beherrschte Nablus.

FAZ, 15.11.2007

Der Stefan-George-Biograf Thomas Karlauf stellt zum hundertsten Geburtstag von dessen Jünger Claus Schenk Graf von Stauffenberg das Hitlerattentat in geistesgeschichtliche und historische Kontexte: "George selbst hatte sich schon früh als einen Täter gesehen und stets das Tatmäßige seiner Dichtung betont. Verschwörung, Umsturz, Staatsstreich gehörten zu den zentralen Vorstellungen seines Weltbildes, die 'Tat' war eine der wichtigsten Metaphern seines Dichtens. In diesem Ethos hatte George seine jungen Freunde erzogen und ihnen, die dramatischen Bilder der Sizilianischen Vesper 1282 beschwörend, als Losung mit auf den Weg gegeben: 'Ihr sollt den dolch im lorbeerstrausse tragen.' Das georgesche Ethos der Tat ging für Claus von Stauffenberg Hand in Hand mit einer durch die Familie vermittelten hohen Auffassung vom Soldatentum; immerhin hatte einer der Vorfahren, August Neidhardt von Gneisenau, maßgeblich an der preußischen Erhebung gegen Napoleon mitgewirkt."

Weitere Artikel: Im Interview besteht die Filmemacherin Esther Schapira darauf, dass von Muhabbet, mit dem unlängst Frank-Walter Steinmeier und Bernard Kouchner ein Loblied auf gelungene Integration einsangen, in Sachen Mord an Theo van Gogh ganz andere, nämlich übel hetzerische Töne zu hören waren. Lorenz Jäger lässt es in seinem Bericht über einen Frankfurter Auftritt John J. Mearsheimer und Stephen M. Walt weder an Respekt für die "Israel-Lobby"-Autoren noch an Herablassung gegenüber Antideutschen sowie Welt-Kolumnist Alan Posener - der das Buch hier besprochen hat - fehlen. In der Glosse bedauert Reiner Burger, dass aufgrund der Kompromissunfähigkeit aller Beteiligten die für den Dresdner Welterbestatus wie auch für die Kleine Hufeisennase sehr gefährliche Waldschlösschenbrücke jetzt (womöglich doch endgültig) gebaut werden darf. Matthias Hannemann informiert über einen Streit in Norwegen darüber, ob in Oslo ein Platz nach dem Literaturnobelpreisträger und Hitler-Verehrer Knut Hamsun benannt werden soll. Paul Ingendaay gibt Auskunft über spanische Hochzeitssitten. Über Londoner Konzerte von Minderjährigen für Minderjährige berichtet Christina Hoffmann.

Auf der Kino-Seite gibt es Berichte vom Cottbuser Festival des osteuropäischen Films sowie von den Nordischen Filmtagen in Lübeck. Verena Lueken erinnert anlässlich der DVD-Veröffentlichung und einer Peter-Lorre-Reihe des Frankfurter Filmmuseums an Peter Lorres einzige Regiearbeit "Der Verlorene".

Besprochen werden Hans Weingartners Film "Free Rainer - dein Fernseher lügt", das Computerspiel "Heavenly Sword", Konzerte der Gitarristen Marc Ribot und Claus Boesser-Ferrari beim Mannheimer Festival "Enjoy Jazz", die Ausstellung "Tutanchamun und das goldene Zeitalter der Pharaonen" in der Londoner O2-Arena, eine Ausstellung zum Leben des Dichters Paul Zech im "Historischen Zentrum Wuppertal" und Bücher, darunter Hartmut Langes Novellensammlung "Der Therapeut" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).