Heute in den Feuilletons

Weder dreschen noch mahlen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.12.2007. Die FAZ wird Martin Walsers kommenden Roman als Vorabdruck bringen. Der Tagesspiegel fragt: War da nicht mal was? Die Welt fragt, warum 2008 das Jahr der Kartoffel ist. Die NZZ fragt: Was wird, wenn die Sagrada Familia einstürzt? Die FAZ fragt: Kann China einen konkurrierenden Universalismus entwickeln? Die taz empfiehlt Rudresh Mahanthappa.

Tagesspiegel, 28.12.2007

Martin Walser scheint nicht nachtragend zu sein. Sein kommender Roman "Ein liebender Mann" wird im Februar 2008 in der FAZ vorabgedruckt, als wäre sein vorletzter Roman "Tod eines Kritikers" dort nicht mal als "Dokument des Hasses" geoutet worden (mehr hier). Gerrit Bartels kommentiert: "Für Walser mag der Vorabdruck tatsächlich eine Genugtuung sein. Für die FAZ hat die Versöhnung jedoch im Kampf um Auflage und Aufmerksamkeit viel größere Bedeutung. Und das auch, weil sie den anderen verbliebenen deutschen Großschriftsteller, Günter Grass, seit dessen Waffen-SS-Offenbarung geradezu verbissen bekämpft; so verbissen, dass für Grass nicht mal ein richtiger Geburtstagsartikel zum 80. drin war. Beide Großschriftsteller gegen sich zu haben, das macht sich nicht gut, das kommt bei deren weiterhin sehr großem Publikum nicht gut an." Warum aber spielt Walser da mit?

Im Kulturteil bespricht Caroline Fetcher das Buch zur Bruckner-Buruma-Debatte in Perlentaucher und signandsight.com.

NZZ, 28.12.2007

Markus Jakob sorgt sich um Barcelonas Sagrada Familia, die für eine Erweiterung der Strecke des Hochgeschwindigkeitszuges AVE möglicherweise untertunnelt wird: "Vielleicht erweisen sich ja die sieben Kilometer zwischen Sants und Sagrera als unüberwindbar. Doch was wäre, wenn der Tunnel gebaut und Gaudis Kirche wirklich einstürzen würde? Zweifellos würden sich nicht wenige im Stillen darüber freuen. Als Gaudi 1927 starb, hatte die Sagrada Familia zweierlei Feinde. Für die einen war sie eine ästhetische Zumutung, für die anderen Ausdruck der Anmaßung der verhassten Macht der Kirche. Die Gründe der heutigen Gegner sind ähnlich gelagert..."

Weiteres: Marc Zitzmann verteidigt die französische Kultur gegen Don Morrison, der in der europäischen Ausgabe des Time Magazine ihren Niedergang diagnostizierte. Gemeldet wird, dass der Komponist Hans Otte verstorben ist.

Besprochen werden die Martin-Kippenberger-Ausstellung im Kunsthaus Graz, Franziska Severins Inszenierung von Georges Bizets "Carmen" im Theater St. Gallen und ein Band über das Jazz-Label ECM, "Horizons Touched" von Steve Lake und Paul Griffith. Mit Manfred Eicher, der das Label 1969 in München gründete und dafür seinen Kontrabass in die Ecke stellte, spricht Ueli Bernays.

Auf der Medienseite gibt es eine ausführliche Besprechung von Miriam Meckels Buch über Kommunikationssucht "Das Glück der Unerreichbarkeit" (mehr dazu in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Welt, 28.12.2007

Die UNO hat das nächste Jahr zum "Jahr der Kartoffel" erklärt, und Ulli Kulke weiß warum - zum Beispiel aus historischen Gründen: "Man musste sie im Gegensatz zu Brotgetreide weder dreschen noch mahlen oder zu Teig formen, sie war einfach und schnell zuzubereiten - sie war ein regelrechtes 'fast food'. So kam sie über das Land wie eine Zauberknolle und sorgte zunächst dafür, dass die üblichen Hungersnöte ausfielen, dass der Getreidepreis fiel. Sie war ideal für die Ernährung der Stadtbevölkerung zu Zeiten der Industriellen Revolution, die ohne sie in England gar nicht denkbar gewesen wäre. Und sie war ideal für die preisgünstige Verpflegung von Soldaten."

Weitere Artikel: Stefan Pannor stellt einen neuen Comic aus der Reihe "The League of the Extraordinary Gentlemen" vor. Uwe Wittstock erklärt "Harry Potter" rückblickend zum Segen für die Buchbranche. Manuel Brug zieht eine kleine Bilanz des Kulturhauptstadtjahrs in Hermannstadt. Auf der Filmseite werden die "schönsten Filmszenen 2007" rekapituliert. Berthold Seewald empfiehlt eine "Ilias"-Übersetzung durch Raoul Schrott, die im Deutschlandradio zur Aufführung kommt.

Besprochen werden Jean Genets "Wände" in der Inszenierung Frederic Fisbachs als Gastspiel in Berlin und eine Ausstellung der Brüder Tobias im Moma. Auf der Magazinseite unterhält sich zum Abschluss des Jahrs der Geisteswissenschaften die Moderatorin Nina Ruge mit Hartmut Dorgerloh von der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten.

FR, 28.12.2007

Die New Yorker Philharmoniker unternehmen demnächst eine Konzertreise ins nordkoreanische Pjöngjang. Für Sebastian Moll ein augenfälliges Ergebnis der kulturdiplomatischen Offensive der USA in den vergangenen Jahren. "Eigentlich wollte man vor allem Pakistan und den Irak durch amerikanischen Kulturexport von HipHop bis zu Kammermusik und Ballett davon überzeugen, dass Amerikaner nicht bloß imperialistische Aggressoren sind. Die Tatsache, dass der politische Wille und das Geld für solche Projekte in Washington vorhanden sind, ermutigte jedoch auch US-Chefunterhändler Christopher Hill, mit seinem nordkoreanischen Gegenüber im vergangenen Sommer nicht nur über Atomreaktoren, sondern auch über Musik zu sprechen. Und so hatte Zarin Mehta im August eine Schreibmaschinen getippte Einladung des nordkoreanischen Kulturministers auf dem Tisch."

Weitere Artikel: Im Gespräch mit Daniel Kothenschulte über seinen neuen Film "Tödliche Versprechen" wehrt sich Regisseur David Cronenberg dagegen, zur Marke erklärt zu werden. In einer Times mager wundert sich Maximilian Kuball, dass die Macher des Tatorts "Wem Ehre gebührt" noch nichts vom Inzest-Vorurteil gegen die Aleviten gehört haben.

Besprochen werden Jacques Fromental Halevys Oper "La Juive" in der Zürcher Inszenierung von David Pountney, Nicolas Stemanns Wiener Inszenierung von Dostojewskis "Brüder Karamasow", die Ausstellung "Zhou Jun - Ein chinesischer Tuschmaler der Gegenwart" im Kölner Museum für ostasiatische Kunst sowie Walter van Rossums Polemik gegen "Die Tagesshow.

TAZ, 28.12.2007

Rudresh Mahanthappa heißt der New Yorker Saxofonist, der Christian Broecking eines der besten Jazzalben des Jahres beschert. Mahanthappas zusammen mit dem Pianisten Vijay Iyer aufgenommene "Raw Materials" sind außerdem komplett und umsonst auf savoyjazz.com anzuhören. "Mit diesen Aufnahmen wollte Mahanthappa herausfinden, was es bedeutet, indischer Amerikaner zu sein. Die rhythmischen Strukturen, die er häufig verwendet, hat er in der südindischen Musik entdeckt. In seiner Komposition 'Forgotton System' gibt es ein 30-Beat-Muster, das man sich als zwei Takte zu 15 oder drei Takte zu 10 oder sechs Takte zu 5 denken kann. Durch die Aufbrechung der Struktur wird eine verzögerte polyrhythmische Wirkung erreicht. Anders als mit afroamerikanischen oder weißen Jazzmusikern wissen die Labels bislang wenig mit südasiatisch-amerikanischen Musikern anzufangen, zumal weder Iyer noch Mahanthappa die Erwartung erfüllen wollen, dass man den Stücken indische Einflüsse anmerken können müsse."

Weitere Artikel: Jenni Zylka findet Britney Spears nun interessant, weil sie so konsequent scheitert wie niemand sonst. Arno Raffeiner macht das Internet für die Akzeptanz von New Rave verantwortlich. Cord Riechelmann meldet sich vom Urlaub in Ecuador. Im Medienteil stellt Steffen Grimberg fest, dass die deutschen Medienhäuser eher noch Familienbetriebe sind.

Und Tom.

SZ, 28.12.2007

Gottfried Knapp berichtet aus Nanking über die vom Goethe-Institut und der deutschen Wirtschaft organisierte Wanderschau, mit der sich Deutschland in den nächsten Jahren in China präsentiert. Es geht um Ökologie. Besonders gut gefallen haben Knapp die Pavillonbauten des Münchner Installationskünstlers Markus Heinsdorff. Die sind nämlich aus Bambus. "Dass die deutschen Konstruktionen aus chinesischem Bambus auf die Chinesen fast exotisch wirkten, war immer wieder zu erleben. So fragte einer der obersten Politiker von Nanjing bei der Eröffnung der Promenade, ob die Architekten den Bambus aus Deutschland importiert hätten. Auch konnte man immer wieder Passanten beobachten, die sich fachsimpelnd die Konstruktion der Pavillons erklärten und bewundernd die metallischen Verbindungsstücke streichelten."

Weitere Artikel: Vasco Boenisch porträtiert die 29-jährige Regisseurin Lisa Nielebock, die spätestens seit ihrer "Penthesilea"-Inszenierung am Bochumer Schauspielhaus als Theaterhoffnung gilt. Alex Rühle meldet, dass die die saudiarabische Initiative Hamlah as-Sakina, die auf einer Website extremistische Fatwas kritisch hinterfragt, dem Chefdenker der al-Qaida, Aiman al-Zawahiri, einen Dialog vorgeschlagen hat. Günter Kowa zweifelt, ob der Nietzsche-Geburtsort Röcken vor den Braunkohlebaggern bewahrt werden kann.

Im Medienteil hat es Nikolaus Piper schon immer gewusst: Rupert Murdoch mischt sich schon wenige Monate nach dem Kauf des Wall Street Journals in die Arbeit der Redakteure ein und wünscht kürzere und politischere Artikel.

Besprochen werden eine Schau mit Werken des amerikanischen Malers Philip Guston in der Münchener Pinakothek der Moderne, die Uraufführung von Frank Nimsgerns Musical "Der Ring" am Theater Bonn und Bücher wie Kerala J. Snyders Biografie von Dietrich Buxtehude und Paulo Cesar Fonteles' Bericht aus brasilianischer Folter "Wenn der Tod sich nähert, nur ein Atemzug" (mehr in unserer Bücherschau des Tages).

FAZ, 28.12.2007

Von Versuchen, Vorstellungen eines genuin chinesisch geprägten Globalisierungsdiskurses zu entwickeln, berichtet Mark Siemons. Sehr konkret würden diese Ideen derzeit freilich noch nicht, denn: "Es ist im kapitalistisch-kommunistisch-postkonfuzianischen China heute durchaus unklar, was 'China' überhaupt ist und bedeuten soll, und eine öffentliche Willensbildung darüber ist von zahlreichen staatlichen Restriktionen behindert. Solange sich aber bloß Elitendiskussionen damit beschäftigen, kann niemand wissen, ob die chinesische Kultur wirklich einen konkurrierenden Universalismus entwickeln wird. Der Vorschein der neuen alten Ordnung 'Unter dem Himmel', den die Pekinger Spiele mit ihrem Motto 'Eine Welt - Ein Traum' bieten werden, hat noch keine deutlichen Umrisse."

Weitere Artikel: In der Glosse schildert thom. das Leben der Kunstfigur Billy Payback in den Fängen der GEZ. Thomas Trappe berichtet aus dem rumänischen Sibiu (zu deutsch: Hermannstadt), das sich durch sein Kulturhauptstadtdasein 2007 drastisch verändert hat. Dieter Bartetzko feiert einen Frankfurter Nachkriegspavillon - weil er erstens gelungen ist und zweitens, dies sei in abrisswütigen Zeiten das eigentliche Wunder, erhalten bleiben soll. In einem welthistorischen Durchlauf von Solon bis heute sieht der Althistoriker Egon Flaig unsere Gegenwart auf eine globale Schicksalsfrage zusteuern: "Gottesstaat oder Republik?" Der Anlageberater Hendrik Leber erklärt, warum Globalisierung Chancengleichheit und zugleich Verteilungsungleichheit bedeutet und warum es sinnlos ist, sich dagegen zu wehren. Der indische Komponist A.R. Rahman ist in Bollywood vielbeschäftigt und hat auch die Musik zum Film "Elizabeth - das goldene Königreich" geschrieben - Fosia Musharraf porträtiert ihn. Joachim Müller-Jung unterhält sich mit dem Paläontologen Volker Mosbrugger über die Komplexität von Ökosystemen. Gerhard R. Koch schreibt zum Tod des Komponisten und Pianisten Hans Otte.

Besprochen werden Nicolette Krebitz' Film "Das Herz ist ein dunkler Wald", die Paul-Thek-Werkschau im Karlsruher ZKM, eine Ausstellung zu den Mosaik-Comics in Halle und Bücher, darunter Matthias Hirths Roman "Angenehm" und auf der Sachbuchseite der achte Band von Klaus Heinrichs "Dahlemer Vorlesungen" (mehr in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).