Heute in den Feuilletons

Laut vernehmlich eingeschlafen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.04.2008. In der SZ gibt Antje Vollmer die Antwort auf die Tibetfrage. In der taz kommentiert Marco Travaglio Berlusconis dritten Sieg: Er hat den Italienern mit seinem Fernsehen das Gehirn gewaschen. Der Tagesspiegel antwortet auf die Frage, ob es einen neuen Feminismus gibt mit Ja und Nein. Die Blogs streiten über ein Video von Robin Meyer-Lucht, der der Tagesschau vorwirft, in eigener Sache manipulativ berichtet zu haben. In der Welt erinnert Heinrich August Winkler an Richard Löwenthal. Die NZZ meint: Mit der Berliner Volksbühne geht's bergab. Die FAZ feiert Louise Bourgeois.

TAZ, 15.04.2008

Der Journalist und Autor Marco Travaglio spricht in einem Kurzinterview noch leicht geschockt über die "Anomalie" Berlusconi, die Unfähigkeit der Linken und den Medientrumpf des Stehauf-Premiers. "Gegen einen Gegner zu gewinnen, der zwei Drittel des öffentlichen und hundert Prozent des Privatfernsehens kontrolliert, ist fast unmöglich. Diese Wettbewerbsverzerrung macht sich ja nicht nur am Wahltag bemerkbar. Jeden Tag, jede Stunde, jede Minute dienen diese Fernsehsender dazu, die Wähler das vergessen zu lassen, was sie aus Berlusconis Sicht vergessen sollen, und ihnen bloß das zu zeigen, was er sie sehen lassen will. Dieses Experiment, das Italien seit Jahren erlebt, ist in westlichen Demokratien einzigartig." (Beppe Grillo sieht das in seinem Blog genauso.)

Im Feuilleton sieht Alexander Cammann in Jan Böttchers "Nachglühen" mehr als nur einen starken Roman. Literarisch wachse in dem in der ehemaligen DDR spielenden und von einem Wessi geschriebenen Buch endlich zusammen, was zusammen gehört. "Womöglich wird man dereinst sagen, dass die erste wirklich gesamtdeutsche Literatur ihren Ursprung hatte im Ost-Berliner Laboratorium der grauen goldenen Neunzigerjahre. Allmählich bekommt diese junge Literatur ernsthafte Konturen; 'Nachglühen' beweist es. Vielleicht sollte zunächst nun der Leipziger Clemens Meyer antworten und seinen nächsten Roman über Lüneburg schreiben."

Außerdem schreibt Antonia Herrscher aus Istanbul, wo es dynamischer zugeht, weil die Bürger nicht nach ihrer Meinung gefragt werden. Reinhard Wolff wundert sich über die schwedische Regierung, die über modrige Kommunisten aufklärt und nicht über den taufrischen Neonazismus. In der zweiten taz bemerkt Torsten Landsberg, dass die amerikanischen Rapper durch Barack Obama wieder so politisch werden wie in alten Zeiten.

Besprochen werden das Album "Edit" des Postpinkers Mark Stewart und Laurence A. Rickels Potpourri der "Vampirismus-Vorlesungen".

Und Tom.

Tagesspiegel, 15.04.2008

Kirsten Rießelmann nimmt den Erfolg von Büchern wie Charlotte Roches "Feuchtgebiete" aufs Korn und fragt, ob es tatsächlich so etwas gibt wie einen neuen Feminismus: "Ist es wirklich die Wiederauferstehung des Feminismus, betrieben von jungen Frauen um die 30, gut ausgebildet und in journalistischen Berufen erfolgreich, meist heterosexuell und in wichtigen Phasen ihres Lebens schon mal in Kontakt gekommen mit Rrriot Girlism, der Band Le Tigre, der affirmativen Neuauflage der Pornodebatte im Kunstfeld und in poststrukturalistisch angehauchten Performance- und Diskurszirkeln? Oder ist das Ganze doch nur eine künstlich Richtung Provonummer aufgeblasene Schimäre?" Die ganz klare Antwort: "Ja und nein."

Aus den Blogs, 15.04.2008

Nach der Fälschung bei Polylux: Wieder wird aus dem Internet die Qualität einer Fernsehsendung angezweifelt - diesmal gar der Tagesschau, der der Perlentaucher Robin Meyer-Lucht in einem Video auf seiner Website vorwirft, manipulativ in eigener Sache berichtet zu haben. Das Blog Medienlese erläutert: "Der ARD werden im Beitrag verschiedene Vergehen angekreidet, unter anderem fragwürdige Übersetzungen, Einseitigkeiten, Auslassungen. Dem NDR-Rundfunkrat wird angelastet, 'diese Angelegenheit augenscheinlich nicht kritisch geprüft' zu haben."

Sehr kritisch setzt sich Stefan Niggemeier mit Meyer-Luchts Video auseinander - nach Niggemeier hat die ARD bei ihrer Berichterstattung über einen Beschluss der EU-Kommission nur Agenturprosa verbraten: "Dass die Berichterstattung der ARD in eigener Sache häufig zu wünschen übrig lässt und der Beitrag auch in diesem Fall weniger angreifbar hätte formuliert sein können, ist keine Frage. Aber das Video von Robin Meyer-Lucht baut einen Popanz auf und verzerrt den Fall bis ins Lächerliche. Vor allem dient es wohl, massenhaft an Blogger verschickt, der Eigen-PR für Meyer-Luchts Firma 'Berlin Institute'." So etwas würde Niggemeier zum Beispiel nie tun!

Welt, 15.04.2008

Der Historiker Heinrich August Winkler erinnert in einem lesenswerten Porträt an den Politologen und Sozialdemokraten Richard Löwenthal, der heute hundert Jahre alt geworden wäre. Löwenthal war auch ein Kontrahent der Berliner 68er. Winkler erzählt unter anderem folgende Anekdote: "Im Jahre 1967 saß 'Rix' zusammen mit Dutschke auf dem Podium. Der Studentenführer las längere Passagen aus einer marxistischen Analyse des Faschismus vor, die ein gewisser Paul Sering 1935 in der Prager Zeitschrift für Sozialismus veröffentlicht hatte. Dutschke lobte die Thesen des Autors und enthüllte dann seine Identität: 'Paul Sering' war das Pseudonym Richard Löwenthals gewesen. Der Ex-Marxist bedankte sich höflich: 'Ich freue mich, dass ich in Rudi Dutschke einen postumen Schüler gefunden habe.'"

Weitere Artikel: Uta Baier erzählt die Geschichte des Gemäldes "Herkules und Acheloos" des Cornelis van Haarlem, das an seinen Besitzer zurückgegeben werden musste - diesmal kein von den Nazis enteigneter Jude, sondern ein enteigneter DDR-Bürger. Eckhard Fuhr glossiert die berechtigten Sorgen der Stadt Köln und des ganzen Landes NRW über ihren kulturellen Abstieg. Dankwart Guratzsch sah sich die Entwürfe des Wettbewerbs "Bauen im Bestand" zu Neubauten in NRW an. Marisa Buovolo gratuliert Claudia Cardinale zum Siebzigsten. Manuel Brug resümiert neuesten Streit um die drei Opern Berlins vor dem Kulturausschuss des Abgeordnetenhauses und prangert "Mauscheleien nach Wowereit-Art" an. Gerhard Charles Rump zeichnet den Streit um Goyas "Koloss" nach und zeigt sich empört über die im Independent vorgebrachten Thesen der Kunsthistorikerin Juliet Wilson-Barreau, die die Echtheit des Meisterwerks anzweifelt.

Besprochen wird die Dramatisierung von Clemens Meyers Roman "Als wir träumten" in Leipzig.

Im Forum porträtiert Hannes Stein die konservative Kolumnistin Ann Coulter. Und Ulli Kulke erzählt auf der Magazinseite vom Streit zwischen Fischern und Naturschützern am Bodensee um die gefräßigen Kormorane.

NZZ, 15.04.2008

Mit der Berliner Volksbühne geht es rapide bergab, meldet Dirk Pilz in einem kurzen Artikel. Silvia Riegers hilflose Inszenierung von Goethes "Faust II" - "nach zwanzig Minuten bereits war ein Angestellter der Volksbühnen-Dramaturgie laut vernehmlich eingeschlafen" - hat Castorf vermutlich nie gesehen. Gleiches gilt für die erste Inszenierung von Vanessa Jopp: "... aus bestens informierten Kreisen ist zu erfahren, dass Castorf weder mit der Regisseurin gesprochen noch die Produktion gesehen habe. Castorfs Intendantenvertrag läuft bis 2010, eine Verlängerung um weitere 3 Jahre ist in Aussicht gestellt. Es werden dann 21 Jahre Castorf-Intendanz an der Volksbühne sein. Und keiner weiß, wie schlimm es noch kommen mag."

Weiteres: Das Land Sachsen und der Verleger Lothar Schmid feilschen um den Wert von Karl Mays Nachlass, berichtet Joachim Güntner. Besprochen werden die Tourismus-Ausstellung "All-inclusive" in der Schirn Kunsthalle Frankfurt, eine Ausstellung über städtische Provisorien im CCCB in Barcelona, Webers "Freischütz" in St. Gallen und Bücher, darunter Mircea Cartarescus Geschichtenband "Warum wir die Frauen lieben", Jean Amerys "Ausgewählte Briefe 1945-1978" und Bernard Noels literarisches Porträt der Anna Magnani (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FR, 15.04.2008

Arno Widmann befragt Patrizia Nanz und Susanne Schüssler zur neuen politischen Reihe des Wagenbach Verlags. Es sind jedenfalls keine Suhrkamp-Bücher, meinen die beiden: "Ein Buch wie das von Albrecht von Lucke '68 oder neues Biedermeier' ist undenkbar bei Suhrkamp, und bei den beiden anderen Bänden - Christoph Möllers' 'Demokratie - Zumutungen und Versprechen' und Paul Ginsborgs 'Wie Demokratie leben' - halte ich das auch für ausgeschlossen. Die beiden gehören freilich zusammen. Sie ergänzen sich und sie widersprechen einander."

Weitere Artikel: Arno Lustiger schreibt zum Tod des Kämpfers im Spanischen Bürgerkrieg, Resistants und Mitglied des Lagerwiderstands in Auschwitz Emanuel Mink. Hans-Jürgen Linke kommentiert die Seifenoper in Bayreuth. Harry Nutt berichtet über die Deutsch-Israelischen Literaturtage in Berlin: "Zu entdecken war eine Schriftstellergeneration, die durch ihre Alltagserfahrungen frühzeitig politisiert worden ist." In Times Mager meldet Ina Hartwig, dass dieser Tage in Frankreich ein Essay von Jonathan Littell über Leon Degrelle erscheint, einen belgische SS-Mann und Anführer der "Legion Wollonien". Das Nachwort dazu schrieb Klaus Theweleit.

Auf der Medienseite berichtet Ralf Siepmann über die "Nationale Initiative Printmedien" von Kulturstaatsminister Neumann: "Sie rückt im Meer der diversen Projekte zur Vermittlung von Medienkompetenz die traditionelle Kulturtechnik des Lesens in das Zentrum der Aufmerksamkeit. Das elementare Credo: 'Trotz zunehmender Konkurrenz elektronischer Angebote sind Zeitungen und bestimmte Zeitschriften nach wie vor politische Leitmedien.'" (Staatliche Unterstützung für ausgewählte private Medien? Wo bleibt der Protest der FAZ?)

Besprochen werden die Jubiläumsausstellung zum 100. des Märkischen Museums in Berlin, ein Auftritt des Orchesters des Mariinsky-Theaters in Frankfurt, die deutsche Erstaufführung von Sylvano Bussottis Musiktheater "Silvano Sylvano", die neue CD von Portishead (gutes Album, aber kein Triphop, zitiert Thomas Winkler zustimmend einen Fan) und Bücher, darunter Silvia Bovenschens Buch "Über das Verschwinden" und György Dragomans Roman "Der weiße König" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 15.04.2008

Antje Vollmer erledigt in einem längeren Essay die Tibetfrage. Man hätte China helfen können, das "Gesicht" zu wahren. Aber nein. Und wer ist schuld? "Die US-Regierung, insbesondere George Bush, erkannten hingegen früh, dass die Tibetfrage eine treffsichere Mobilisierung der Weltmeinung gegen China erzeugen könnte und damit eine Wiederauflage alter antikommunistischer Strategien - die dazu noch in der Sache völlig folgenlos bleiben können. Tibet wurde so zu einer Trumpfkarte im Ärmel, die in der zukünftigen Auseinandersetzung dienlich sein konnte, die es mit einem kommenden Weltmachtkonkurrenten vermutlich geben wird."

Weitere Artikel: Joachim Kaiser höchstselbst kommentiert die neuesten Bayreuther Wirren. Stephan Speicher resümiert einen Streit in der Berliner Drei-Opern-Sache, der vor dem Kulturausschuss des Abgeordnetenhauses ausgetragen wurde. Der Schriftsteller Thomas Meinecke versucht zu erklären, "was wir hören, wenn wir Mariah Careys neues Album hören". Gottfried Knapp meldet, dass die Echtheit von Goyas "Koloss" im Prado angezweifelt wird. Tobias Kniebe gratuliert Claudia Cardinale zum Siebzigsten. Kai Wiegandt berichtet von den deutsch-israelischen Literaturtagen in Berlin.

Besprochen werden eine Dramatisierung von Clemens Meyers Roman "Als wir träumten" am Schauspiel Leipzig, die Neuausstellung des Halberstädter Domschatzes ebendort, Kammerkonzerte in München und Bücher, darunter ein monumentales Werk über Farbe in Architektur und Innenraum.

Auf der Medienseite schreibt Michael Kläsgen über den Streik bei Le Monde gegen die Streichung von 130 Stellen - darunter 90 Redakteursstellen.

Und der bayerische Medienaufseher Wolf-Dieter Ring fordert starke externe Aufsichtsgremien für die öffentlich-rechtlichen Sender. Denn "die Vergangenheit hat gezeigt, dass sich die öffentlich-rechtlichen Gremien als Bestandteil ihres Senders empfinden. Und selbst wenn man ihnen den Willen zur Kontrolle nicht abspricht, fehlt ihnen schlicht die Kompetenz. "

FAZ, 15.04.2008

Anlässlich einer großen Retrospektive im Pariser Centre Pompidou feiert Rose-Marie Gropp die bald hundertjährige Louise Bourgeois als einzigartigen und großen Künstler (sic!): "Louise Bourgeois' Kunst ist wie das Trojanische Pferd. Sie steht als ein seltsames, ziemlich verdächtiges Geschenk herum, hinterhältig, nur scheinbar ein Angebot an einvernehmliche Deutungen. Das Innere dieses Oeuvres ist so abgründig wie die Höhlen und 'Zellen', die darin zentrale Positionen einnehmen. Ein Teil des Skandalons liegt darin, dass eine Frau sich bei ihren künstlerischen Vorläufern und Zeitgenossen zwar offensichtlich bedient hat, aber dabei etwas Neues schuf."

Weitere Artikel: Gerhard Stadelmaier beklagt, dass das deutsche Theater nicht mehr mit Aischylos' "Orestie" den Rechtsstaat zu feiern versteht. Ulf G. Stuberger erklärt recht detailliert, wieviel Unaufgeklärtes es um die geheime Akte zum RAF-Terroristen Gerhard Müller gibt. In der Glosse erklärt Andreas Kilb, warum der "Zug der Erinnerung", obwohl "simpel konzipiert", mehr leistet, als es staatlich organisierte Ausstellungen könnten. Kilb porträtiert auch die Kunsthistorikerin Sally Price, von der das zukünftige Humboldt-Forum lernen kann, wie man außereuropäische Kunst ausstellt. Mit spürbar ambivalenten Gefühlen schildert Joseph Hanimann den Sensationserfolg von Dany Boons Nordfrankreich-Komödie "Bienvenue chez les Ch'tis" (Ausschnitt bei YouTube, frz.). Robert von Lucius hat den neuen Museumsanbau des Halberstädter Domschatzes besucht. Michael Althen gratuliert Claudia Cardinale zum Siebzigsten. Alexander Cammann erinnert an den Soziologen Richard Löwenthal, der heute seinen hundertsten Geburtstag gefeiert hätte.

Besprochen werden Robert Forsters "The Evangelist", sein erstes Soloalbum nach dem Tod des "Go-Betweens"-Kollegen Grant McLennan, ein Kölner Adam-Green-Konzert, Armin Petras' Uraufführung der Theater-Version von Clemens Meyers Roman "Als wir träumten", eine Pariser Aufführung, die Luigi Dallapiccolas Kurzoper "Il Prigioniero" mit Arnold Schönbergs "Ode to Napoleon Buonaparte" kombinierte, und Jörg Dörings und Erhard Schütz' Buch "Benn als Reporter" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).