Heute in den Feuilletons

England gehört jetzt mir, Baby!

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.04.2008. In der Berliner Zeitung erklärt der Countertenor Philippe Jaroussky, warum er sich beim Anblick einer Bach-Partitur völlig kastriert fühlt. In der Welt beobachtet Benjamin von Stuckrad-Barre Claus Peymann und Roger Willemsen beim radikal kleingeschriebenen Denken. Die NZZ besucht die Frauensektionen in saudiarabischen Literaturvereinen. Die FR träumt vom Skelett einer Prostituierten. In der taz findet Hanif Kureishi Deutschland nicht dunkel genug. Die SZ sieht in Charlotte Roches Roman "Feuchtgebiete" einen Protest gegen die Heidi-Klum-Welt.

Berliner Zeitung, 16.04.2008

Im Interview spricht der Countertenor Philippe Jaroussky über die Gesangskunst der Kastraten und über die sehr unterschiedlichen Freiheitsgrade, die die Barockkomponisten dem Sänger lassen: "Halten Sie mal Vivaldi und Händel, besser noch Bach nebeneinander. Wenn Sie eine Bach-Partitur sehen, fühlen Sie sich bloß vom Anblick schon völlig kastriert und denken: 'Wenn ich nur singe, was dasteht, wäre das schon gut'. In der Matthäus-Passion, die Arie 'Erbarme dich, mein Gott!' - das ist so schwer. Sie haben immer das Gefühl, dem nie völlig zu genügen. Aber bei Vivaldi gibt es diesen Druck nicht in dem Maße. Ich vergleiche Vivaldi immer mit einer Flasche Champagner und Händel mit einem guten Rotwein. Das trinkt man nicht auf gleiche Weise. Bei Vivaldi können Sie ganz exzentrisch werden. Er verlangt das sogar vom Sänger. Händel aber fordert vom Sänger, genau aufs Orchester zu hören: Was machen die Bläser, die Streicher? Wie entwickelt sich die Harmonik?"

Welt, 16.04.2008

Auf der Magazinseite berichtet mit hohem Süffisanz-Faktor Benjamin von Stuckrad-Barre von einem Leseabend im Berliner Ensemble mit Claus Peymann und Roger Willemsen - statt Charlotte Roche, die wegen "zerrütteter Darmflora" absagen musste, las dann der BE-Dramaturg Hermann Beil: "Angekündigt war 'Charlotte Roche, Claus Peymann und Roger Willemsen denken radikal und lesen Büchner, Meinhof, Bakunin, de Sade, Subcommandante Marcos, Meins, Kropotkin, Roche und andere'. Das Wort 'radikal' war hervorgehoben in der Ankündigung... RADIKAL! Kleingeschrieben: denken. Und so wurde es dann auch."

Weitere Artikel: Ulrich Baron nimmt die Nahrungsmittelkrise zum Anlass, an Hungerzeiten in Europa zu erinnern - und tröstet: "Hunger und Leid machen auch härter". Holger Kreitling porträtiert den Comic-Zeichner Art Spiegelman, der gerade in Berlin von Vortrag zu Vortrag eilt. In der Glosse kommentiert Manuel Brug knapp den Zank beziehungsweise "Eklat" zwischen Peter "Mafia!" Mussbach und seinem Chefdirigenten Daniel Barenboim. Noch lange nicht ausgestanden ist der Streit um Papst Benedikts Liturgiereform, erklärt Gernot Facius. Kirsten Liese hat das Wiesbadener "goEast"-Festival besucht. Uta Baier freut sich, dass eine Gedenktafel in Berlin jetzt an den Künstler Hans Bellmer erinnert. Kai-Hinrich Renner weiß, warum das ARD-Vorabendprogramm zum Einschaltquoten-Katastrophengebiet geworden ist. Uwe Wittstock schreibt zum Tod des Autors Horst Bingel.

Besprochen werden Montserrat Caballes 14-CD-Sammlung "The Jacket Collection" und der umstrittene Fernsehfilm "12 heißt: Ich liebe dich", der von einer Liebe zwischen Stasi-Schergen und Stasi-Opfer erzählt.

NZZ, 16.04.2008

Mona Naggar hat bei einem Besuch in Riad festgestellt, dass das saudische Regime die religiösen Fesseln ein wenig zu lockern beginnt, die es seiner Kultur angelegt hat: "Die für das kulturelle Leben und die Nachwuchsförderung wichtigen Literaturvereine durften nach jahrelangen Forderungen der Saudiaraberinnen Frauensektionen eröffnen. Umaima al-Khamis, Schriftstellerin und Mitglied im Literaturverein in Riad, beteuert, dass das Kulturministerium, welches über die Vereine wacht und sie finanziert, keinerlei Einfluss auf die inhaltliche Ausgestaltung des Programms nimmt. Die literaturinteressierte Öffentlichkeit wird eingeladen, junge Talente kennenzulernen, Vorträgen von arabischen Kritikern beizuwohnen oder in lockerer Atmosphäre über eine Neuerscheinung zu diskutieren. Eine weitere kleine Neuerung ist die Erlaubnis, Frauentheatergruppen zu gründen und Aufführungen zu organisieren - vor weiblichem Publikum, versteht sich."

Weiteres: Florian Coulmas berichtet von den Kontroversen, die der chinesische Film über japanische Yasukuni-Schrein erwartungsgemäß ausgelöst hat. Besprochen werden eine Fotoausstellung über Paris unter deutscher Besatzung in der Bibliotheque historique de la Ville de Paris, Evelyn Waughs erstes Afrika-Reisebuch "Befremdliche Völker, seltsame Sitten", Iwan Turgenjews Novellen "Faust" und Sabine Doering-Manteuffels Studie "Das Okkulte" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Aus den Blogs, 16.04.2008

Im Dummy-Blog fasst Malte Dahlgrün die Müller-Hörisch-Debatte im Perlentaucher als Boxkampf auf: "Endergebnis der Sachdiskussion: 2:2. Müller hat Hörisch an der Lateinfront locker glattgebügelt - peinlich dabei, wie Hörisch ausgerechnet die Latein-Angelegenheiten unter lautem Geschrei ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt hat. In der zentralen Rezensionssache bleibt das meiste offen. Müller hingegen: müsste wieder härter trainieren, so kann man nicht in die Spiele gehen."
Stichwörter: Latein

TAZ, 16.04.2008

Daniel Bax unterhält sich mit Hanif Kureishi, dessen neuer Roman "Das sag ich dir" nun auch bei uns erschienen ist, über Migranten, Islamisten und Pakistan. Seine Heimatstadt London hält Kureishi heute in ethnischer Hinsicht für viel durchmischter als früher - und als Deutschland. "Als ich jetzt in Deutschland unterwegs war, hatte oft nur ich eine andere Hautfarbe. Und viele deutsche Journalisten sehen mich seltsamerweise als einen Migrantenschriftsteller an. Sie fragen: Fühlen Sie sich als Immigrant, britisch? Aber ich bin von nirgendwoher eingewandert: Meine Mutter ist Engländerin, ich bin hier geboren. England gehört jetzt mir, Baby!"

Weiteres: Alexander Cammann wirft einen Blick in die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift kritische berichte, in der es um Graffiti vom alten Rom bis zu zeitgenössischen Buchstaben im öffentlichen Raum "zwischen Rebellion und marktkonformem 'urban branding'" geht. Besprochen wird der zweite Film von Valeria Bruni Tedeschi "Actrices oder der Traum aus der Nacht davor".

Auf den Tagesthemenseiten findet der Chinawissenschaftler Thomas Heberer das Chinabild der westlichen Medien hysterisch. "Schon lange gilt Tibet in Europa und Nordamerika als etwas ganz Besonderes und Mystisches. Tibet wird als ein exotisches Gebilde angesehen, das idealisiert und als 'rein' begriffen wird, als 'Mythos Tibet'. (...) Hier sei auch daran erinnert, dass Tibet vor 1950 keineswegs eine harmonische, auch nur annähernd demokratische, sondern eine stark hierarchisch organisierte Klassengesellschaft war, die selbst der Dalai Lama als 'feudal' charakterisiert hat." Auf der Meinungsseite denkt Renee Zucker über die tröstliche Wirkung guter Bücher über den Tod nach, die einem helfen, mit dem Sterben umgehen zu können.

Schließlich Tom.

FR, 16.04.2008

In einem Ozean der Erzählströme ist Arno Widmann über Salman Rushdies neuem Roman versunken: "In 'The Enchantress of Florence' atmet, zittert und bebt alles. Jeder Charakter packt einen. Kommt der Leser einmal einen Augenblick zur Ruhe, wird er im nächsten Augenblick wieder geschüttelt, beiseite gerissen und in die nächste Verwicklung gezerrt. Rushdie hat wieder ein Buch für Drogenabhängige geschrieben. Wer Wert darauf legt, den Kopf immer oben zu behalten, wer sich nicht von den ältesten Tricks ausmanövrieren lassen möchte, der wird "The Enchantress of Florence" angewidert in die Ecke werfen. Wer aber es liebt, in die Kissen seiner Couch verkrochen immer tiefer einzusinken in fremde Welten und Ansichten, wer den Schauder ersehnt, der ihn überrieselt, wenn er im Fremdesten das Vertrauteste, im Mörder wie im Ermordeten sich selbst also entdeckt, der wird das Buch nicht aus der Hand legen, bis ihn endlich der Schlaf einholt, in dem er freilich weiterträumen wird von dem Skelett, jener Prostituierten, die dem Helden Zutritt zu Akbars Palast verschafft."

Weiteres: Peter Michalzik unterhält sich mit Anna Thalbach über das Vorlesen, die Autonomie und den Witz in der Stimme. Martin Lüdke schreibt zum Tod des Schriftstellers Horst Bingel. In Times Mager widmet sich Christian Thomas der anstehenden Kappung weiterer IC-Verbindungen, etwa nach Konstanz und Greifswald. Besprochen werden Anja Hillings neues Stück "Nostalgie 2175" am Thalia Theater Hamburg, ein Konzert von Catherine Ringer vom einstigen Duo Les Rita Mitsouko.

SZ, 16.04.2008

Jörg Häntzschel kommentiert das Aus für die Guggenheim Filiale in Las Vegas: Musste so kommen, war alles viel zu ambitioniert. "Wie das in Las Vegas gehen könnte, hatte - unfehlbar in seiner Provinzialität - drei Jahre vor dem Guggenheim der Casino-König Steve Wynn·vorgemacht. Seine herrlich pompös betitelte 'Bellagio Gallery of Fine Arts' war eine Art Stripshow der Kunst. Wie Edelnutten auf Tigerfell versanken hier Impressionisten in schwarzem Plüsch. Nach den Sicherheitsmaßnahmen zu schließen fand täglich ein spektakulärer Raub statt. Und beim Rausgehen raunte einem der Wächter mit Barry-White-Stimme zu: 'Did you enjoy it?', als habe man noch die Hand an der Hose."

Der irrsinnige Erfolg von Charlotte Roches Roman "Feuchtgebiete" treibt die Feuilletons jetzt doch irgendwie um. Lothar Müller denkt an Anais Nin, Georges Bataille, de Sade und winkt ab: "Nur beiläufig, wie ein müde-gelangweilter Barpianist, klimpert Charlotte Roche, wenn ihre Heldin gegen die scheinheilige Mutter und die Kruzifixe im katholischen Krankenhaus wettert, auf der Klaviatur der Blasphemie. Und literarischen Glanz strahlt die schlichte, neckische Prosa dieses Romans schon gar nicht aus. Dafür umso mehr polemische Energie gegen die Heidi-Klum-Welt, gegen die reine, schöne Körperoberfläche. Zu allem gibt es bei Charlotte Roche das monströse Gegenstück: zu den langen Wimpern, zum Kult des Kopfhaars in der Werbefotografie, zur weiblichen Rasur der Achseln, zu den kalkulierten Effekten der Ausstellung des eigenen Körpers."

Weitere Artikel: Wolfgang Schreiber zerstreut Gerüchte, wonach Kent Nagano nicht mit dem Intendanten Nikolaus Bachler könne und deshalb aus München weg wolle. Die Schweizer Bank UBS zieht sich als Sponsor des Verbier-Festival und seines Jugendorchester zurück, berichtet Helmut Mauro; was aus beidem wird, ist ungewiss. Peter Laudenbach war dabei, als der Comic-Zeichner Art Spiegelman in Berlin über "Verbotene Bilder" sprach. Alexander Menden berichtet über die Londoner Buchmesse. Für Florian Welle traten bei einer Tagung in München deutlich die Schwächen der Ethnologie zutage: "Die Kritiker des Faches und aller 'Material Cultural Studies' hätten ihre Vorurteile bestätigt gefunden. Denn die Mehrzahl der Vorträge blieb auf der beschreibenden Ebene ihres Materials."

Besprochen werden Valeria Bruni Tedeschis Film "Actrices" (ein Wunder, findet Rainer Gansera), eine F.C. Gundlach-Retrospektive in den Hamburger Deichtorhallen, Niklaus Helblings Theaterstück "Die schwarze Kammer" im Zürcher Theater Rigiblick und Bücher, darunter Jonathan Littells bisher nur auf Französisch erschienener Essay "Le sec et l"humide".

FAZ, 16.04.2008

Im Interview auf der Medienseite gießt Bayerns Ministerpräsident Günter Beckstein Wasser auf die Mühlen der FAZ, die bekanntlich die Auftritte der Öffentlich-Rechtlichen im Internet stark eingeschränkt sehen möchte. Mit eigenen Augen hat Beckstein sich überzeugt: Es gibt doch tatsächlich jetzt schon das, was Kurt Beck als "Public Value" noch sucht, nämlich Qualität im Internet: "Ich habe mir die Internetangebote einiger Medien - deren Namen ich jetzt aus Wettbewerbsgründen nicht nenne - angeschaut und stelle fest, dass es nicht-gebührenfinanzierte Qualitätsangebote gibt. Das heißt, es gibt längst einen regen Wettbewerb und nicht ein Vakuum, das ARD und ZDF füllen müssten."

Weitere Artikel: Julia Spinola klärt auf über den neuesten Stand im Bayreuther Opernstadl und erklärt auch, warum es beim neuen Vorstoß zur Inthronisierung von Katharina Wagner und Eva Wagner-Pasquier satzungsjuristisch nicht mit rechten Dingen zugeht. Der Frage, wie denn der Riesenerfolg von Charlotte Roches Roman "Feuchtgebiete" zu erklären sein könnte, geht nach Ingeborg Harms in der Sonntags-FAZ jetzt Hubert Spiegel nach. Als "Sensation" begreift es Dirk Schümer, dass nach der italienischen Wahl Kommunisten, Grüne, Postfaschisten und damit "der Bodensatz der Ideologien des zwanzigsten Jahrhunderts und der italienischen Misere" fast völlig von der Bildfläche verschwunden sind. In der Glosse sinniert Jordan Mejias anlässlich der Nachricht, dass das von Rem Kohlhaas entworfene Casinomuseum in Las Vegas seine Pforten schließt, über den allgemeineren Zusammenhang von Kunstmuseen und Kommerz.

Paul Ingendaay kritisiert, dass Goyas Gemälde "Kolossus" nicht in eine große aktuelle Goya-Ausstellung im Madrider Prado aufgenommen wurde, obwohl die von einer Kunsthistorikerin geäußerten Zweifel an Goyas Autorschaft bisher nicht durch Belege untermauert wurden. Außerdem porträtiert Ingendaay den Torero Curro Romero, der jetzt in die Akademie der Künste von Sevilla aufgenommen wurde. Beim Blick in osteuropäische Zeitschriften stößt Joseph Croitoru auf Texte zum Philosophen Leszek Kolakowski. Andreas Platthaus schreibt zum Tod des "Trickfilmgenies" Ollie Johnston. Auf der diesmal sehr bunten DVD-Seite geht es unter anderem um Editionen von Nicolas Roegs Film "Eureka" (Dominik Graf schwärmt: "Nahezu jedes Detail ist von einer weltweit seitdem nicht mehr gesehenen Schrägheit."), von Nikita Michalkows "Urga", des Lollywood-Kuriosum "Dracula in Parkistan" und um Ridley Scotts "Final Cut" seines Klassiker "Blade Runner".

Besprochen werden die Solinger Ausstellung "Die verbrannten Dichter" mit Zeugnissen und Funden aus der Sammlung Jürgen Serkes (mehr hier), die Kumi-Machida-Ausstellung in Hannover, eine Ausstellung mit Dokumentarfotografien von Hans Günter Flieg in Chemnitz, Valeria Bruni-Tedeschis Film "Actrices" und Bücher, darunter Leda Forgos Debütroman (Leseprobe hier) "Der Körper meines Bruders" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).