Heute in den Feuilletons

In der Anlage demokratisch

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.04.2008. Die Welt investiert Energie in das Sparhaus und stellt fest: Es spart gar nicht. Die taz würdigt die Theaterkritik 2.0 in Gestalt der Nachtkritik. Die NZZ findet: Das Theater von Zittau überstrahlt die sächsische Provinz. Die SZ feiert den Bürgerjournalismus (zumindest den amerikanischen). Die Berliner Zeitung beobachtet den Propagandakrieg um Tibet im Internet. Die FAZ fragt: Warum sind die Franzosen bei Lovis Corinth so scheu?

Welt, 22.04.2008

Das Energiesparhaus ist eine fromme Lüge, meint Dankwart Guratzsch, der für den Feuilleton-Aufmacher die Erkenntnisse des Dortmunder Architekturprofessors Günther Moewes zitiert: "Gerade die Baubranche zählt weltweit zu den größten Ressourcenfressern. Ihre Produkte verschlingen nicht nur Landschaft in zerstörerischen Dimensionen, sondern verzehren allein in Gestalt der Baustoffe eine Energie in derartigen Größenordnungen, dass die Lebensgrundlagen künftiger Generationen buchstäblich aufgefressen werden - von Wohnungsausstattung und zivilisatorischem Luxus ganz zu schweigen."

Weitere Artikel: Wieland Freund meldet, dass der Sohn Dmitri Nabokovs das letzte Manuskript seines Vaters doch nicht verbrennen will. Eckhard Fuhr spießt Äußerungen der stellvertretenden Börsenvereinsvorsitzenden Viola Taube, die ausgerechnet Goethe als tote Schulbuchlektüre bezeichnete. Hanns-Georg Rodek liest eine Biografie über den Nosferatu-Darsteller Max Schreck. Besprochen werden ein neues Album der Gruppe Kettcar und ein "Fidelio" unter Claudio Abbado in Mailand.

In einem Esasy auf der Forumsseite behauptet der Soziologe Gerhardt Amendt, dass ein Unterschied zwischen Frauen und Männern besteht.

TAZ, 22.04.2008

Patricia Hecht würdigt die schöne Seite nachtkritik.de, auf der Theaterrezensionen schon am Morge nach der Aufführung zu lesen sind. "Auch in den Dramaturgien der großen Häuser wird morgens auf die Nachtkritik geschaut, was an den ansteigenden Klickzahlen zu sehen ist: die Nachtkritik als eine Art Informations- und Servicespielzeug für Theaterschaffende. 'Das Paradoxe an der Seite ist zwar, dass das Tempo die Möglichkeit zur Reflexion nicht unbedingt fördert', sagt Christof Belka von der Berliner Schaubühne. 'Aber die Nachtkritik hat sich sehr schnell sehr gut etabliert.' Nicht nur die Bandbreite der Theater, die in der Kritik vorkommen, ist größer als im Print und zeigt ein demokratisches Verständnis von Theater. Auch die Autorität der Kritiker wird zur Disposition gestellt. Zum einen werden nach Art des 'Perlentauchers' die Stimmen anderer zu denselben Vorstellungen zusammengefasst und verlinkt. Zum anderen können Leser Kritiken und Stücke kommentieren -und das ist die wohl revolutionärste Neuerung, die die Nachtkritik für den Theaterbereich mit sich bringt."

Weiteres: Wolfgang Ullrich versteht den Versandhändler Manufactum als frühen Marker für Schwarz-Grün. Im Gespräch mit Isolde Charim weist die Stadtsoziologin Saskia Sassen den weltweiten Migranten eine Pionierrolle in der Veränderung des Nationalbegriffs zu.

Der Axel-Springer Verlag und die taz werden künftig in der Rudi-Dutschke-Straße liegen. Letzere stellte vor drei Jahren einen dementsprechenden Antrag, jetzt hat das Oberverwaltungsgericht die Beschwerde von Springer abgewiesen. Hier wird gefeiert.

Besprochen werden eine Schau mit den Werken von Chris Marker im Museum für Gestaltung Zürich und Johan Simons' Inszenierung von Joseph Roths Roman "Hiob".

Außerdem Tom.

Aus den Blogs, 22.04.2008

Via Achse des Guten wurden wir noch auf einen Artikel in der Welt von Stefan Wirner aufmerksam. Wirner analysiert darin - mit Blick auf Tibet - das taktisches Verhältnis der "Linken" zu den Menschenrechten: "Die Linke hat kein grundsätzliches Problem mit der Religion - es kommt ihr schlicht darauf an, in welchen Diensten diese steht. Wenden sich religiöse Führer gegen den Westen und die Demokratie, so sind sie durchaus ein möglicher Bündnispartner. Die Tageszeitung Junge Welt, die dem radikalen Spektrum der Linkspartei nahesteht, brachte es in einem Kommentar auf den Punkt: 'Khomeini war der Inspirator einer antiimperialistischen Volkserhebung, die das Antlitz der Region entscheidend verändert hat. Der Dalai Lama ist ein schmieriger Kostgänger des Westens, der die Vergangenheit einer parasitären Mönchsdiktatur verkörpert.'"

NZZ, 22.04.2008

Dirk Pilz singt ein kleines Hohelied auf das Theater von Zittau, das mit engagierten Produktionen zum deutsch-polnischen verhältnis oder zum Rechtsextremismus die sächsische Provinz überstrahlt. "Theater entsteht hier in einem und für einen konkreten Kontext, ohne dem lähmenden Druck überregionaler Konkurrenz ausgesetzt zu sein. Die Provinz kann auch Schutzraum für eine experimentierfreudige, wirklichkeitsnahe Bühne sein - und ist zugleich der lebende Beweis dafür, dass man in Ostdeutschland keinesfalls auf die vielmals geschmähten Kulturwüsten trifft."

Freundlich nimmt Uwe Justus Wenzel die neue Suhrkamp-Reihe edition unseld auf, die sich der Verbindung von geistes- und naturwissenschaftlichen Denkkulturen verpflichtet hat: "Nicht alle der acht ersten Bände der 'edition unseld' zeugen von einem souveränen spielerischen Intellekt, nicht alle sind ausgegoren, keiner ist unentbehrlich - und doch hat ein jeder Kontakt mit dem, was an der Zeit wäre."

Besprochen werden Klassizismus-Ausstellungen in London, eine Schau zur Veroneser Druckkunst im Leipziger Museum für Druckkunst, Giacomo Meyerbeers lange nicht aufgeführte Grand Opera "L'Africaine" in Gelsenkirchen, Jan Ross' weltgeschichtlicher Parforceritt "Was bleibt von uns?" sowie zwei Monografien zur neuen Architektur in Spanien (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FR, 22.04.2008

Arno Widmann geriet zufällig in den Gesangskurs von Bariton Roman Trekel und wollte eine halbe Stunde zuhören. Nach sieben Stunden hockte er immer noch da. "'Wo sind Sie?', fragt Trekel. 'Ich zähle den Takt', antwortet ihm eine Sopranistin. Sie muss den Takt zählen, um in ihm zu bleiben. Sie kann nicht daran denken, die Phrase als eine ganze zu singen und doch nicht aus dem Takt zu geraten. Also stellt sich Trekel in voller Länge vor sie hin und atmet - während sie singt - mit ihr. Er kann sich nicht zurückhalten und singt dann doch ein paar Töne mit. Das freut die junge Frau und sie vertraut sich dem Voratmer an wie einem Tanzpartner und plötzlich hat sie es raus. Sie ist glücklich und mit ihr ist es der Saal." (Hier singt Trekel Bachs Arie "Mit Verlangen")

Weiteres: Eher kritisch betrachtet Christian Thomas das Vorhaben des Künstlers Gregor Schneider, einen Sterbenden auszustellen. In Times Mager sieht Elke Buhr wie nach Frankfurt jetzt auch der tolle Kunststandort Berlin zerbröselt wird; in Berlin scheint besonders ein Herr Neff dazu beizutragen. Roland Mischke listet die Mängel auf, die das Denkmalschutzgremium Icomos in Deutschland kritisiert hat.

Auf der Medienseite schildert Viktor Funk die Vorteile des digitalisierten Buchs - für Leser und Verlage.

Besprochen werden die Ausstellung "Visite" in der Bundeskunsthalle Bonn (da sieht man, wie fragwürdig eine staatlich gestützte Kunstsammlung ist, meint Peter Iden), zwei Beispiele für Doku-Theater am Kölner Schauspiel: Feridun Zaimoglus und Günter Senkels Stück "Schattenstimmen" in der Inszenierung von Nora Bussenius und Alvis Hermanis' Inszenierung einer "Kölner Affäre", Sebastian Baumgartens Inszenierung von "Der Meister und Margarita" am Düsseldorfer Schauspielhaus ("Der Abend hat Rhythmus und Stil", lobt Stefan Keim) und Bücher, darunter der Briefwechsel zwischen Hans Fallada und seiner Frau Anna Ditzen (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Berliner Zeitung, 22.04.2008

Einen Propagandakrieg sieht Daniel Baumann im Internet um Tibet toben, etwa auf der Seite Anti-CNN.com. Spitzenreiter bei Youtube ist angeblich das Video "Tibet war, ist und wird immer ein Teil Chinas sein" eines in Kanada lebenden Chinesen. "Das Regime in Peking profitiert von den Auswanderern als Kennern der westlichen Medien. Totalitären Regimen ist es eigen, durch Zensur eine totalitäre Weltsicht zu verbreiten. PR-Abteilungen in Demokratien sind dagegen darin geschult, ihre Weltsicht auf einem Markt der Meinungen zu verbreiten. Das Internet aber ist in der Anlage demokratisch, chinesische Auswanderer haben das verstanden. Sie wissen, dass sie um die Meinungsführerschaft konkurrieren müssen und preschen deswegen mit eigenen Pro-China-Filmen vor. Dabei zeigt sich, dass das Engagement und die Zahl der Chinesen, die sich im Netz auskennen und politisch äußern, die Kräfteverhältnisse im Meinungsstreit um Tibet zu ihren Gunsten entscheiden. Allein die Flut von Einträgen und Videos spülen Gegenstimmen an die Enden der Trefferlisten."

Tagesspiegel, 22.04.2008

Der Musikkritiker Ed Ward erinnert sich an 1968 in Amerika. War nicht alles Hippie damals. "All die Musik, von der eine grundlegende Veränderung ausgehen sollte, war im Besitz von Konzernen. Einige von ihnen, wie Elektra Records, waren nicht groß, aber groß genug. Andere wie Columbia, eine Tochter von CBS, die jene Musik verbreiteten, die 'sie' nicht verhaften konnten, waren groß genug, um die New York Yankees und eine große Anzahl Fernsehsender zu besitzen. The Beatles und Insect Trust waren bei EMI. Das Unternehmen stellte elektronische Ortungsgeräte her, die in Vietnam eingesetzt wurden. Zehn Jahre später lehrte uns Punk, wie jeder von uns ein Unternehmen werden konnte. Eigentlich ein sehr 68-mäßiger Gedanke."

Zeit, 22.04.2008

Kaum ist man Journalist bei zeit.de kann man schon auf andere Autoren im Internet herabblicken. David Hugendick schreibt in einem Artikel über Literaturkritik im Netz über Nutzerkritiken bei Amazon: "Wer erhellende, fundierte Artikel sucht, watet durch einen Brei aus Halbwissen und Geschmacksurteilen. Hier spricht der Mann von der Straße, unredigiert, aus dem Bauch."
Stichwörter: Amazon, Internet

FAZ, 22.04.2008

Die Franzosen scheuen noch vor Lovis Corinth, dessen Werke gerade in einer Ausstellung im Pariser Musee d'Orsay zu sehen ist, schreibt Werner Spies: "Nicht nur die Themen machen zu schaffen. Schwierigkeiten mit der speckigen, durch den Fleischwolf gequirlten Farbe, Abscheu vor einem Künstler, der sich wie ein Abdecker auf die Leiber wirft, kann man der Reaktion vieler Besucher entnehmen. Blut, Innereien, Bilder wie 'Im Schlachthaus', die selbstzerfleischenden Selbstbildnisse, die das Motiv 'Ecce Homo' in den Vordergrund rücken, schrecken ab. Und dabei treffen wir hier zweifellos auf die eigenständigsten Darstellungen im Werk. Man spürt in ihnen eine rabiate Absage an gefällige Augenschmatzerei. Mit seinen Schrunden und Falten bringt sich der Maler in einer Ahnenreihe unter, die von Rembrandt, Jordaens bis Beckmann, Soutine und Baselitz reicht."

Weitere Artikel: Vorabgedruckt wird Siegfried Lenz' neuestes Buch, die Novelle "Schweigeminute". Vorgestellt wird sie von Marcel Reich-Ranicki, der staunt: Es ist, eine Premiere im Lenzschen Werk, eine Liebesgeschichte. Und sonst? "Respekt, Diskretion, Dezenz, Takt: das sind die Vokabeln, die sich mir zunächst aufdrängen." Unfreundlich kommentiert Patrick Bahners Barack Obamas Aussagen zur Religion und seinem Pastor. In der Glosse geht es um Gottfried Benn und um Stiere. Günter Gillessen gibt seinem Unverständnis darüber Ausdruck, dass der zwar im Dritten Reich oppositionelle, aber auch nationalkonservative und wenig demokratiefreundliche Historiker Gerhard Ritter an der Freiburger Universität nicht mehr so gut angesehen ist. Annika Müller schildert den Fall des russischen Pianisten Grigorij Sokolow, der nicht mehr in England auftreten will, weil er keine Lust hat, ein neues biometrisches Visum zu erwerben.

Dirk Schümer hat eine Performance besucht, bei der Peter Greenaway Leonardo da Vincis "Abendmahl" cineastisch belebte. Aus der Schweiz berichtet Jürg Altwegg vom bevorstehenden Ende der häuslichen Sturmgewehre und damit auch des verteidigungspolitischen "Sonderfalls Schweiz". Auf der Forschung-und-Lehre-Seite verteidigt Mitverfasser Peter Weingart die viel - auch in der FAZ - kritisierten "Leitlinien für die wissenschaftliche Politikberatung". Auf der Medienseite informiert Matthias Rüb über einen investigativen Bericht der New York Times, der "Verbindungen zwischen dem Verteidigungsministerium, seinen Pensionären, der Rüstungslobby und den Medien" - Rüb würde allerdings gerne wissen: "Wo liegt der Skandal?"

Besprochen werden das jüngste Album des Bratschers Garth Knox, die Kölner Uraufführung von Feridun Zaimoglus und Günter Senkels Theaterstück "Schattenstimmen", Inszenierungen von Luigi Cherubinis "Medee" und Pierre Bartholomees "La Lumiere Antigone" in Brüssel, eine Kasseler Ausstellung über den "König Lustik" Jerome Bonaparte, ein Berliner Billy-Bragg-Konzert und Karen Russells Erzählungen "Schlafanstalt für Traumgestörte" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 22.04.2008

Anders als in Deutschland blüht in den USA der Bürgerjournalismus (und anders als deutsche Ansätze zu Internetjournalismus werden amerikanische Ideen von deutschen Journalisten freundlich begrüßt). Tobias Moorstedt stellt auf der Medienseite einige Portale vor, die den amerikanischen Wahlkampf mit Laienjournalisten begleiten und schon manche Themen setzten, etwa Scoop 08 und Videothevote. Am prominentesten ist mal wieder Ariana Huffington dabei mit dem Portal Off the Bus: "Das Besondere an den OTB-Artikeln ist auch, dass man nicht nur ein fertig editiertes Produkt zu sehen bekommt, sondern die Roh-Daten und Quellenverweise jederzeit einsehen kann. Diese Transparenz teilt sich der Kollektiv- Journalismus mit Wikipedia, bei dem man im Artikel-Hintergrund auch immer die Geschichte seiner Entstehung, die Änderungen und Debatten einsehen kann. Und genau wie bei Wikipedia Fehler relativ schnell entdeckt und wieder korrigiert werden, baut auch Arianna Huffington auf die Selbstheilungskräfte der Community."

Im Feuilleton fragt Gustav Seibt, was das Fach Geschichte an den Schulen heute noch leisten kann und soll, und er fordert eine Kanonbildung: "Wichtig aber ist, dass Namen wie Augustus oder Nero fallen. Warum? Weil europäische Herrscher jahrhundertelang daran gemessen wurden, ob sie ein 'Augustus', ein starker Friedensfürst, oder aber ein 'Nero', ein grausamer Tyrann, waren." Thomas Steinfeld meditiert über Amy Winhouse, Duffy und andere Neo-Retro-Soulsängerinnen als Wiedergängerinnen von Dusty Springfield. Tobias Lehmkuhl besucht die neue Dauerausstellung der Gedenkstätte Sachsenhausen. Holger Liebs resümiert Reaktionen auf Gregor Schneiders Projekt, einen Sterbenden öffentlich auszustellen. Der Rechtsprofessor Tonio Walter wendet sich gegen seinen Kollegen Michael Pawlik, der Terroristen juristisch als "Feinde" definiert sehen will (und diese Theorie unter anderem in der FAZ vertritt, was hier vornehmerweise verschwiegen wird, hier unser Resümee). Henning Klüver besucht die Mailänder Möbelmesse. Jens Bisky besucht eine Berliner Tagung über Calvin und die Reformierten.

Auf der Literaturseite erzählt Dirk Heißerer eine im Dreigroschenheft dokumentierte Episode aus dem Leben des jungen Bert Brecht. Hans-Peter Kunisch verfolgte ein von Ilija Trojanow organisiertes Treffen asiatischer Autoren in Berlin. Besprochen wird einer der ersten Bände aus der Edition Unselds, Bernard Stieglers "Logik der Sorge - Verlust der Aufklärung durch Technik und Medien".