Heute in den Feuilletons

Federleichte Kosmologie

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.01.2009. Rhythmisch organisiert, beginnen die Wörter zu sprechen: Alle Zeitungen trauern um Inger Christensen. Die FAZ liest mit Begeisterung die Garcia-Marquez-Biografie des britischen Autors Gerald Martin. Im Perlentaucher schreibt Kenan Malik: 20 Jahre danach hat die Linke die Fatwa längst verinnerlicht.

FR, 06.01.2009

Ina Hartwig schreibt in ihrem Nachruf auf die dänische Dichterin Inger Christensen: "Die vielfach ausgezeichnete Schriftstellerin hat Mathematik, Chemie und Medizin studiert, und sie erfuhr dabei offenbar starken Impuls für ihre Dichtung. Es heißt, die Transformationsgrammatik Noam Chomskys habe ihre Sprachkonzeption - einer genetisch bedingten, universellen Hervorbringung - geprägt. Die Natur jedenfalls verstand sie als poetische Kraft, gleichberechtigt neben dem 'Alphabet', das sie umformte und das man durchaus als Chiffre ihres Dichtens verstehen darf. Ihr Verhältnis zur Welt ist nicht politisch 'engagiert', nicht 'hinweisend', sondern verträumt, rätselhaft, sphärisch - und nicht zu vergessen: witzig. Inger Christensens federleichte Kosmologie wirkt so naturwissenschaftlich wie beseelt, so fiktiv wie wirklich, so somnambul wie klar: Eine phantastische, durch enorme Musikalität auffallende Sprachbegnadung trägt dieses Werk, zu dem auch zwei Romane zählen." (Hier kann man einige ihrer Gedichte lesen und hören)

Der Bundesgerichtshof hat kurz vor Weihnachten die Inhaftierung von Onesphore Rwabukombe verfügt, ehemaliger Bürgermeister im nordruandischen Muvumba und der Teilnahme an den Massakern der Hutu-Milizen an Tutsi verdächtigt. Hans Christoph Buch nimmt das zum Anlass, die Hofierung des Tutsi-Regimes durch die Bundesregierung zu kritisieren. Seiner Ansicht nach ist deren "Entwicklungsdiktatur" in Ruanda kein Erfolg, "denn vom derzeitigen Wirtschaftsboom in Ruanda profitieren nur die Tutsi-Elite und die Nomenklatura des Regimes, während die Hutu-Mehrheit in Armut vegetiert, eingeschüchtert, rechtlos und willkürlichen Repressalien ausgesetzt".

Weitere Artikel: Claudia Pinl erzählt, wie die Namen von deutschen Autobahnraststätten, in den Sechzigern auf Anweisung von CDU-Bundesverkehrsminister Hans-Christoph Seebohm umbenannt, die Erinnerung an die Kalte Heimat wach halten. In Times Mager zieht Stylvia Staude den Hut vor einer alten Dame.

Besprochen werden ein Konzert des belgischen Bl!ndman-Ensembles im Frankfurter Mousonturm und Erasmus Schöfers Roman "Die Kinder des Sisyfos" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Perlentaucher, 06.01.2009

20 Jahre Fatwa gegen Rushdie: Der britische Autor Kenan Malik setzt sich kritisch mit der westlichen Linken auseinander, die immer mehr zu einem vorauseilenden "Respekt" neigt, wie der Fall von Sherry Jones' Roman "Das Juwel von Medina" zeigt, der von Random House Amerika ohne den geringsten muslimischen Protest aus dem Programm genommen wurde: "Die nie gelernte Lektion aus der Rushdie-Affäre ist, dass sich die Linke ihre eigenen Ungeheuer geschaffen hat. Die linke Angst davor, andere zu beleidigen, hat eine Kultur der schnell Beleidigten entstehen lassen." Schlimmer noch: Was man als religiöse Aufwallung unter Multikulti-Vorbehalt stellte, war nichts als eine politische Machenschaft: "Die Fatwa war der iranische Versuch, die Initiative wieder an sich zu reißen, in einer Zeit, als der Iran nach seinem Rückzug aus dem Krieg mit dem Irak sein Gesicht verloren hatte und als politische Reformer in Teheran wieder Gewicht gewannen."

NZZ, 06.01.2009

Als "große Sprachmusik, die rational seriell und organisch zugleich erklingt" beschreibt Beatrice von Matt die Lyrik der großen Dichterin Inger Christensen, die nun doch gestorben ist, ohne den Nobelpreis zu bekommen: "Inger Christensen war versessen auf Wörter jedweder Herkunft. Sie alle hätten teil am 'Gedicht der Welt'. So hat sie es in einem Essay formuliert. Das Entscheidende dabei: Man muss den Wörtern zuhören, ihrem Rhythmus und ihrer Musik, dann erst wird ihre Bedeutung freigesetzt. Rhythmisch organisiert, beginnen die Wörter zu sprechen."

Besprochen werden die Ausstellung "Art is Arp" im Musee d'Art moderne et contemporain in Straßburg, Terry Eagletons Improvisationen "Der Sinn des Lebens", die türkische Lyrik-Anthologie "Kultgedichte", Stefan Weidners Islam-Buch "Manual für den Kampf der Kulturen" und ein Interviewband mit Dario Fo "Die Welt, wie ich sie sehe" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Tagesspiegel, 06.01.2009

Zwischen den Jahren ist auch US-Krimilegende Donald Westlake alias Richard Stark gestorben. In einem letzten Gespräch mit Dennis Scheck erklärt er den Unterschied zwischen amerikanischen und französischen Autoren: "Wenn ein amerikanischer Autor über einen Bankräuber schreibt, dann braucht der Dieb immer das erbeutete Geld, um einem kleinen Mädchen im Rollstuhl die lang ersehnte Operation bezahlen zu können. Ein französischer Autor schreibt über einen Bankräuber, weil er Banken ausraubt, Punkt. Deshalb habe ich es als Kompliment aufgefasst, dass ich wie ein Franzose schreibe."
Stichwörter: Geld, Bankraub

Welt, 06.01.2009

Zwei gestandene Professoren verabschieden die Ära Gutenberg. Wolf Lepenies hält im Aufmacher allerdings daran fest, dass das physische Buch einige echte Vorteile gegenüber gesichtslosen und austauschbaren Datenträgern bietet. Michael Stürmer gibt zu bedenken, dass das virtuelle Universum sowohl unsere Kräfte zum Guten wie zum Bösen verstärkt. Hannes Stein schlägt in der Leitglosse vor, den Verzicht auf alle Nazi-Vergleiche in die Reihe der guten Vorsätze für das Jahr 2009 aufzunehmen. Hanns-Georg Rodek porträtiert den Komponisten Max Richter, der für seine Musik in "Waltz with Bashir" den Europäischen Filmpreis bekam. Dorothe von Törne schreibt den Nachruf auf Inger Christensen.

Besprochen werden eine Ausstellung über Künstlerpaare in Köln, ein Auftritt des Mariinsky-Balletts in Baden-Baden und eine kostbare Edition von Texten der Stoa.

TAZ, 06.01.2009

Anne Peter stellt den Nachwuchsdramatiker des Jahres, den Österreicher Ewald Palmetshofer vor: "Man hat es hier nicht nur mit dem sprachlich wohl eigensinnigsten Jungdramatiker zu tun, sondern eben auch mit einem eminent politischen Kopf, der sich nicht mit der Faulheit der Welt abfindet."

Weiteres: Robert Misik erklärt, warum mit den Finanzen auch die mathematischen Berechnungsmethoden in die Krise geraten sind. Gemeldet wird der Tod der dänischen Dichterin Inger Christensen, die nun doch nicht mehr den Nobelpreis bekommen hat. Ralf Leonhard reicht den Nachruf auf Gert Jonke nach. Besprochen werden Steven Lee Beebers Buch "Die Heebie-Jeebies im CBGB", das den jüdischen Wurzeln des Punks nachgeht, sowie Neuerscheinungen zur freieren Arbeitsgestaltung.

Und noch Tom.

FAZ, 06.01.2009

Paul Ingendaay hat in englischer Sprache die große Biografie des Schriftstellers Gabriel Garcia Marquez gelesen, die die Bedeutung des Autors seiner Ansicht nach eindrucksvoll vor Augen führt: "Dass sie von Gerald Martin stammt, einem Experten für lateinamerikanische Literatur, hat nicht nur den Vorteil britischer Nüchternheit, sondern holt den schreibenden Weltstar auf den Boden der soziokulturellen Tatsachen zurück. Das macht ihn aber nicht kleiner, im Gegenteil. Martin argumentiert völlig überzeugend, dass Garcia Marquez die alles beherrschende Figur nach dem Verschwinden der großen Modernisten ist. Drohte sich die literarische Debatte der Nachkriegszeit zwischen Engagement und Elfenbeinturm zu verzetteln, rissen die Bücher des magischen Realismus entschlossen die Fenster auf und zeigten den etwas ausgemergelten Schriftstellern Europas und Nordamerikas, dass man beides haben konnte."

Harald Hartung schreibt den Nachruf auf die große dänische Lyrikerin Inge Christensen: "Eine wachsende Schar von Lesern hat 'alphabet' als Offenbarung empfunden: als ein Stück auflodernden Lebens und Explosion zugleich. Als ein Stück Natur und als ausgepichteste Kunst. Woher diese Wirkung? 'alphabet' bringt Mathematik und Linguistik, Sprache und Biologie zusammen. Zum einen die Folge des Alphabets, zum anderen die Fibonacci-Folge, nach der sich jedes folgende Glied aus der Summe der vorangehenden errechnet. Christensen verbindet beide Prinzipien ingeniös... Das Gedicht ist nicht bloß ein Baum, der Blätter treibt, es wuchert auch wie der Krebs, es explodiert wie das Weltall, ehe es wieder zu nichts wird."

Weitere Artikel: Hoch fliegen Christian Geyers Gedanken zum Thema Althaus-Skiunfall, über die "Steuerbarkeit von Gesellschaft, über die Planbarkeit von Sozialsystemen, über die Berechenbarkeit von Organisationen", nur zum Beispiel. Marcus Jauer hat das Leipziger Stasi-Akten-Archiv aufgesucht, wo er dann aber keine Spuren seiner Vergangenheit fand. Jürg Altwegg erstattet Bericht über die Antisemitismus-Shows des französischen Komikers Dieudonne, der jetzt auch noch dem "notorischen Auschwitz-Lügner" Robert Faurisson eine Medaille verlieh. In der Glosse muss Dirk Schümer konstatieren, dass in Italien im Fernsehen und beim Festival von San Remo (fast) alles beim Alten bleibt, wie seit Jahrzehnten. Axel Michaels berichtet, dass die neue maoistische Regierung Nepals gegen alle Tradition zwei nepalesische Tempelpriester eigenhändig berufen hat. Til Huber porträtiert die mit sieben Fatwas belegte Schriftstellerin Taslima Nasrin, der jetzt in Paris Obdach und Schutz gewährt wird.

Außerdem: Der neue, nicht ganz alltägliche Comic "Archetyp" von Ralf König beginnt heute mit dem einen oder anderen Strich.

Besprochen werden Nicolas Briegers Wiener Inszenierung von Thomas Bernhards "Der Schein trügt", die Ausstellung "Künstlerpaare" im Kölner Wallraf-Richartz-Museum, John Greaves' "Verlaine"-Album, und Bücher, darunter der nunmehr erschienene fünfte Band von Stephane Heuets Proust-Comic und Reiner Schürmanns Erzählung "Ursprünge" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 06.01.2009

Die Bayern dürfen nochmal ausschlafen: Dreikönigstag!