Heute in den Feuilletons

Nur noch vierzig Kilometer

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.01.2009. In der FR protestieren zwei israelische Autoren, Gideon Levy und Yossi Sarid, gegen die Besetzung des Gaza-Streifens. Die FAZ schildert die Zusammenarbeit zwischen Iran, Hamas und Hisbollah. Im Tagesspiegel spricht Christian Petzold über die Sehnsuchtsorte von Brandenburg.

FR, 05.01.2009

In einem Gastbeitrag kommentiert Haaretz-Journalist Gideon Levy die Lage in Israel: "Ganz Israel hat blutbefleckte Uniformen getragen, die uns zu jedem Verbrechen befähigen. Selbst unsere führenden Intellektuellen sprechen nicht aus, wie verwüstet wir inzwischen sind. Das Leiden im Süden macht alles koscher, als würde verglichen damit das schreckliche Leiden in Gaza verblassen. Jeder ist hungrig nach Rache und dieser Hunger wird entschuldigt mit der Notwendigkeit der Abschreckung. Dabei hat das Morden im und die Zerstörung des Libanon längst bewiesen, dass sie nicht funktioniert."

Und Yossi Sarid, einst Erziehungsminister und nun ebenfalls Haaretz-Kolumnist, kann verstehen, wenn junge Palästinenser Terroristen werden: "Junge Menschen, die keine Zukunft haben, werden ihre Zukunft leicht aufgeben. Ihre Vergangenheit als Straßenjunge, ihre Gegenwart als arbeitslose Faulenzer versperren den Zugang zur Hoffnung: Ihr Tod ist besser als ihr Leben, und ihr Tod ist auch besser als unser Leben, das ihrer Unterdrücker - so fühlen sie."

Weitere Artikel: In einem ausführlichen Gespräch unterhält sich Arno Widmann mit dem Kunsthistoriker Horst Bredekamp über die Macht der Bilder. In Times mager freut sich Ina Hartwig über eine Extra-Ausgabe des Magazine litteraire zu Roland Barthes. Martin Lüdke schreibt den Nachruf auf den österreichischen Zweifler und Romantiker Gert Jonke.

NZZ, 05.01.2009

Paul Jandl schreibt zum Tod des österreichischen Schriftstellers Gert Jonke: "Jonke lesend, konnte man spüren, wie der Verstand den Halt verlor, und doch musste man diesen Vorgang nicht als Verlust werten." Naomi Bubis sammelt Schriftstellerstimmen zu Israels Offensive gegen die Hamas im Gaza-Streifen. Sieglinde Geisel trifft Wilfried N'Sonde, der - geboren in Kongo-Brazzaville, aufgewachsen in Paris - als Sozialarbeiter in Berlin lebt und für seinen Roman "Das Herz der Leopardenkinder" mit dem Großen Preis der Frankophonie ausgezeichnet wurde. Marcus Stäbler blickt auf die fragile Situation der Rundfunkchöre in Deutschland. Und Angelika Overath schickt Reisebilder von der Nordsee.

Welt, 05.01.2009

Holger Kreitling schreibt zum Tod Johannes Mario Simmels. Hanns-Georg Rodek resümiert das (wirtschaftlich) gute Kinojahr 2008, in dem in einigen Ländern sogar der "Titanic"-Rekord gebrochen wurde. Gert G. Wagner macht sich Gedanken über Schaltjahre und -sekunden. Stefan Kirschner unterhält sich mit Thomas Ostermeier von der Berliner Schaubühne, der nicht an die Enden von Kapitalismus einerseits und Regietheater andererseits glauben will. Wieland Freund liest Jiang Rongs Roman "Der Zorn der Wölfe", den ersten globalen Bestseller aus China. Eine Seite ist Kunstrestitutionsstreitigkeiten in Österreich gewidmet: Ulrich Weinzierl schildert die Lage am Museum des Sammlers Rudolf Leopold, das nichts zurückgeben will. Weinzierl unterhält sich auch mit Erika Jakubovits von der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, die die Politik dieses Museums kritisiert. Uta Baier bespricht zudem eine Ausstellung zum Thema im Wiener Museum für Angewandte Kunst.

TAZ, 05.01.2009

Die taz im Netz denkt immer noch, es sei Silvester, darum auch heute alles unverlinkt. Schnarchnasen! Jan Feddersen schreibt zum Tod von Johannes Mario Simmel. Der ehemalige Fotograf und heutige Bürgermeister von Salemi Oliviero Toscani hat das Wort M.A.F.I.A. als geschütztes Firmenzeichen eintragen lassen, berichtet Michael Braun. Was er damit will, weiß er noch nicht.

Besprochen werden das jetzt auch offiziell erschienene Bowie-Bootleg "Santa Monica 72", Tobias Rüthers Buch über Bowie in Berlin und die Ausstellung von Anish Kapoors Skulptur "Memory" im Deutschen Guggenheim.

Und Tom.

Tagesspiegel, 05.01.2009

Im Interview mit Julian Hanich spricht Regisseur Christian Petzold über seinen neuen Film "Jerichow" und die Sehnsuchtsorte in Brandenburg: "Als wir uns bei der Vorbereitung von 'Yella' in Brandenburg und Sachsen-Anhalt aufgehalten haben, ist mir Jerichow gerade durch die biblische Assoziation im Gedächtnis geblieben. Dabei ist mir auch aufgefallen, wie viele Orte im Brandenburgischen Sehnsuchtsorte sind, Philadelphia oder Neu Boston zum Beispiel. Dort lebten Menschen, die weggehen wollten, aber von Friedrich mit Land-Zugeständnissen gehalten worden sind, weil er seine Untertanen nicht verlieren wollte. Wir haben es also mit einem Landstrich zu tun, wo die Orte nicht von Herkunft reden, sondern von der Sehnsucht irgendwo hinzugehen - und gleichzeitig von der Niederlage, geblieben zu sein. Das ist etwas, das tief in die Struktur der Geschichte von 'Jerichow' eingegangen und aus der Landschaft gewonnen ist. Ich glaube nicht, dass man im Chiemgau genauso erzählen könnte."

SZ, 05.01.2009

Gustav Seibt kommentiert die Nachricht, dass der Vatikan die italienischen Gesetze nicht mehr automatisch für sich übernehmen will: "Eine in Rechtskodifikationen uralt erfahrene Institution zeigt sich im naturrechtlichen Geist des Heiligen Thomas von Aquin vornehm unzufrieden mit dem Niveau der heutigen italienischen Gesetzgebung."

Weitere Artikel: Für die "Nachrichten aus dem Netz" sucht Niklas Hofmann nach Blogs, die über den Nahostkonflikt informieren. Willi Winkler ordnet den Skandal um den Spekulanten Bernie Madoff in die Geschichte jüdischen Gangstertums ein ("Der Finanzgauner Madoff, der seine Umwelt um Millionen und Milliarden betrogen hat, bietet einen Abglanz der heroischen Zeit, als noch nicht alle Juden gute Menschen sein mussten") Gemeldet wird, dass die Stadt Paris der Autorin Taslima Nasreen Asyl gibt. Adrienne Braun wirft einen Blick in den Lehrbetrieb der neuen Akademie Ludwigsburg. Kia Vahland erinnert aus unklarem Anlass an die die italienische Kirchenreformerin Giulia Gonzaga (1513 bis 1566). Andreas Iten schreibt über den Tod Johannes Mario Simmels aus standortpolitischer Sicht des Kantons Zug. Lothar Müller schreibt zum Tod des Tod des österreichischen Dramatikers Gert Jonke.

Auf der Medienseite spekuliert Christopher Keil über die Frage, ober Gruner und Jahr-Chef Bernd Kundrun schon in dieser Woche geht. Auf Seite 1 blättert Thomas Steinfeld in den jetzt freigegebenen Akten zur Vergabe des Nobelpreises an Boris Pasternak vor fünfzig Jahren.

Besprochen werden eine Bearbeitung von Fernando Pessoas "Buch der Unruhe" durch den niederländischen Komponisten, Filmemacher und Theaterregisseur Michel van der Aa in der Kulturhauptstadt Linz, einige neue DVDs, neue Hip-Hop-CDs aus dem Umfeld des New Yorker Wu-Tang Clan und ein - von Georg Klein mit Faszination gelesener - Band mit Briefen Stanislaw Lems.

FAZ, 05.01.2009

Joseph Croitoru referiert die Geschichte der Annäherung von Iran und Hamas und schildert die Folgen für die Gegenwart: "Das strategische Ziel dürfte inzwischen klar sein. Die israelische Bevölkerung, deren Sicherheit jahrzehntelang durch die Kontrolle über den eigenen Luftraum weitgehend gewährleistet war, soll nun offenbar, wenn immer möglich, im gesamten Staatsgebiet durch Raketenbeschuss terrorisiert werden - im Norden durch die Hisbollah und im Süden durch die Hamas und ihre Satellitenorganisationen, die mittlerweile immer größere Erfolge für sich verbuchen können, selbst unter israelischem Dauerbeschuss. Von Beersheva, wo bei dem jetzigen Schlagabtausch zum ersten Mal Raketen der Hamas eingeschlagen sind, bis zu Israels Atomanlage südöstlich von Dimona, sind es nur noch vierzig Kilometer. In Teheran, das in absehbarer Zukunft über eine eigene Atombombe verfügen dürfte, reibt man sich schon die Hände."

Weitere Artikel: Ingeborg Harms liest in deutschen Zeitschriften über Eichendorff, Kafka, die japanischen Karamasows und Paul Schrader. In der Glosse zählt Dirk Schümer auf, woran jetzt schon überall in Europa gespart wird. In einer darunter stehenden Meldung erfahren wir, dass im neuen Jahr das FAZ-Feuilleton eingedampft wird: das Fernsehprogramm hat keine eigene Seite mehr, sondern erscheint künftig auf der Medienseite, das Radioprogramm wird auf eine Kolumne in der Woche geschrumpft. Die Geisteswissenschaften werden auf zwei Seiten erweitert und erscheinen künftig in der Mittwochsbeilage. Auch die Sachbuchseite haben wir heute nicht gefunden.

Und: Die Geburtstagsartikel im Feuilleton sollen jetzt immer montags auf der letzten Seite für die ganze Woche versammelt werden ("Personalien der Woche"). Den Anfang der Party machen heute der Demograf Herwig Birg (60), der Dirigent und Intendant Stefan Soltesz (69), der Historiker Gottfried Schramm (80), der Kirchenhistoriker des Papstes Walter Brandmüller (80) und der Architekt Alexander von Branca (90). Die Nachrufe bleiben im vorderen Teil des Feuilletons. Heute: Jordan Mejias erinnert an die verstorbene Musik-Mäzenin Betty Freeman. Hannes Hintermeier schreibt den Nachruf auf Johannes Mario Simmel, Martin Lhotzky den auf den österreichischen Autor Gert Jonke.

Besprochen werden die Marbacher Ausstellung "Wandernde Schatten. W. G. Sebalds Unterwelt", das Computerspiel "Little Big Planet" und Bücher, darunter Peter Hultbergs Roman "Die Stadt und die Welt" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).