Heute in den Feuilletons

Große Gratis-Masse

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.08.2009. Die taz sammelt Reaktionen zu ihrem Boykott der Leichtathletik-WM wegen Geheimdienstüberprüfung der Journalisten. Die FR ist erschrocken, wehrt sich aber im Dienste ihrer Leser nicht. Die SZ hat sich keine Gedanken gemacht. Großen Wind macht die Ankündigung Rupert Murdochs, die Online-Ableger seiner Printmedien kostenpflichtig zu machen. Die Welt ist sehr dafür. Jeff Jarvis findet diese Strategie im Guardian dagegen selbstmörderisch. Und die SZ muss doch sehr über Philips Wouwerman staunen.

TAZ, 07.08.2009

Die taz sammelt Reaktionen auf ihren Beschluss (hier die Begründung), die Leichtathletik-WM wegen der Geheimdienstdurchschnüfflung der Journalisten zu boykottieren: "'Ich finde die Haltung der taz mutig', sagt Joachim Mölter, Sportredakteur der Süddeutschen Zeitung. Als er das Akkreditierungsformular ausfüllte, sei er vom Umfang der Überprüfungen durchaus überrascht gewesen. Seine Kollegen hätten die Erklärung jedoch alle bereits unterschrieben. 'Deshalb habe ich mir darüber auch nicht viele Gedanken gemacht.' In der Redaktion habe es auch keine Diskussion über dieses Thema gegeben."

Auf der Tagesthemenseite erzählt die georgische Schriftstellerin Naira Gelaschwili, wie sie "in einer Atmosphäre aggressiver Lügen" sowohl der Russen als auch der eigenen Regierung das Schicksal von Flüchtlingskindern zu lindern hilft. Der Krieg begann vor einem Jahr: "Ungefähr 130.000 Georgier wurden aus ihren Dörfern von ossetischen und russischen Kriminellen, Soldaten und Nichtsoldaten vertrieben. Hunderte von ihnen wurden gefoltert, ermordet, verbrannt. Etwa 150 alte georgische Dörfer waren in nur zwei Tagen verloren."

Weitere Artikel: Auf der Meinungsseite rät Rene Hamann der Piratenpartei, dass sie erstmal ihr nerdiges Image loswerden solle (die tazler haben sich ja auch irgendwann rasiert).

Besprochen werden auf der Kulturseite ein Techno-Jazz-Fusion-Projekt von Moritz von Oswald, ein A. R. Penck-Retro in Bremen, die ohne Beteiligung des Künstlers stattfindet, neue Schallplatten in der in den achtziger Jahren so benannten Rubrik "Zwischen den Rillen" und Stefan Möschs Buch über den "Parsifal" in Bayreuth und die Geschichte des wagnerianischen Antisemitismus (mehr hier und in der Bücherschau ab 14 Uhr).

Tom.

FR, 07.08.2009

Ein großes Unbehagen empfindet Harry Nutt angesichts der Akkreditierungsbedingungen für Journalisten, die von der Leichtathletik WM berichten wollen. Denn das Organisationskomitee der WM "behält sich vor, Angaben der Journalisten mit den Datensammlungen der Polizei des Bundes und der Länder sowie Informationen des Bundesnachrichtendienstes abzugleichen". Mindestens genauso unangenehm ist Nutt jedoch der Widerstand der taz, die beschlossen hat, unter diesen Bedingungen auf die Berichterstattung zu verzichten: "Es ist allerdings der Verdacht nicht von der Hand zu weisen, dass die taz die WM zum Vorwand nimmt, einmal mehr ihre Kampagnefähigkeit unter Beweis zu stellen." Die FR wählt den goldenen Mittelweg: Sie macht sich "Sorgen", wird aber "im Dienst der Leser" berichten.

Deutlich dümmer wird man in der Ausstellung über deutsche Geschichte im Deutschen Historischen Museum Berlin, schreibt Arno Widmann. "Genaueres findet sich in der ganzen Ausstellung nicht darüber, wer die Deutschen denn waren und sind. War deutsch eine Selbstbezeichnung? Ein Sammelname? Vergeblich sucht der Besucher Aufklärung über die Fragen: Was bedeutet deutsch? Was war deutsch? Wer waren, wer sind die Deutschen? Wer Deutscher war, war immer wieder eine Sache der Definition. Das steht nirgends in der Ausstellung, geschweige denn, dass die unterschiedlichen Mechanismen dieser Definitionen erklärt würden."

Weitere Artikel: In Times Mager versucht Sylvia Staude, das kleine Armgerangel zwischen Ahmadinedschad und Chamenei zu interpretieren. Elisabeth Richter resümiert das Musikfestival in Montepulciano.

Besprochen werden ein Klavierkonzert mit dem exzellenten Herbert Schuch beim Rheingau Musik Festival, die Ausstellung "Carl Gustav Carus. Natur und Ideen" in Dresden, Hilde Spiels Tagebuch "Rückkehr nach Wien" und Ljudmila Ulitzkajas Roman "Daniela Stein" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Welt, 07.08.2009

Lucas Wiegelmann greift die Meldung auf, dass Rupert Murdoch die Websites seiner Zeitungen wieder kostenpflichtig machen will und annonciert, unter Einstreuung einschlägiger Zitate von Mathias Döpfner ("Die 'Kostenlos Kultur' müsse Schritt für Schritt zurückgedrängt werden"), eine Entwicklung hin zu zahlbaren Ablegern von Printmedien - ein Beispiel ist die Financial Times: "Für die Internetseite www.ft.com gibt es ein abgestuftes Tarifsystem: Zwei Artikel im Monat kann jeder Nutzer umsonst lesen. Wer sich kostenlos registriert, kann zehn Texte im Monat abrufen. Für einen unbeschränkten Zugang zu aktuellen Artikeln muss der Leser mindestens 3,49 Euro in der Woche zahlen. Nach eigenen Angaben hat ft.com bereits 117.000 zahlende Leser."

Manuel Brug verfolgte den Bayreuther "Parsifal" ausnahmsweise mal aus der Perspektive der Bühnenarbeiter und Inspizienten und sah, was sonst niemand sieht, nämlich "dass das Adlerwappen sich mittels eines Scheibenwischermotors dreht, dass die kostbare Kaminuhr aus Trödlerblech, Tortendeckchen, Baumarkt-Engeln, einer 19,95-Euro-Mechanik und einem in einer Bayreuther Wirtschaft abfotografierten Ziffernblatt entstanden ist."

Weitere Artikel: Eckhard Fuhr fragt sich, warum Marlene Streeruwitz den Prominentauftrieb in Salzburg ausgerechnet "faschistoid" findet. Wieland Freund unterhält sich mit Neil Gaiman über die Verfilmung seines Buchs "Coraline" als 3D-Animationsfilm. Matthias Heine stellt die im Internet zirkulierende, etwas suppig klingende Hymne auf den letzten britischen Veteranen des Ersten Weltkriegs vor, die jetzt von Radiohead eingespielt wurde.


Aus den Blogs, 07.08.2009

Der Sportjournalist Jens Weinreich erklärt in seinem Blog, er habe den "unsäglichen angeblichen 'Sicherheitsüberprüfungen'" bei der Leichtathletik WM zugestimmt, weil er keine Lust auf eine weitere juristische Auseinandersetzung hatte. Er hat aber seine Einverständniserklärung und die Datenschutzinformation zum Akkreditierungsverfahren als PDF ins Netz gestellt, so dass jeder selbst lesen kann, worauf sich die Journalisten eingelassen haben.

Die Medien überlegen, ob sie ihre Online-Ableger wieder kostenpflichtig machen wollen und Google macht einen lautlosen, kaum bemerkten Zug, kommentiert Jeffrey MacIntyre in paidcontent.org - es integriert die Wikipedia als Hauptquelle in Google News: "If Google decides to go from pilot to full implementation, and Wikipedia becomes the default, algorithmic content source for related topics on Google News entries, a quiet milestone in digital publishing will have been achieved: Google will have used its collective indexing weight to help Wikipedia achieve the kind of dominance in topic search that the site already enjoys with individual searches-and Wikipedia isn't even a news organization!"

Auch Thomas Knüwer macht sich in Indiskretion Ehrensache nach dem Murdoch-Rückzug aus dem kostenlosen Netz Gedanken über Bezahlmodelle und kommt zu dem Schluss: "Sehr speziell oder große Gratis-Masse - alles was dazwischen liegt wird sich nicht rechnen. Zumindest würde ich das nach zwei Tagen kauen an diesem Thema so sehen."
Stichwörter: Google, Google News, Wikipedia, WM

Weitere Medien, 07.08.2009

Im Guardian kommentiert Jeff Jarvis den Rückzug der Murdoch-Websites aus dem kostenlosen Netz so: "If you are the FT or the Wall Street Journal, the only brands that do it successfully - and your readers can make money on your content, and pass the cost of it onto their employers I have nothing against it. But for most, pinning hopes for the survival of news on charging for it is not only futile but possibly suicidal."

NZZ, 07.08.2009

Auf der Medienseite erzählt Francis Müller die Geschichte der verdeckten Recherchen, die in den USA viel angesehener ist als hierzulande. Eingeführt hat sie die Penny Press, die ihre als Trunkenbolde und Herumtreiber beleumdeten Reporter in Leichenhallen, Bordelle und Schlachthäuser schickte. Jacob A. Riis benutzte als Erster den Blitz für seine Fotografien: "Sie zeigen in Kellern schlafende Straßenkinder, Trunkenbolde im Schnapsdelirium, chinesische Opiumraucher, Kleinganoven und schäbige Schlafstätten für Immigranten. Die Schattenseiten der Stadt wurden mit dem Blitzlicht ausgeleuchtet. Das Buch hatte eine enorme Resonanz und zwang die Politik, dem öffentlichen Raum mehr Beachtung zu schenken. Es wurden als Folge Stadtparks, Spielplätze und öffentliche Baderäume errichtet. Das Konzept der Medien als vierte Gewalt zeigte seine Wirkung. Es ist zentral im Selbstverständnis amerikanischer Journalisten."

Gabriele Detterer stellt im Feuilleton erschüttert fest, dass Mailand - trotz prestigeträchtiger Neubauten und der Triennale - den Anschluss an die Gegenwartskultur verloren hat: "Auch das diskrete Engagement für öffentliche Kunst- und Kulturinstitutionen ist in dem von Eigennutz und Jagd nach dem Mammon geprägten Mailänder Bürgertum in Vergessenheit geraten. "

Barbara Villiger Heilig greift jetzt in der NZZ doch noch einmal Daniel Kehlmanns Rede gegen das Regietheater auf und stellt klar, das "Videos und Spaghettiessen" keine Marotte deutscher Regisseure sind: "Das letzte Spaghettiessen auf einer Bühne sah ich in Alvis Hermanis' 'Nachtasyl'-Projekt ('Nach Gorki'), wo nicht Deutsch, sondern Lettisch gesprochen wurde."

Besprochen werden die Ausstellung "William Blake 1809" in der Tate Britain in London, die die Ur-Schau von vor zweihundert Jahren nachbildet, Beethovens Sinfonien mit dem Kammerorchester Basel und Giovanni Antonini und Aufnahmen der Cembalistin Wanda Landowska.

Berliner Zeitung, 07.08.2009

Quentin Tarantino zeigt sich im Interview davon überzeugt, dass künftig mehr Filme in internationaler Besetzung und in verschiedenenen Sprachen gedreht werden: "Ja, wir werden das häufiger sehen. Nicht zuletzt bei Filmen über den Zweiten Weltkrieg, wo nun einmal viele Nationalitäten involviert waren. Nachdem ich das mit 'Inglourious Basterds' so hervorragend vorgemacht habe, kann man diese Filme eigentlich gar nicht mehr anders drehen!"

"Gemein und ungerecht" findet Birgit Walter den Berliner Haushaltsplan für die Kultur: "Er gibt der einen Hälfte des künstlerischen Personals der Hauptstadt, die schon ordentlich abgesichert ist, und ignoriert die andere Hälfte, die ein Gedeihen der Hochkultur erst ermöglicht und für die sie weltberühmt ist."
Stichwörter: Tarantino, Quentin

Tagesspiegel, 07.08.2009

Über Scheinhinrichtungen, Vergewaltigungen, Folter und Mord im Iran berichtet Martin Gehlen: "Viele Eltern haben in den letzten beiden Wochen die zerschundenen Leichen ihrer Söhne und Töchter zurückbekommen. Zahlreiche Schicksale sind durch die oppositionellen Websites roozonline.com und gooya.com dokumentiert, auch wenn die Behörden die betroffenen Familien massiv einschüchtern, damit sie auf Trauerfeiern verzichten und keinerlei Auskünfte geben."

Martin Gerner berichtet über einen 19-jährigen afghanischen Schüler, der einen Film gedreht hat, "eine Liebesgeschichte, die tragisch endet und in der die Frau seiner Wünsche von Männern mit Waffengewalt von ihm getrennt wird". Jetzt hat sich sein Dorf gegen ihn gestellt: "Warum? 'Film und Schauspielkunst gelten ihnen als unrein, als etwas, das die Ehre der Familie beschmutzt.' Nur sein Vater, der den größten Teil des Geldes zugeschossen hat, stehe zu ihm."

SZ, 07.08.2009

Stephan Speicher steht in einer Kasseler Ausstellung vor den Bildern des niederländischen Malers Philips Wouwerman, eines Meisters des Goldenen Zeitalters, und traut seinen Augen nicht, weil er wieder und wieder sehen muss: "Kaum hockt sich jemand zum Defäkieren hin, ist der Maler dabei und hält die Situation fest." Vor nichts macht Wouwerman Halt: "Den Höhepunkt der Schonungslosigkeit aber stellt 'Der Kalvarienberg' dar... Im Mittelgrund stehen die drei Kreuze vor dem blitzdurchzuckten Himmel. Vorn reiten die Offiziere, die die Hinrichtung kommandiert haben, auf ihren wohlgenährten Pferden zurück, auch der Zimmermann mit Beil und Weinflasche hat sich auf den Heimweg gemacht. Seitlich an einer Böschung aber, nicht sehr auffällig platziert und doch durch einen Pfad mit dem mittleren Kreuz verbunden, dem Kreuz Jesu, hockt ein Mann mit heruntergestreifter Hose."

Auf der ganzen zweiten Feuilleton-Seite geht es ums Kinderkriegen. Barbara Sichtermann glaubt, dass die Spontaneität, der Zugewinn an Neugier, der Widerstand gegen "Effizienzdenken", die der Umgang mit Kindern bringt, nicht mehr als Wert erkannt werden - und findet, dass das zuallererst geändert werden muss, sollen die Geburtsraten wieder steigen. Der Arzt und Kinderforscher Remo Largo hält als ersten Grundsatz fest: "Das Kind gehört nur sich selbst." Die Soziologin Doris Bühler-Niederberger kommt wissenschaftlich-nüchtern mit aktuellen Studien und Zahlen. Die grüne Bundestagsabgeordnete Ekin Deligöz fordert die "einkommensorientierte Kindergrundsicherung".

Weitere Artikel: Andrian Kreye referiert, ohne schon auf die gestrige Denial-of-Service-Attacke auf Twitter & Co einzugehen, neuere Erkenntnisse zur digitalen Kriegsführung. In einer Glosse fragt sich Alex Rühle anlässlich dieses Posters, was Barack Obama, der Joker aus Batman und der Sozialismus miteinander zu tun haben. Laura Weissmüller porträtiert Bernhard Maaz, der in Dresden Direktor der Gemäldegalerie Alte Meister sowie des Kupferstichkabinetts wird. Jens Bisky hat einen Aufsatz gelesen, in dem zu erfahren ist, dass Heiner Müller, als er im Jahr 1988 Ernst Jünger besuchte, zu viel Champagner trank und beim Anblick der Käfersammlung kotzte. Tobias Kniebe schreibt zum Tod des Roman- und Drehbuchautors Budd Schulberg.

Besprochen werden Viktor Bodas "Alice" bei den Young Directors in Salzburg, Edgar Vareses Schlagzeugstück "Ionisation", ebenfalls in Salzburg aufgeführt von Martin Grubinger und seinen Perkussionisten und Bücher, darunter Tom McCarthys Romandebüt "8 1/2 Millionen" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 07.08.2009

Der Kinder- und Jugendbuchmarkt boomt, aber Statistiken belegen, dass in jedem zweiten Haushalt Kinder gar nicht lesen. Tilman Spreckelsen findet das - anlässlich einer großen wissenschaftlichen Tagung zum Thema - seltsam und meint: "Natürlich ist es keine neue Erscheinung, dass Erwachsene im Jugendbuchmarkt den Ton vorgeben. Sie sind es in der Regel, die die Bücher schreiben, verlegen und in die Buchhandlungen befördern. 95 Prozent der verkauften Bücher werden von Erwachsenen erworben. Neu ist aber, dass sie sie jetzt auch lesen. Entsteht dabei nicht zwangsläufig eine Literatur, die sich nur scheinbar an Kinder richtet, in Wahrheit aber nach den Erwachsenen schielt?"

Weitere Artikel: Wie unglaublich teuer man heutzutage im Zentrum von Moskau wohnt, ist von Kerstin Holm zu erfahren. Karen Krüger zeigt kein Verständnis für Vetreter türkischstämmiger Schülerinnen und Schüler, deren schulische Leistungen angeblich schwer leiden, weil sie in brandenburgischen Lehrplänen mit der Tatsache konfrontiert werden, dass die Türkei einen Genozid an den Armeniern begangen hat. Eduard Beaucamp warnt in seiner Kunst-Kolumne davor, die radikale Kunst der Moderne (Fluxus ist das Beispiel) durch Festschreibung in Museen zu befrieden und zu zähmen. In der Glosse berichtet Dirk Schümer aus Reichenau an der Rax, wo in diesem Jahr Milva als Dürrenmatts alte Dame zu Besuch war. Michael Althen schreibt zum Tod des Roman- und Hollywood-Drehbuchautors Budd Schulberg ("Die Faust im Nacken").

Besprochen werden Lisztiana in Salzburg, die buchbegleitende Ausstellung "Superpeter - Struwwelpeter Superheld" im Frankfurter Caricatura-Museum, Jose Padilhas Favela-Film "Tropa de Elite" und Bücher, darunter Thomas Rosenbooms Roman "Der Nachfolger" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).