Heute in den Feuilletons

Brummender Belgier mit Beuyshut

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.09.2010. In der taz plädiert der Politologe Armin Pfahl-Traughber gegen den Begriff der Islamophobie. Die SZ porträtiert den von Thilo Sarrazin wieder ins Gespräch gebrachten Eugeniker Francis Galton, der eine Herrenrasse aus Übermenschen züchten wollte. Inszenierung des Wochenendes: Der "Hamlet" in der Regie Luk Percevals am Hamburger Thalia Theater.

TAZ, 20.09.2010

Der Politikwissenschaftler Armin Pfahl-Traughber erklärt auf der Meinungsseite, dass es einen gravierenden Unterschied gibt zwischen der Kritik an einer Religion und der Diskriminierung von Menschen und die Rede von der Islamophobie deswegen irregeht: "Glaubt man den Publizistinnen Caroline Fourest und Fiammetta Venner, dann kam das Wort erstmals im Iran nach der Islamischen Revolution von 1979 auf: Den Mullahs diente er als politischer Kampfbegriff, um ihre Gegner zu diffamieren. Bis in die Gegenwart wird der Begriff in diesem Sinne durch islamische und islamistische Organisationen wie die Islamic Human Rights Commission in Großbritannien instrumentalisiert, die fast jede kritische Stimme mit diesem Schlagwort belegt. Zum anderen steht 'Phobie' von der Wortbedeutung her für ein besonders ausgeprägtes Gefühl der Angst, das über ein vertretbares Maß hinausweist. Es soll hier aber nicht um individuelle Emotionen, sondern um reale Diskriminierung gehen und um eine Feindseligkeit, die sich gegen Muslime als Muslime richtet."

Im Kulturteil referiert Rudolf Walther einen Frankfurter Vortrag des polnischen Historikers Tomasz Szarota. Besprochen werden Hayao Miyazakis Anime "Ponyo" und Ernst Jüngers erstmals veröffentlichtes Kriegstagebuch.

Und Tom.

Aus den Blogs, 20.09.2010

(Via Rivva). Und hier die Technoblogs. Techcrunch: "Facebook Is Secretly Building A Phone." Mashable: "Facebook: We Are Not Building a Phone." Techcrunch: "Facebook Is Not Working On A Phone Just Like Google Was Not Working On A Phone."
Stichwörter: Google

FR, 20.09.2010

Peter Michalzik hat sich in Hamburg mit großer Begeisterung Luk Percevals doppelten Hamlet im Thalia angesehen: "Luk Perceval, der brummende Belgier mit Beuyshut oder Häkelkappe, ist am besten, wenn er das Theater von ganz weit unten hervorzuholen scheint, aus den Tiefen des Grunds sozusagen, wenn er es hervorwürgt aus der Ursuppe des Menschseins."

Weitere Artikel: Harry Nutt war auf der Berliner Tagung zu Flucht und Vertreibung (hier Götz Alys Eröffnungsvortrag). Kordula Dörfler berichtet, dass heute die Vatikanische Bibliothek nach drei Jahren Renovierungszeit wieder öffnet. Hans-Jürgen Linke verfolgte ein Beat-Furrer-Symposium an Frankfurts Alter Oper. In Times mager staunt Christian Schlüter, zu welchen Winkelzügen die Philosophen imstande sind, die im Auftrag der Unesco die internationale Tagung in Teheran veranstalten wollten.

Auf der Medienseite meldet Joachim Frank, dass der Rheinische Merkur vor dem Aus steht, die ihn tragenden Bistümer wollen die Zeitung nicht weiterfinanzieren.

Besprochen werden eine Theaterfassung von der "Sehnsucht der Veronika Voss" in Frankfurt und Ernst Jüngers Kriegstagebücher (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

NZZ, 20.09.2010

Urs Hafner berichtet, dass eine 2006 von der Credit Suisse eingerichtete Stiftung unter der Leitung des Wirtschaftshistorikers Joseph Jung an den Zürcher Großbürger und Politiker Alfred Escher erinnern will; unter anderem mit der Veröffentlichtung der Briefe Eschers, die nächstes Jahr auch online gelesen werden können. Der Schriftsteller Klaus Merz sinniert in einer jüngst von ihm gehaltenen Predigt über die moderne Bedeutung des Eidgenössischen Buß- und Bettags.

Besprochen werden Alban Bergs Oper "Wozzeck" am Theater St. Gallen, die Oper Georges Bizets, "Les Pecheurs de perles", im Opernhaus Zürich und das Stück "Tod eines Handlungsreisenden" von Arthur Miller in der Zürcher Schiffbauhalle.

Welt, 20.09.2010

"Retro funktioniert nicht!", ruft der Architekt des Stuttgarter Hauptbahnhofs Christoph Ingenhoven seinen Kritikern zu. Hans-Martin Schönherr-Mann schreibt zum 150. Todestag von Arthur Schopenhauer. Marco Stahlhut stellt den chinesischen Schriftsteller Liao Yiwu vor, der endlich reisen durfte. Der Dirigent Rene Jacobs spricht im Interview über seinen jetzt abgeschlossenen, auf CD veröffentlichten Mozart-Zyklus.

Besprochen werden Roger Waters Auftaktkonzert zu seiner Welttournee in Toronto, Luc Percevals "Hamlet"-Inszenierung in Hamburg, Calixto Bieitos Inszenierung der Oper "Aida" und eine Ausstellung mit Zeichnungen Else Lasker-Schülers im Jüdischen Museum in Frankfurt am Main.

SZ, 20.09.2010

Roland Meyer porträtiert den von Thilo Sarrazin wieder ins Gespräch gebrachten Vater der Eugenik, Francis Galton, der 1822 geboren wurde und übrigens ein Vetter Darwins war: "Quintessenz seiner Idee ist .. die Vorstellung, dass das, was heute noch Ausnahme ist, morgen die Regel werden soll. Den dicken Bauch der Gaußkurve empfindet er als Herausforderung: Statt der schnöden und normalen Normalverteilung der Talente und Fähigkeiten möchte er eine Herrenrasse aus Übermenschen und Genies züchten."

Weitere Artikel: Eva Weber-Guskar resümiert eine Tagung über "Leben 3.0" (also die kommenden Möglichkeiten der Biotechnologie zur "Verbesserung" des Menschen", mehr hier) in Berlin. Henning Klüver kann auch mal Positives über das traurige Land Italien berichten - nirgends gibt es so viele Kulturfestivals wie in diesem Land, und die meisten haben großen Erfolg beim Publikum. In den "Nachrichten aus dem Netz" stellt Michael Moorstedt das Buch "I live in the Future and here is how it works" (Auszug) des New York Times-Bloggers Nick Bilton vor. Willi Winkler berichtet über Dokumente, die belegen, dass Ernest Withers, dessen Fotos Martin Luther King auf der ganzen Welt bekannt machten, offenbar FBI-Agent war. Und Hans-Peter Kunisch besucht den Autor Gerhard Schoenberner, der vor fünfzig Jahre mit seiner Foto-Dokumentation "Der gelbe Stern" als einer der ersten den Holocaust ins Bewusstsein der Nachkriegsgesellschaft rückte.

Besprochen werden Luk Percevals "Hamlet"-Inszenierung am Hamburger Thalia Theater (Till Briegleb ist begeistert, auch über die von Feridun Zaimoglu mitverantwortete Neuübersetzung), Neil LaButes neues Stück "Lieber schön" in der Regie Alexandra Liedtkes in Wien, die Ausstellung "Viaggio in Italia - Künstler auf Reisen 1770-1780" in Karlsruhe, neue DVDs, zwei Ausstellungen des Fotografen Tobias Zielony in Dortmund, das Eröffnungskonzert der Münchner Philharmoniker unter Zubin Mehta und Bücher, darunter Herman Kochs Thriller "Angerichtet".

FAZ, 20.09.2010

Patrick Bahners besucht die Eröffnung der Staufer-Ausstellung in Mannheim, die er dabei mit großer Geste zur nationalpolitischen Angelegenheit hochstemmt, um dem baden-württembergischen Ministerpräsidenten Stefan Mappus dann seine Abwesenheit als Kulturversagen unter die Nase reiben zu können: "Auch so kann man die Klärung der Frage befördern, wie viel Konservatives im Gedankenhaushalt regierender Christdemokraten noch zu finden ist."

Weitere Artikel: Der Schriftsteller Rolf Dobelli weiß aus Studien, dass fast alle sich ständig überschätzen und mehr zu wissen glauben, als sie tatsächlich wissen. Bedenklicher noch: "Experten leiden noch stärker am Selbstüberschätzungseffekt als Nichtexperten." Christina Rietz erlebt auf dem Hamburger Harbour Front Festival Ildiko von Kürthy und Raoul Schrott ("Dann nuschelt er in beeindruckendem Altägyptisch dreieinhalbtausend Jahre alte Liebesgedichte"). Kerstin Holm besucht die erste Ural-Industrie-Biennale in Jekaterinburg. In der Glosse berichtet Jordan Mejias, dass die US-Talkshowkönigin Oprah Winfrey und Starautor Jonathan Franzen das Kriegsbeil begraben haben: Sie preist seinen neuen Roman als "Meisterwerk" und er kommt demnächst in ihre Sendung. Elke Heidenreich ist weiter mit Wagner in China und erlebte nun die "Rheingold"- und "Walküren"-Premiere, wobei ihr bei ersterer der häufige Toilettengang der Besucher doch sauer aufstieß: "Man sollte in Schanghai Seminare für Beckenbodentraining anbieten." Swantje Karich schreibt den Nachruf auf den sozialistisch-realistischen Künstler Walter Womacka.

Besprochen werden die entschieden postume Uraufführung von Luigi Cherubinis Oper "Koukourgi" in Klagenfurt, Bettina Bruiniers Inszenierung von "Die Sehnsucht der Veronika Voss" in den Frankfurter Kammerspielen und Bücher, darunter eine Ausgabe des Briefwechsels zwischen Eric Voegelin und Leo Strauss (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).