Heute in den Feuilletons

Schnell empört, schnell resigniert

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.01.2011. Nach dem Anschlag gegen die Kopten in Alexandria erinnert Hamed Abdel-Samad in der Welt an die Verantwortung des Westens für die Zustände in Ägypten. Die FR bringt eine wissenschaftlich belegte Widerlegung Thilo Sarrazins. In der NZZ schildert Adam Krzeminski die Angst der polnischen Katholiken vor dem spanischen Gespenst. Im Freitag riskiert Hans Ulrich Gumbrecht einen Schlag gegen den intellektuellen Mainstream. Die FAZ rät der Berlinale, am 11. Februar für zwei Stunden die Arbeit niederzulegen.

Welt, 06.01.2011

Hamed Abdel-Samad erinnert nach dem Anschlag gegen die Kopten in Alexandria an die Mitverantwortung des Westens für die Zustände in Ägypten: "Der Westen war immer ungeduldig. Man schloss aus kurzfristigen strategischen Erwägungen Allianzen mit Diktaturen: mit Mubarak, den Saudis, mit Pakistan - natürlich immer unter Beschwörung des Kampfes gegen den Terror. Jetzt aber sieht man, dass diese Allianzen langfristig mehr schaden als nützen. Denn die Stabilität in den drei genannten Staaten lässt viel zu wünschen übrig. Die Diktatur aber begünstigt den Terrorismus, weil sie die Frustration in der Bevölkerung steigert."

Im Feuilleton untersucht Markus Krajewski, Autor von "Der Diener - Mediengeschichte einer Figur zwischen König und Klient", die Grußformeln in den Briefen von Kleist, in denen der "untertänige Diener" auffälligerweise fehlt. Wieland Freund glossiert die Initiative eines amerikanischen Litearurwissenschaftlers,der in "Huckleberry Finn" das Wort "Nigger" gegen "Sklave" tauschen will, damit das Buch in amerikanischen Schulen wieder gelesen werden darf. Tilman Krause gratuliert Juan Goytisolo zum Achtzigsten. Gerhard Gnauck unterhält sich aus Anlass des Kulturhauptstadtjahrs in Tallinn mit dem Autor Andrus Kivirähl über das Wesen des Estnischen. In einer Meldung wird den Öffentlich-Rechtlichen dringend geraten, ihre Apps für Ipad und Co. kostenpflichtig zu machen.

Besprochen werden Filme, darunter "Burlesque" mit Christina Aguilera (laut Ralf Krämer ein Monument der Einfallslosigkeit der Musikindustrie) und der Dokumentarfilm "Das Leben ist kein Heimpsiel" über den Aufstieg Hoffenheims.

Aus den Blogs, 06.01.2011

Der Mediendienst Meedia resümiert mit einigen nützlichen Links die Reaktionen auf die zahllosen Interviews der neuen ARD-Vorsitzenden Monika Piel: "Die Texte zeigen jedoch vor allem eines: Vom Web und den neuen Medien hat die WDR-Intendantin offenbar keine Ahnung."
Stichwörter: ARD, WDR

FR, 06.01.2011

Ab sofort im Internet abrufbar ist die Zusammenfassung (PDF) der Anti-Sarrazin-Thesen zur Integration, die die Sozialwissenschaftlerin Naika Foroutan auf Grundlage der existierenden Daten erarbeitet hat. Thomas Schmid referiert sie und fasst zusammen: "Bei der Sarrazin-Debatte, schlussfolgert Foroutan, würden die Integrationserfolge systematisch verschwiegen. Es gehe aber ohnehin nicht um eine Integrationsdebatte, 'vielmehr werden unter dem Stichwort Integration Ängste, Ressentiments und rassistische Abwehrreaktionen verhandelt'. Die Scheindebatte, so stellt die Wissenschaftlerin mit Verweis auf Umfragen von Allensbach, Emnid und andern Forschungsinstituten fest, befeuert die Fremden- und Islamfeindlichkeit in Deutschland." 

Weitere Artikel: Hans-Jürgen Linke unterhält sich mit dem Komponisten Jens Joneleit über dessen Rekomposition von Gustav Mahlers "Lied von der Erde". Über gescheiterte Vorsätze und verschwundene Klarinettennoten geht es in einer "Times Mager" von Judith von Sternburg. Christian Schlüter schreibt zum Tod des britischen Rockmusikers Gerry Rafferty.

Besprochen werden der Allen-Ginsberg-Film "Howl", Jean Beckers Film "Das Labyrinth der Wörter" mit Gerard Depardieu, das Christina-Aguilera-Vehikel "Burlesque" und Bücher, darunter Phil Rickmans Krimi "Der Himmel über dem Bösen" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

NZZ, 06.01.2011

Droht der polnischen Kirche eine Reform? Adam Krzeminski berichtet vom Aufstand eines Dominikaterpaters, der in der Gazeta Wyborcza den Zustand des Katholizismus beklagt: "Zwanzig Jahre nach dem Sieg über den Kommunismus erscheine sie nur nach außen als gewaltig, imposant und vielfarbig. In Wahrheit erinnere sie an einen aufgeblasenen Luftballon. Das spanische Gespenst, eine rasante Säkularisierung der Gesellschaft, verbunden mit einer massiven Kirchenflucht der jungen Generation, werde bald auch Polen erreichen. Und schuld daran, schreibt der Kritiker, seien konservative Bischöfe, die sich hinter den Mauern eines tumben Konservatismus verschanzten und geradezu heidnische, hasserfüllte Aktivitäten nationalkatholischer Fundamentalistengruppen autorisierten, die Kreuze wie ein Totem ihrer politischen Gesinnung missbrauchten."

Auf der Filmseite preist Susanne Ostwald Mike Leighs neuen Film "Another Year": "Groß ist seine Menschenliebe und Empathie." Alexandra Stäheli empfiehlt Valerio Mielis "unbeschwert-poetischen" Venedigfilm "Dieci inverni".

Außerdem: Ho Nam Seelmann geht der Frage nach, warum in Korea immer noch sio viele uneheliche Kinder zur Adoption freigegeben werden. Besprochen werden E. L. Doctorows Roman "Homer & Langley" und Christiane Neudeckers Erzählungen "Das siamesische Klavier" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Tagesspiegel, 06.01.2011

Mit Häme wird der Abgang von MTV in den Pay-TV-Bereich begleitet, schreibt Kolja Reichert: "Es war ein symbolischer Sieg: MTV hat uns an die Handyindustrie verraten. Nun streckt es die Waffen und tritt endgültig die Deutungshoheit in Sachen Jugendkultur ab."
Stichwörter: Pay-TV, Mtv

TAZ, 06.01.2011

Rudolf Balmer berichtet über den erstaunlichen Erfolg von Stephane Hessels Entrüstungsfibel "Indignez-vous!" ("Empört euch!"). Der Appell des ehemaligen Widerstandskämpfers und Sohns von Franz Hessel "gegen fatalistische Resignation und den Defätismus" (und gegen israelische Produkte) wurde in Frankreich bereits 500.000mal verkauft. In seinem Kommentar auf der Meinungsseite fügt Balmer hinzu: "Bezeichnenderweise sind die Franzosen und Französinnen laut einer Vergleichsstudie in 53 Ländern auch in Sachen Pessimismus internationale Spitzenreiter. Ist das die Kehrseite der Medaille: Schnell empört, schnell resigniert?" Außerdem plädiert Daniel Bax auf der Meinungsseite nach dem Attentat gegen die Kopten in Alexandria gegen den Begriff der "Christenverfolgung".

Besprochen werden eine große Retrospektive der österreichischen Fotografin und Zeichnerin Birgit Jürgenssen im Austria Kunstforum in Wien, das Spielfilmdebüt "Eine flexible Frau" von Tatjana Turanskyi, das Regiedebüt "Burlesque" von Steve Antin mit Christina Aguilera und Cher und das Album "Tradi-Mods vs. Rockers: Alternative Takes on Congotronics", auf dem sich Künstler wie Beck, Wilco, Animal Collective, Björk oder Thom Yorke mit der traditionellen Bazombo-Musik aus Kinshasa auseinandersetzen.

Und Tom.

Freitag, 06.01.2011

Unter akademischen Intellektuellen herrscht Pragmatismus pur und in den Feuilletons ein politisch korreketer, zukunftsfeindlicher Mainstream, beklagt der Stanforderer Komparatist Hans Ulrich Gumbrecht und fordert mehr Nonkonformismus: "Riskantes Denken mag riskant aussehen, gewinnt aber seine Legitimatät gerade dadurch, dass es das wirkliche Risiko vermeidet; es ist also immer nur auf andere Werte und Ziele aus, als die, welche gerade als selbstverständlich gelten, es kennt keine stabilen Orientierungen. Ohne die stimulierende Kraft des riskantes Denkens, befürchte ich, könnten die zur Norm gewordenen ehemaligen Intellektuellen- und Minoritätenmeinungen so repressiv werden wie in der Vergangenheit - auf der anderen Seite des für immer verschwundenen Eisernen Vorhangs - eine zum Staats-Sozialismus entartete Sozialdemokratie."

SZ, 06.01.2011

Die Bayern feiern die drei Könige.

FAZ, 06.01.2011

Auf der Kinoseite informiert Andreas Platthaus über den Aufruf des iranischen Filmregisseurs Rafi Pitts, am 11. Februar, dem zweiten Tag der Berlinale, aus Protest gegen das brutale Urteil gegen Jafar Panahi und Mohammad Rasulof zwei Stunden die Arbeit ruhen zu lassen - und Platthaus rät dem Festival, dessen Jury Panahi vorsitzen sollte, sich dem Aufruf anzuschließen: "Man darf gespannt sein, ob es seinem selbst erhobenen politischen Anspruch dadurch gerecht wird, dass es Pitts' Aufruf unterstützt. "

Weitere Artikel: Im Aufmacher hält der Wirtschaftshistoriker Werner Plumpe den Euro für abschaffbar.. In deutschen Zeitschriften liest Ingeborg Harms mancherlei über die Liebe. Jürgen Kaube glossiert neurobiologische Versuche, zwischen Lechts und Rinks zu unterscheiden. Edo Reents schreibt zum Tod des Rockmusikers Gerry Rafferty, Lorenz Jäger hat den Nachruf auf den deutschen islamischen Dichter Paul-Gerhard bzw. Hadayatullah Hübsch verfasst. Auf eine Filmreihe mit militärischen Dokumentar- und Propagandafilmen im Berliner Zeughaus-Kino macht Rüdiger Suchsland aufmerksam.

Besprochen werden die Charles-Le-Dray-Ausstellung "workworkworkworkwork" im New Yorker Whitney Museum, die Ausstellung "Lisiewsky - Hofmaler in Anhalt und Mecklenburg" in Schwerin, eine CD-Werkschau des Sängers Syl Johnson, das neue Album "Personal Life" der Thermals, Asghar Farhadis Film "Elly" und Bücher, darunter George Perecs "Versuch, einen Platz in Paris zu erfassen" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).