Heute in den Feuilletons

Menetekel plus Kleingeschriebenes

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.03.2011. In der Welt appelliert Alexander Kluge an das kassandrische Vermögen in allen von uns. In der SZ sagt Ulrich Beck, dass er es ja immer schon gesagt hat. taz und NZZ berichten aus dem Literaturland Serbien. Die FR ist höchst beeindruckt von Michael Thalheimers Frankfurter Inszenierung der "Maria Stuart". Botho Strauß' neues Stück "Das blinde Geschehn" findet dagegen eine recht gemischte Aufnahme.

Welt, 14.03.2011

Alexander Kluge, der nach Tschernobyl ein halbes Jahr nach Portugal gezogen ist, sagt im Gespräch mit Andreas Rosenfelder: "Solch eine Erfahrung wie jetzt in Japan sollte alle unsere Sensorien in Gang bringen. Das sind Menetekel plus Kleingeschriebenes. Das biblische Menetekel, die Schrift an der Wand, konnte damals nur der Prophet Daniel lesen, und auf Kassandra wurde nicht gehört. Aber das prophetische Ahnungsvermögen und das kassandrische Vermögen sind die wertvollsten Eigenschaften in uns Menschen."

Weitere Artikel: Hanns-Georg Rodek sucht nach Symbolen des Atomaren in der japanischen Populärkultur.

Besprochen werden Botho Strauß' neues Stück "Das blinde Geschehen", inszeniert von Matthias Hartmann, in Wien ("eine ziemlich lahme Angelegenheit", findet Ulrich Weinzierl) und eine "furiose" (so Weinzierl in der derselben Doppelbesprechung) "Maria Stuart" in Frankfurt unter Michael Thalheimer. Und eine Ausstellung über die Computerfirma Apple im Franfurter MAK.

Auf der vermischten Seite unterhält sich Robert Lücke mit dem Gastrokritiker Jörg Zipprick, der skandalöse Praktiken in Spitzenrestaurants aufdeckte: "Nepp-Kaviare oder falsche Seezungen werden immer häufiger aufgetischt." Im Berlin-Teil spricht sich der Musiker und Autor Sven Regener gegen übertriebene Erwartungen an das Internet aus.

Aus den Blogs, 14.03.2011

Wie jeden Montag die Linktipps von Ulrike Langer zu Medien- und Interentthemen.

Diese Glühbirnen können wir jetzt alle gebrauchen, findet die grüne Design-Seite Inhabitat in einem Gastbeitrag auf Engadget.



TAZ, 14.03.2011

Manfred Kriener notiert nüchtern, was genau man nach den Explosionen in Fukushima eigentlich sagen kann und was nicht. Zu Beginn seines Artikels macht er auch klar, wie abstoßend die deutsche Angewohnheit ist, nach Katastropen in anderen Ländern immer zuerst zu fragen, was das mit uns macht. "Es verrät einen erstaunlichen Mangel an Empathie und Menschlichkeit, jetzt nicht zu fragen, ob weite Teile Japans unbewohnbar werden und ob es gelingt, das Herausschleudern des verheerenden radioaktiven Inventars aus den Reaktorruinen zu verhindern, sondern danach, ob in Castrop-Rauxel womöglich das Risiko steigt."

Etwas einseitig findet Doris Akrap die Auswahl der serbischen Autoren, die zur Leipziger Buchmesse übersetzt wurden: "Dass bei den Entscheidungen, welche Autoren übersetzt werden, wer zur Messe reisen oder wer mit wem öffentlich über was sprechen darf, nicht nur nach künstlerischen Kriterien vorgegangen wird, ist sicher nicht nur im Fall Serbien so. Aber auch ohne genau zu wissen, was sich hinter den Kulissen abspielte, ist zumindest eines mehr als auffällig: Sämtliche der zwölf für das Frühjahrsprogramm übersetzten serbischen Romane stammen ausschließlich von männlichen Autoren der älteren und mittelalten Generation. Dabei hatte Dedovic noch im Herbst festgestellt, dass der 'moderne Dreiklang der serbischen Literatur aus Urbanität, Pluralität und Frauenperspektive' bestehe.

Simone Kaempf porträtiert den Theaterregisseur Tomas Schweigen. Besprochen wird die Videoarbeit "Light Space Modulator" des Künstlerkollektivs The Apparatjik in der Neuen Nationalgalerie Berlin.

Und Tom.

FR, 14.03.2011

Höchst beeindruckt ist Hans-Klaus Jungheinrich von Michael Thalheimers Frankfurter Inszenierung der "Maria Stuart": "Zu Marias erstem Monolog zeigt sich die Bühne zweigeteilt in gleiche Hälften mithilfe einer kahl bis an die Rampe reichenden Zwischenwand, und beide Königinnen stehen durch sie getrennt ganz vorne. So scheint die unbewegte Elisabeth der im Kerker Eingeschlossenen unerkannt zu lauschen."

Weitere Artikel des durch den japanischen GAU geschrumpften FR-Feuilletons: Arno Widmann schreibt zum Unfalltod des Drogenforschers Günter Amendt (den ein bekiffter Fahrer verschuldete).

Besprochen wird außerdem Botho Strauß' neues Stück "Das blinde Geschehen" (ein "Dramen-Small-Talk", so ein ungnädiger Dirk Pilz, und Regisseur Matthias Hartmann "verlegt sich aufs ästhetische Grimassieren und szenische Gesichtermachen").

NZZ, 14.03.2011

Jörg Plath ist mit einer Reihe deutscher Journalisten vom Belgrader Kulturministerium nach Serbien eingeladen worden, um vor der Leipziger Buchmesse mit ihrem Serbien-Schwerpunkt, einige Autoren des Landes kennenzulernen. Bei einem Treffen im PEN-Büro kommt es zu einem kleinen Eklat, erzählt er, als die Journalisten fragen, ob die jugoslawischen Kriege eine Rolle in der Literatur spielen. "Der vorsichtige Hinweis auf die DDR, auf eigene Erfahrungen, wird vom Dolmetscher nicht übersetzt, und die Reaktion ist scharf. Die anwesenden Autorinnen und Autoren empfinden die Fragen als Vorgaben und verteidigen sich mit dem Hinweis auf die Freiheit der Kunst - ebenjene Freiheit, von der die Frager, die sich nun wie Okkupanten aus der EU vorkommen, gehofft hatten, die Autoren würden sie nutzen. Am nächsten Tag wird die Erzählerin Jelena Jengold von einem Buch über den Krieg erzählen: 'Waldgeist' von Goran Samardzic (Auszüge finden sich in der kürzlich erschienenen, Serbien gewidmeten Nummer der Neuen Rundschau). Es sei jedoch von der Kritik totgeschwiegen worden."

Die Japaner werden jetzt von einer Informationsflut überrollt, die keinen Unterschied mehr kennt "zwischen offiziellen, offiziösen und persönlichen Zeugnissen, Nachricht und Meinung, authentischem Bericht und Reality-TV", meint Florian Coulmas. "Dabei wünscht man sich zur Stunde in Japan nichts sehnlicher als eindeutige, zuverlässige Aussagen, nach denen man sich richten kann. Im Zeitalter der Hyperinformation gibt es sie kaum noch, und sollte es sie denn geben, gehen sie in der totalen Information unter. Eine bedrückende Unsicherheit ist die Folge."

Weiteres: Susanne Ostwald gratuliert dem Filmregisseur Wolfgang Petersen zum Siebzigsten. Besprochen wird Matthias Hartmanns Inszenierung von Botho Strauss' neuem Stück "Das blinde Geschehen".

FAZ, 14.03.2011

Der Mathematiker Gerd Antes erklärt, dass es völlige Sicherheit in Sachen Atomkraft nie geben kann, weil auch ein "Restrisiko" eben immer eine gewisse Eintrittswahrscheinlichkeit hat. DAAD-Außenstellenleiter Holger Finken schildert das Erdbeben und seine Folgen aus seiner Tokioter Perspektive. Außerdem zitiert die Redaktion ein paar Sätze von Michail Gorbatschow aus dem aktuellen Bulletin der Atomwissenschaftler, in denen er für die Umstellung auf regenerative Energien plädiert. Über eine große Hans-Fallada-Begeisterung in Israel berichtet Hans-Christian Rössler. Der Ex-Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde erläutert in juristischen Termini, warum die Zulassung der PID gegen die verfassungsrechtlich geschützte Menschenwürde verstieße. Lorenz Jäger denkt über volkspsychologische Auswirkungen der per se katastrophischen Natur Japans nach. In seiner "Klarer Denken"-Serie befasst sich Rolf Dobelli mit dem "Knappheits-Irrtum". Kurze Nachrufe gibt es auf den Jazzdrummer Joe Morello und den Sex- und Drogenforscher Günter Amendt.

Besprochen werden Matthias Hartmanns Uraufführungsinszenierung von Botho Strauß' neuem Stück "Das blinde Geschehen" am Burgtheater in Wien, Michael Thalheimers Frankfurter "Maria Stuart"-Inszenierung und Bücher, darunter Michael Kempes Piraterie-Studie "Fluch der Weltmeere" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 14.03.2011

Christopher Schmidt ist ganz aus dem Häuschen über Botho Strauß' neuestes Stück "Das blinde Geschehen", in dem sich ein Avatar aus Second Life zu materialisieren scheint, um dem Hauptdarsteller eine reale Liebesgeschichte zu spendieren: "So leichthändig hat Botho Strauß vielleicht seit 'Der Park' (1984) nicht mehr für die Bühne geschrieben, spielerisch lockt er den Zuschauer in ein zauberisches Zwischenreich, in dem die Gegenwart ins Archetypische verflimmert. Und einen so kongenialen Äquilibristen der Regiekunst hat er ebenfalls lange nicht mehr gefunden wie den Burgtheater-Intendanten Matthias Hartmann."

Im Interview mit Andreas Zielcke betont Ulrich Beck, dass er es ja immer schon gesagt hat ("In der Tat, die großen Krisen schienen seitdem weitgehend dem Drehbuch der 'Risikogesellschaft' zu folgen"). In den "Nachrichten aus dem Netz" zitiert Michael Moorstedt eine Studie des abgehängten Konkurrenten Yahoo über den "Like"-Button von Facebook, der den kooperierenden Websites offenbar wenig bringt. Doris Kuhn gratuliert dem Regisseur Wolfgang Petersen zum Siebzigsten. Volker Breidecker schreibt zum schrecklichen Unfalltod des Sexualforschers Günter Amendt.

Besprochen werden der Film "Never Say Never" über Justin Bieber, Marguerite Duras' "Agatha" an den Münchner Kammerspielen, neue DVDs, eine Ausstellung mit Papierarbeiten aus dem Moma im Berliner Gropiusbau und Bücher, darunter Philipp Bloms Essay "Böse Philosophen" über Diderot und Holbach (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).