Heute in den Feuilletons

These boots are made for walking

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.04.2011. Die Empörung über den Dresdner Museumschef Martin Roth und weitere deutsche Kulturmandarine schwillt an - auch unter Museumskollegen: Der Schweizer Kurator Hans-Ulrich Obrist bedauert in der Welt, dass sich die Organisatoren der Aufklärungsausstellung nicht mit Ai Weiwei solidarisieren. Sein Kollege Raimund Stecker vom Lehmbruck-Museum bezeichnet Roths Ausstellung als "Dekoration der Macht". Auch Herta Müller fragt, warum die deutsche Kulturpolitik beim chinesischen Regime "um Anerkennung winselt". Die SZ besuchte einen "Gesprächssalon" zur Ausstellung in Peking, in der die deutschen Kulturfunktionäre Ai Weiweis Namen nicht einmal in den Mund nahmen. Die NZZ beobachtet: Im Ausstellungskatalog wird der Kommunismus als Krönung der Aufklärung verkauft. Der Tagesspiegel fordert eine Entschuldigung von Martin Roth. Die Verleihung der Lolas hat in den Feuilletons kollektives Gähnen ausgelöst.

Welt, 11.04.2011

Der Schweizer Kurator Hans-Ulrich Obrist kritisiert im Interview mit Max Dax die Äußerungen des Dresdner Museumschefs Martin Roth zu Ai Weiwei: "Es verwundert und betrübt mich sehr hören zu müssen, dass ein deutscher Museumsdirektor und Kollege sich offenbar nicht mit der Bewegung solidarisiert, die sich für die Freilassung Ai Weiweis einsetzt. Gerade hat sich die Solomon R. Guggenheim Foundation an die Spitze einer internationalen Bewegung des Museen gesetzt, um den Protest der Kunstwelt zum Ausdruck zu bringen." (Wäre interessant zu wissen, welche deutsche Museen sich bisher angeschlossen haben!)

Die Welt zitiert auch Äußerungen Herta Müllers aus dem Focus zum Fall: "Es kommt mir vor, als würde die deutsche Kulturpolitik regelrecht winseln um Anerkennung durch China. Ich verstehe nicht, weshalb es die Deutschen sein müssen, die als Allererste Werke für eine Ausstellung in diesem Museumsklotz liefern, der doch nur ein Prestigeobjekt des Regimes ist."

Und Stefan Koldehoff zeigt durch ein Zitat Raimund Steckers vom Lehmbruck-Museum, dass auch unter Museumschefs kein Frieden mehr herrscht: "Herr Roth steht jedenfalls offensichtlich auf der falschen Seite, nämlich der der Dekoration der Macht statt auf der der aufklärerischen, subversiven Kraft der Kunst."

Besprochen wird die Uraufführung von Roland Schimmelpfennigs Stück "Wenn, dann" in Frankfurt.

NZZ, 11.04.2011

Petra Kipphoff kann auch nicht recht an einen Erfolg der Ausstellung "Kunst der Aufklärung" in Peking glauben. Ob Kants Schuhe wirklich so viel kritischen Geist transportieren? "Der Tiananmenplatz mit seinen Kulissen der Macht ist kein Ort, an dem die Mythen gestürzt werden. In dem Katalog-Beitrag zweier chinesischer Wissenschafter kommt man allerdings zu dem interessanten Schluss, dass der Kommunismus die Ausweitung, um nicht zu sagen die Krönung der Aufklärung sei. 'Lassen wir es sein, Aufklärung ist Unsinn', sagt der alte Schauspieler in Thomas Bernhards Stück 'Einfach kompliziert'. Vielleicht aber sollte man einmal vor den schmalen, schwarzen Schuhen aus dem persönlichen Besitz des Philosophen ein Schild mit dem Satz 'These boots are made for walking' aufstellen."

Weiteres: Susanne Ostwald schreibt zum Tod des großen Regisseur Sidney Lumet. Marc Zitzmann meldet, dass Luc Bondy 2012 die Leitung des Odeon-Theatre de l'Europe übernimmt. Und Angelika Overath erzählt, wie sie Vallader lernte, das Rätoromanische des Unterengadin.

FR, 11.04.2011

Dem deutschen Film geht's gut, interessanter wird er dadurch leider nicht, stellt Daniel Kothenschulte angesichts der am Samstag verliehen Lolas fest: "Die große Anzahl aufwändiger, aber künstlerisch anspruchsloser Filme, die trotz hohen Werbeaufwands nur selten ein Publikum finden, verdankt ihr Dasein einem Förderinstrument, das auf Qualitätsprüfungen bewusst verzichtet - dem von Bernd Neumann initiierten Deutschen Filmförderfond (DFF). In der Branche regt sich an dieser Subventionspolitik nicht die leiseste Kritik - schließlich sorgte es dafür, dass ihre Begünstigten die jüngste Finanz- und Wirtschaftskrise ungeschoren überstanden."

Weiteres: Daniel Kothenschulte schreibt zum Tod des Filmregisseurs Sidney Lumet. Besprochen werden die Uraufführung von Roland Schimmelpfennigs "Wenn, dann" in Frankfurt ("nicht mal eine Petitesse", urteilt Peter Michalzik) und Stephan Kimmigs Inszenierung von Judith Herzbergs Trilogie "Über Leben" am Deutschen Theater Berlin (hier passt alles, freut sich Jürgen Otten).

Tagesspiegel, 11.04.2011

Ziemlich entsetzlich findet Rüdiger Schaper, wie der Dresdener Museumdirektor Martin Roth den Kotau vor Peking übte, wie er bereits gestern schrieb: "Internationale Museen, allen voran das Guggenheim, werden heute geführt wie Unternehmen. Sie operieren international und zunehmend profitorientiert. Marketing geht vor Moral. Umso schlimmer, wenn der Leiter einer durch staatliche Subventionen gesicherten Institution, wie es die Dresdner Sammlungen sind, einem Unrechts- und Gewaltsystem beipflichtet. Martin Roth hat den deutschen Kulturbetrieb desavouiert. Er hat sich zu entschuldigen. Er muss sich für Ai Weiwei einsetzen. Sonst hat er in Peking nichts verloren, kann er seine Kunstschätze zurückholen. Museum trifft Aufklärung: Beide tot."

TAZ, 11.04.2011

Stefan Reinecke und Christian Semler sprechen mit dem Historiker Ulrich Herbert über den Prozess gegen Adolf Eichmann, der vor fünfzig Jahren in Jerusalem begann, über skandalöse Amnestiegesetze in Deutschland und Hannah Arendts Formel von der "Banalität des Bösen": "Sie formulierte einerseits die Enttäuschung über den Mangel an wenn auch diabolischer Größe, die man angesichts der Millionen von Opfern bei einem der wichtigsten Organisatoren des Massenmords doch irgendwie erwartete. Andererseits auch einen späten Triumph, wenn man sah: Dieser große Mörder - was war das für ein Würstchen! In Deutschland aber passte der Begriff gut in die Vorstellung von den Nazis als 'asozialen Verbrechern'. Die Täter waren also Bürokraten und Kretins - dass es auch promovierte Einsatzgruppenchefs wie Ohlendorf oder Rasch gab, kam in diesem Bild nicht vor."

Weiteres: Dominik Kamalzadeh verabschiedet den großen Sidney Lumet, dessen Maxime er so umreißt: "Lieber einen Film mit Handicaps drehen als gar keinen." Anke Leweke berichtet leicht angeödet von der Verleihung der Deutschen Filmpreise am Wochenende: "Mehr als zwei Millionen Euro wurden am Freitagabend in Berlin vergeben. Das Problem des deutschen Kinos ist ohnehin nicht das Geld."

Auf der Meinungsseite ruft Rafael Seligmann, die arabischen Revolutionen politisch und intellektuell zu unterstützen: "Die arabische Revolution ist eine Chance für mehrere hundert Millionen Menschen, ein höheres Maß an Freiheit, kultureller Vielfalt und Wohlstand zu erlangen. Sie verdient daher unsere Unterstützung. Wie lange sie währt, wissen wir nicht. Doch am Ende könnte eine friedlichere Welt stehen. Inschallah."

Und Tom.

SZ, 11.04.2011

Die ganze Seite 1 des Feuilletons ist Ai Weiwei gewidmet.

China-Korrespondent Henrik Bork besuchte den ersten "Salon" zur Aufklärungsausstellung in Peking, eine Gesprächsveranstaltung, die vor den jüngsten Ereignissen angesetzt worden war. Einen ganz bestimmten Namen nahmen die dort redenden deutschen Kulturveranstalter nicht in den Mund: "Er bedaure sehr, dass 'viele Freunde aus der Pekinger Kunstszene aus verschiedenen Gründen heute nicht bei dieser Veranstaltung dabei sein können', sagt etwa Michael Schäfer, der deutsche Botschafter in Peking. Den Namen Ai Weiwei spricht er nicht aus. Auch Moderator Michael Kahn-Ackermann vom Goethe-Institut in Peking, der noch vor kurzem die Nähe des berühmten Künstlers... gesucht hatte, bringt am Samstag... die drei Silben Ai Weiwei nicht über die Lippen." Und Michael Schwarz von der mitveranstaltenden Mercator-Stiftung "steht unter einem Plakat mit der Aufschrift 'Aufklärung im Dialog', und auch er nennt den Namen Ai Weiwei nicht."

Im Aufmacher konstatiert Kia Vahland, dass die drei Mandarine aus den Staatlichen Kunstsammlungen von Berlin, Dresden und München mit der Idee, man könne in einem Nationalmuseum eines Landes wie China zum "Dialog" antreten, ziemlich falsch liegen, denn "dass Europäer mit ihren Werken dem Nationalmuseum huldigen, belegt den chinesischen Führungsanspruch erst." Der Sinologe Heiner Roetz erinnert in einem dritten Artikel daran, dass die Philosophen der Aufklärung häufig gerade an Konfuzius anknüpften, um ihren Anspruch auf Selberdenken zu belegen.

Weitere Artikel: Michael Moorstedt erklärt in den Nachrichten aus dem Netz, wie aus Facebook- und Twitter-Postings statistische Stimmungsbilder erstellt werden können, die etwa für Marketingabteilgungen interessant sein könnten. Zeitbombe Atomenergie folgte einer Diskussion über die "Zeitbombe Atomenergie" in Berlin. Inga Rahmsdorf resümiert eine Tagung der Böll-Stiftung zur Flüchtlingspolitik der EU. Willi Winkler berichtet, dass der ehemalige SS-Mann und Diplomat Felix Gaerte gegen das Buch "Das Amt" klagt. Auf der Medienseite schreibt Tobias Kniebe zum Tod des großen Interviewkünstlers Andre Müller - der Perlentaucher hat vor einigen Jahren sein Interview mit Arno Breker veröffentlicht.

Besprochen werden Judith Herzbergs Stück "Über Leben" am Deutschen Theater Berlin, meue DVDs und Bücher, darunter John Cheevers Roman "Die Lichter von Bullet Park".

FAZ, 11.04.2011

Niklas Maak in der FAZ am Sonntag, fassungslos: "Ein Nobelpreisträger sitzt für elf Jahre im Knast, die wichtigste Figur der chinesischen Kunstszene wird verschleppt - und die Vertreter der deutschen Kultur sitzen mit eingezogenen Köpfen da und zeigen auf die Hausschuhe von Immanuel Kant, die sie in der Ausstellung geparkt haben."

Gil Yaron
erinnert an den Eichmann-Prozess vor fünfzig Jahren. Mit diesem Prozess wurde der Holocaust zum zentralen Bestandteil israelischer Identität, von dem viele bis dahin keine Ahnung hatten. Vorher: "Der neue Israeli war die hemdsärmelige und wehrhafte Antithese, die auf zweitausend Jahre Geschichte der Unterdrückung jüdischer Diaspora verächtlich herabblickte. Eine ganze Generation lernte die Zeilen des Nationaldichters Nahman Bialik auswendig: 'Euer Tod in der Diaspora hat ebenso wenig Sinn wie euer Leben dort.' Diese Auffassung diktierte die Haltung, mit der das neue Israel die Holocaust-Überlebenden aufnahm: 'In unserer Schulklasse lernten zwei Kinder, deren Eltern die Schoa überlebt hatten. Bis zum Prozess grenzten wir sie aus', erinnert sich Tami Naveh-Hausner, die heute dreiundsechzig Jahre alte Tochter Gideon Hausners, den Chefanklägern gegen Eichmann."

Weitere Artikel: Thomas Strobl hörte die Lesung von Günter Grass gegen Atomkraft bei den von Vattenfall gesponsorten Hamburger Lesetagen. Andreas Kilb stellt bei der Verleihung der Lolas fest, dass der deutsche Film "im Ganzen Provinz geblieben ist". Rupert Murdochs Verlagshaus News International bereut seine Lauschaktion, meldet Gina Thomas, die keine Sekunde an diese Reue glaubt. Rolf Dobelli warnt vor induktivem Denken. Der SS-Mann, der Anne Frank verhaftete, spionierte später jahrelang für den BND, berichtet Michael Hanfeld. Christina Gräwe stellt Metropol Parasol von Jürgen Mayer in Sevilla vor. Verena Lueken schreibt zum Tod von Sidney Lumet.

Besprochen werden die Uraufführung von Roland Schimmelpfennigs Stück "Wenn, dann: Was wir tun, wie und warum" am Schauspiel Frankfurt, eine Ausstellung über den Kunsthandel in der NS-Zeit im Centrum Judaicum in Berlin, Stephan Kimmigs Inszenierung von Judith Herzbergs Trilogie "Über Leben" am Deutschen Theater Berlin und ein Konzert von Josh T. Pearson in Köln.