Heute in den Feuilletons

Bei denen gibt es kein moralisches Zwielicht

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.05.2011. Der Tagesspiegel staunt über das "unvergleichliche Traumateam" Veit und Thomas Harlan Im Blog der New York Review of Books fragt Yasmine El Rashidi: "Warum brennen die Kirchen in Ägypten?" In Carta macht Manfred Bissinger einen Vorschlag zur Rettung des Journalimus im digitalen Zeitalter: mehr Geld verlangen. In der FAZ antwortet der Migrationsforscher Klaus J. Bade auf eine Attacke Necla Keleks. Der SZ graut vor Unternehmen und Kulturbetrieb, die nicht mal Lippenbekenntnisse für Ai Weiwei zustande bringen.In The Daily Beast plädiert Bernard-Henri Levy gegen eine Vorverurteilung Dominique Strauss-Kahns.

NZZ, 18.05.2011

Ein jedem Berliner bekanntes Schreckenserlebnis hatte Joachim Güntner in Stockholm bei der Frühjahrstagung der Deutschen Akademie: "Schon bei der Ankunft auf dem Flughafen Arlanda wird dem Ankommenden unmissverständlich bedeutet, dass er eine Zone des Wohlstands betritt. Nimmt er den von dort ins Zentrum flitzenden Schnellzug, darf er weiter staunen über die Allgegenwart von elegantem Design und moderner Technik. Wer aus Zürich anreist, mag einen derart gepflegten öffentlichen Raum als nicht so besonders empfinden. Für Reisende mit Abflughafen Berlin ist die Differenz dramatisch."

Terrence Malicks Hymne auf die Liebe und das Leben "The Tree of Life" hat Susanne Ostwald in Cannes das erhoffte kinematografische Großereignis beschert: "So müssen sich Filmkritiker gefühlt haben, als sie zum ersten Mal Stanley Kubricks epochemachendes Werk '2001: A Space Odyssee' sahen: überwältigt und sprachlos."

Weiteres: Angela Schader berichtet über den Fall der Ameneh Bahrami, die als Vergeltung für ein Säureattentat die Blendung des Täters vor einem iranischen Gericht durchgesetzt hatte. Die Vollstreckung des Urteils wurde nun aus unbekannten Gründen verschoben. Silvia Stammen kommentiert Martin Kusejs Antritt als Intendant am Bayerischen Staatsschauspiel.

Besprochen werden die beiden serbischen Romane "Millennium in Belgrad" von Vladimir Pistalo und "An den unbekannten Helden" von Sreten Ugricic sowie Peter F. Druckers Schrift "Ursprünge des Totalitarismus" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Tagesspiegel, 18.05.2011

Thomas und Veit Harlan waren ein "unvergleichliches Trauma-Team", meint spöttisch, aber doch ziemlich beeindruckt Wolfgang Schneider über Thomas Harlans nachgelassenen Erinnerungen an seinen Vater, den Regisseur des antisemitischen Propagandafilms "Jud Süß". "Hat die lebenslange Fixierung auf die Schuld des Vaters nicht etwas von einer fixen Idee? Schließlich war Veit Harlan kein Himmler oder Heydrich. Eben drum! Bei denen gibt es kein moralisches Zwielicht, ihr Großverbrechertum steht außer Frage. Anders bei all den geschönten, camouflierten Biografien, wo die Einschätzung schwankt zwischen Mitläufer oder Massenmörder. Das lässt keine Ruhe. Hat der Vater, angestiftet von Goebbels, in der Nazi-Film-Industrie seine erbärmliche Schuldigkeit getan - oder hat er erbarmungswürdige Schuld auf sich geladen? Von diesem Zwiespalt, der ein Abgrund ist, hat Thomas Harlans Moralismus seinen Impetus bezogen."

In diesem Zusammenhang sei hingewiesen auf die höchst informative Webseite, die Sieglinde Geisel zu Thomas Harlan ins Netz gestellt hat. Man findet hier eine Biografie, Videos aus seinen Filmen, Links zu Besprechungen, Interviews etc. Und man kann die Werke kommentieren: "Damit verbunden ist die Hoffnung, eine Auseinandersetzung mit diesem Werk anzuschieben, dessen Rezeption noch kaum begonnen hat", erklärt Geisel.

Aus den Blogs, 18.05.2011

Bernard Henri-Levy empört sich in The Daily Beast darüber, wie Dominique Strauss-Kahn in den Medien durch den Dreck gezogen wird - und von der amerikanischen Justiz vorgeführt wird. "I am troubled by a system of justice modestly termed 'accusatory', meaning that anyone can come along and accuse another fellow of any crime - and it will be up to the accused to prove that the accusation is false and without basis in fact. I resent the New York tabloid press, a disgrace to the profession, that, without the least precaution and before having effected the least verification, has depicted Dominique Strauss-Kahn as a sicko, a pervert, borderlining on serial killer, a psychiatrist?s dream." Das Original des Artikels steht in Levys Blog La regle du jeu.

Yasmine El Rashidi berichtet unter dem Titel "Why are the Churches Burning?" für das Blog der NY Review of Books über die immer häufigeren Ausschreitungen gegen Christen in Ägypten: "The perpetrators seem to include hardline Islamists (often referred to as Salafis), remnants of the former regime, and even, indirectly, some elements of the military now in charge, who have allowed these attacks to play out-all groups that in some way have an interest in disrupting a smooth transition to a freely elected civil government and democratic state."

Das Blog Carta dokumentiert ein Vorwort Manfred Bissingers zu einem Band mit Kisch-Preis-Reportagen. Er sihet nur eine Rettung für den Journalismus: "Das Kulturgut Print steht auf dem Spiel. Die Haptik, die Eleganz, die Verfügbarkeit von Zeitungen und Zeitschriften. Es ist höchste Zeit, die Verwertungskette für journalistische Arbeiten ins Internet zu verlängern; nach Jahren der freien Verfügbarkeit Gebühren für Berichte, Analysen, Reportagen zu kassieren."

Welt, 18.05.2011

Sven Felix Kellerhoff preist Rolf-Dieter Müllers Buch "Der Feind steht im Osten - Hitlers geheime Pläne für einen Krieg gegen die Sowjetunion im Jahr 1939" als "wichtigste Neuerscheinung zur Entstehung des Zweiten Weltkriegs" seit langem. Marko Martin erinnert in der Leitglosse an die bundesdeutsche Hysterie um die Volkszählung im Jahr 1987. Marco Spagnoli und Rüdiger Sturm unterhalten sich mit Malcolm MacDowell über seine Arbeit mit Stanley Kubrick in "Uhrwerk Orange". Stefan Koldehoff schildert den zynischen Umgang der Stadt Düsseldorf mit einem Fall von Raubkunst. Manuel Brug unterhält sich mit John Neumaier über dessen Mahler-Choreografien.

Besprochen werden Amelie Niermeyers Abschiedsinzenierung "Nur Pferden gibt man den Gnadenschuss" in Düsseldorf, Toni Morrisons "Desdemona" (das Stück ist "leider ein Graus" so Paul Jandl) in Peter Sellars' Inszenierung bei den Wiener Festwochen.

FR, 18.05.2011

Man muss sich Anke Westphal wohl mit einem glücklichen Lächeln vorstellen, als sie in Cannes aus der Vorführung von Aki Kaurismäkis Film "Le Havre" kam. Hauptfiguren sind der Schuhputzer Marcel Marx und seine Frau Arletty, die einen illegal eingereisten Jungen aus Gabun vor der Polizei verstecken: "Dem französischen Gesetz zufolge macht man sich strafbar, wenn man Illegalen hilft. 'Le Havre' hätte ein Drama werden können, aber Aki Kaurismäki macht eine seiner besten Komödien aus dem Stoff und reichert sie sehr bewusst mit märchenhaften Zügen an."

Außerdem: Jürgen Otten schreibt zum 100. Todestag von Gustav Mahler. Frauke Hartmann berichtet über den dreitägigen Kongress "Die Untoten. Life Sciences und Pulp Fiction".

Besprochen werden Schönbergs Oper "Moses und Aron", Akram Khans Choreografie "Vertical Road" im Frankfurt LAB und Freuds Briefe an seine Verlobte Martha Bernays (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr)

TAZ, 18.05.2011

Cristina Nord hat sich in Cannes doch noch Terrence Malicks "Tree of Life" ansehen können. Ganz überzeugt ist sie nicht: "Als Mittel der Zeitdiagnose lässt sich 'The Tree of Life' sicher nicht verstehen, eher als Delirium über die letzten Dinge. Wenn am Anfang des Films ein Zitat aus dem Buch Hiob steht - 'Wo warst du, da ich die Erde gründete? Sage an, bist du so klug?' -, dann kann man am Ende des Films laut rufen: Im Kino war ich!"

Außerdem: Thomas Groh findet nach einem dreitägigen Hamburger Kulturkongress voller "Kulturtheoriesampling, experimenteller Wissenschaft, rechtsethischer Differenzierung und einem guten Maß Jahrmarktlogik" den Gedanken an eine "Kultur des Untoten" nicht mehr so abwegig. Wolfgang Kaleck stellt den argentinischen Aktivistenautor Osvaldo Bayer und seinen Film "Aufstand im Morgengrauen" vor.

Und Tom.

FAZ, 18.05.2011

In der vergangenen Woche hat Necla Kelek in der FAZ den Vorsitzenden des "Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration" (Kelek: "Politbüro") Klaus J. Bade heftig attackiert. Heute antwortet Bade: "Grotesk sind die von Necla Kelek phantasierten Personal- und Sachmittel, die angeblich 'mit hohen Millionenbeträgen in den Büchern' stehen. Die Sachverständigen sind auch nicht in Personalunion 'Entscheider, Durchführer und Gutachter der Projekte'. Projektmittel müssen vielmehr unter knallharten Konkurrenzbedingungen eingeworben werden. So kann nur jemand urteilen, der ganz weit weg ist von der Wissenschaft und ihren Fördereinrichtungen."

Weitere Artikel: Zum Austausch von Freundlichkeiten und Kultur nach Stockholm geladen war die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Felicitas von Lovenberg reiste mit und muss feststellen, dass die sechzig Frau und Mann starke Truppe (plus Anhang) jetzt nicht auf das riesigste Interesse stieß. Gegen die Berliner "Doktrin der Themaverschleppung" und für die Abschaffung der Überhangmandate spricht sich in einem die Argumente nach Art des Juristen wägenden Text der frühere Verfassungsrichter Ernst Gottfried Mahrenholz aus. Irene Bazinger hat beim Stückemarkt des Theatertreffens zwar nicht sonderlich sprachbewusste, aber sehr professionell arbeitende JungdramatikerInnen erlebt.

Über die Direktorensuche des Londoner Royal Ballet berichtet Wiebke Hüster. Zum reichlich gewagten Vergleich greift Jürg Altwegg auf der Medienseite beim Versuch, die Reaktionen in Frankreich auf die Affäre DSK zu beschreiben: "Die Nachrichten aus Amerika sind so unfassbar wie es die Bilder von den einstürzenden Twin Towers waren." Außerdem kommentiert Andreas Wolfers, Leiter der Henri-Nannen-Journalistenschule, den Streit um den Henri-Nannen-Preis und schreibt über das Wesen der Reportage: "Bewusst den Eindruck zu erzeugen, erlebt zu haben, was man nicht erlebt hat, ist unredlich."

Besprochen werden ein Konzert der Berliner Philharmoniker unter Claudio Abbado mit Mozart und Mahler, Tina Laniks Inszenierung von Soeren Voimas Sück "Ursprung der Welt" in Hannover, die Ausstellung "Ludwig Wittgenstein - Verortungen eines Genies" im Schwulen Museum Kreuzberg, Teil vier - "Fremde Gezeiten" - in der Saga um die "Pirates of the Caribbean" und Bücher, darunter Paul Murrays Internatsroman "Skippy stirbt" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 18.05.2011

Ai Weiwei, so Kia Vahland, "delegierte die Sorge um Bürgerrechte nicht an die Macht, während er durch die Museen der Welt zog. Und er sprach nicht 'unter vier Augen' mit chinesischen Funktionären über Menschenrechte, wie es jetzt viele der deutschen Kulturreisenden von sich behaupten." Aber deutsche Unternehmen, die sich stolz als Kunstförderer geben, schweigen ebenso beredt zu Ai Weiwei wie Galeristen und der übrige Kunstbetrieb: Fragt man einen Sprecher der Deutschen Bank, die die Hongkonger Kunstmesse sponsort, nach Ai Weiwei "heißt es: 'Kein Kommentar.' Oder, wie es ein Vertreter der Siemens Kulturstiftung ausdrückt, der gerade in Peking ein ambitioniertes Musikprogramm orchestriert: 'Das Leben geht weiter.'"

Weitere Artikel: Martina Knoben hat Pepe Danquarts Dokumentarfilm "Joschka und Herr Fischer" mit und über Joschka Fischer gesehen, in dem der ehemalige Außeniminster "mit staatsmännischer Gestik und selbstzufriedener Ironie" durch die Stationen seines Lebens stolziert. Jörg Häntzschel erklärt aus aktuellem Anlass, was es mit dem "Perp Walk" auf sich hat, diesem "ritualhaften öffentlichen Gang des Festgenommenen von der Zelle zum Haftrichter". Susan Vahabzadeh schreibt aus Cannes über neue Filme von Kaurismäki und Jodie Foster.

Eine ganze Seite ist Gustav Mahler gewidmet. Reinhard J. Brembeck schildert ihn zum hundertsten Todestag als eine Art Vorläufer der Grünen und ihrer Natursehnsucht. Wolfgang Schreiber erläutert das Verhältnis von Dirigenten zu Mahler, die ihn etwa total lieben oder total meiden. Michael Stallknecht denkt über den "apokalyptischen Zug" in Mahlers Musik nach.

Besprochen werden Stücke von Richard Maxwell und Simon Stephens bei den Wiener Festwochen und Bücher, darunter Sayed Kashuas Roman "Zweite Person Singular".