Heute in den Feuilletons

So ein Orchester ist ein Brett

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.10.2011. In der NZZ bangt der Hassouna Mosbahi um das demokratische Projekt in Tunesien. Der Standard erinnert an das Pariser Polizeimassaker an Algeriern mitten in Paris vor fünfzig Jahren. Die taz staunt über Heinrich von Kleists Wahnsinnsformulierungen. Die Welt wundert sich über Julia Francks DDR-Roman "Rücken an Rücken". Und endlich singt William Shatner die "Bohemian Rhapsody".

TAZ, 21.10.2011

Eva Behrendt denkt in ihren Notizen zum Kleistjahr über Unrecht und Selbstermächtigung nach, die einem bei Kleist in vielerlei Gestalt begegneten. "An Kleists Figuren bewundere ich die Radikalität, mit der die Opfer ihre Schwäche in Stärke wenden, ohne dass damit das ihnen Zugestoßene verkleinert wird. Nachdem die Marquise von O? hochschwanger aus ihrem Elternhaus verstoßen wurde, aber gegen den Willen ihres Bruders durchsetzt, ihre Kinder mitzunehmen, schreibt Kleist den irren Satz: 'Durch diese schöne Anstrengung mit sich selbst bekannt gemacht, hob sie sich plötzlich, wie an ihrer eigenen Hand, aus der ganzen Tiefe, in welche das Schicksal sie herabgestürzt hatte, empor.' Mit sich selbst bekannt gemacht, was für eine Wahnsinnsformulierung!"

Nina Apin unterhält sich mit Henrik von Holtum alias MC Textor über sein jüngstes Projekt "Gegen den Strich", in dem er zusammen mit dem Radio-Symphonieorchester des Österreichischen Rundfunks an einer Neuinterpretation der Stücke seiner alten Formation Kinderzimmer Productions erarbeitete. In dem Gespräch fällt der Satz: "So ein Orchester ist ein Brett, eine wuchtige, aber durchlässige Klangerfahrung. Dagegen klingt jeder Verstärker enttäuschend."

Aram Lintzel porträtiert das britische Postpunk-Label Factory Records und dessen jüngste Kompilation "Fac. Dance" mit Mixen und Raritäten aus den Jahren 1980 - 1987.

Und Tom.
Stichwörter: Lintzel, Aram, Orchester, Postpunk

Aus den Blogs, 21.10.2011

(via) Flirtende Buchcover: Spike Jonze hat gemeinsam mit der Designerin Olympia Le-Tan im berühmten Pariser Buchladen Shakespeare & Company einen wunderschönen Stopmotion-Film gedreht:



Hier noch ein Interview mit dem Regisseur über den Kurzfilm.

FR/Berliner, 21.10.2011

Gerhard Midding berichtet von einem Pariser Kolloquium zur Digitalisierung des Films: "Dieser Prozess folgt einem ausschließlich ökonomischen und politischen Imperativ: Für die Industrie ist es eine ungeheure logistische Erleichterung, Filme per Satellitensignal oder von kleinen Datenträgern vorzuführen. Für Filmemacher wie Olivier Assayas stellt sie indes einen ästhetischen Rückschritt dar. Er beklagte die katastrophale Projektion, bei der die Lichtverhältnisse nicht reguliert sind. Allzu früh hat man sich auf den Standard 2K (einer Auflösung von ca. 2 Millionen Pixeln) festgelegt; erst allmählich setzt sich das Bewusstsein durch, dass 4K (eine Auflösung von ca. 8 Millionen Pixeln) der Qualität einer guten 35-Millimeter-Kopie angemessen ist."

Weitere Artikel: Manfred Schwarz feiert die Ausstellung "Denaro e Bellezza" im Palazzo Strozzi, die daran erinnert, dass Banken auch mal für die Blüte einer Stadt gut sein konnten. Auf der Medienseite berichtet Simon Hurtz, dass sich Zeitungsverlage mit der Presseschau-Seite Commentarist geeinigt haben.

Besprochen werden das Debüt "Glass Swords" des amerikanischen Musikers Rustie und Mircea Cartarescus Roman "Der Körper" (siehe auch unsere Bücherschau des Tages)

Welt, 21.10.2011

Elmar Krekeler nennt in seiner Rezension von Julia Francks neuem Roman "Rücken an Rücken" eine Grundrezepte für einen erfolgreichen DDR-Familienroman. Dazu gehört: "Der Sohn und Hoffnungsträger muss zum Militär oder ins Arbeitslager, wo er sich beweisen soll und wo er fast zermahlen, von den Kindern der Arbeiter gefoltert wird." Um dann fortzufahren: "Dass Julia Franck sich mit ihrem neuen Roman 'Rücken an Rücken' geradezu sklavisch daran hält, ist einigermaßen rätselhaft."

Weitere Artikel: Marko Martin fühlt sich durch die griechische Halsstarrigkeit ans postperonistische Argentinien erinnert. Richard Kämmerlings mokiert sich über den zum Kulturkonservatismus mutierten David Gelernter, der seinen Kindern nur noch richtiges Spielzeug geben will. Dankwart Guratzsch besucht die von dem koreanischen Architekten Eun Yung Yi entworfene neue Stadtbibliothek von Stuttgart (Bilder). Stefan Keim berichtet über Finanzprobleme der Kölner Oper und unflätige Äußerungen des Intendanten Uwe Eric Laufenberg, der sich nun angegriffen fühlt. Und Henryk Broder interviewt den isländischen Humangenetiker Kari Stefansson, der nichts Gutes über deutsche Journalisten zu sagen hat.

NZZ, 21.10.2011

Am Sonntag wird in Tunesien eine verfassunggebende Versammlung gewählt, der tunesische Autor Hassouna Mosbahi bangt um das demokratische Projekt angesichts der zunehmenden Präsenz von Fundamentalisten und Dschihadisten: "Die Demokratie, die sich die Tunesier nach dem Sturz von Ben Ali so sehnlich wünschen, wäre ernsthaft in Gefahr, sollten die Salafisten und Ennahda sich zusammentun, um ein islamisches Regime zu begründen, das schlimmer wäre als die frühere Diktatur. Viele Tunesier fürchten die ungewisse Zukunft, was vor allem daran liegt, dass die 120 Parteien, die zur Wahl am 23. Oktober 2011 antreten, fast keinerlei politische, ökonomische, soziale oder kulturelle Programme vorweisen können. Die meisten dieser Parteien haben keinerlei Erfahrung, auf welchem Gebiet auch immer, und sind völlig realitätsfern."

Weiteres: Philipp Meier erzählt die Geschichte der Kunsthändler-Familie Nahmad, die für eine Schau im Zürcher Kunsthaus ihre Depots am Genfer Flughafen freigegeben haben. Wojciech Czaja prangert das Unwesen an, nach den Schweizer Seen jetzt auch die Ufer des Gardasee zuzubauen: In Gardone soll jetzt eine Gated Community mit Villen von Richard Meier, David Chipperfield und anderen Stararchitekten entstehen. Bjoern Schaeffner stellt die Techno-Avantgardisten Matthew Herbert und Wolfgang Voigt vor. Hier Herberts Epoche machenden Aufzeichnungen aus dem Leben eines armen Schweins "One Pig".

Weitere Medien, 21.10.2011

Bert Eder erinnert im Standard an eine friedliche Demonstration von Algeriern für die FLN, die vor fünfzig Jahren in Paris in einem Massaker endete - ohne dass es die Öffentlichkeit zur Kenntnis nahm: "Heute geht man von mindestens 200 Getöteten aus. Allein im Innenhof des Pariser Polizeihauptquartiers starben an diesem Tag 50 Menschen. Noch Wochen später wurden Leichen in der Seine gefunden."

Außerdem interviewt Stefan Gmünder den gerade in Wien weilenden Mario Vargas Llosa.

(Via openculture) Endlich! William Shatner singt Queen:

SZ, 21.10.2011

Von gegenwärtiger Antikapitalismus- und Untergangsrhetorik hält der Wirtschaftshistoriker Werner Plumpe nicht allzu viel: "Reale Wirtschaft hat mit Gleichgewicht nichts zu tun; sie ist stete Veränderung. Gehen die heutigen Banken unter, wird es andere geben. Historisch gesehen erlebt nicht einmal jedes zehnte Unternehmen seinen zehnten Geburtstag. Das kann man nicht alles 'retten' - und es ergibt wirtschaftlich auch keinen Sinn, ökonomische Veränderungen und Krisen aufhalten oder ausschalten zu wollen."

Weiteres: Hanser-Lektor Wolfgang Matz verteidigt in einer Antwort auf Heinz Schlaffers Kritik an der Privilegierung von Autorenbiografien (SZ-Feuilleton vom 10.Oktober) das Interesse des Lesers an den Lebensumständen der Schriftsteller. Beim Pina-Bausch-Tribut-Abend hat Martin Krumbolz unter anderem "Männer in Unterwäsche, die sich nass rasieren und dabei über Form und Bewegung räsonieren", gesehen. Susan Vahabzadeh und Fritz Göttler plaudern mit Charlotte Rampling, über die gerade der (knapp besprochene) Dokumentarfilm "The Look" ins Kino kommt.

Besprochen werden die Munch-Ausstellung in der Kunsthalle Bremen, Peter Gabriels neues, aus orchestralen Neueinspielungen seiner Klassiker bestehendes Album "New Blood" und Bücher, darunter "Crime", der neue Roman von Irvine Welsh (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Und was schreibt die SZ zum Tod Gaddafis? "Ende einer Legende". In München verwechselt man einfach alles mit Pop.

FAZ, 21.10.2011

Gina Thomas feiert Tacita Deans "Film" in der Tate Modern: "Wie eine Balletttänzerin, die sämtliche Schritte, Sprünge und Positionen des klassischen Tanzes vorführen will, schlachtet Tacita Dean in ihrem Porträt des Mediums die schöpferischen Vorgänge der analogen Filmherstellung von der Mehrfachbelichtung bis zur Handkolorierung aus, um die Vorzüge des Korns gegenüber dem Pixel zur Schau zu stellen."

Weiteres: Ingeborg Harms wirft einen Blick in die neuen Ausgabe von "Texte zur Kunst" und "Lettre International", insbesondere in dieses Gespräch mit der Künstlergruppe "Zero". In der Reihe über Gentrifizierung befasst sich Anne-Dore Krohn mit dem Schillerkiez in Berlin-Neukölln. Gina Thomas besucht den Keramikkünstler Edmund de Waals. Frank Rieger informiert über Tücken bei der Überprüfung von Software auf Lücken, Fehler und nicht-dokumentierte Funktionen. Joseph Croitoru wirft einen Blick auf die kommenden Wahlen in Tunesien.

Besprochen werden die Filme "Contagion" und "Cirkus Columbia", Hector Berlioz' Oper "Les Troyens" am Staatstheater Karlsruhe und Bücher, darunter Armin Sensers Roman über Shakespeare (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).