Heute in den Feuilletons

Alles ist einsehbar

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.10.2011. In der NZZ macht sich J.M. Coetzee Sorgen über die Wiederkehr der Religion. Die Welt fragt sich, was in Hanser-Verleger Michael Krüger gefahren ist: Machotum alter Schule? Spiegel-Redakteure müssen sich in ihrem neuen Haus vorsehen: Wenn sie einschlafen, geht das Licht aus. Frank Castorf darf den Bayreuther Jubi-Ring im Jahr 1813 inszenieren. In der SZ gibt er Auskunft über seine Ästhetik. Die FAZ kommt aus dem Staunen über den Fall Beltracchi nicht heraus.

NZZ, 28.10.2011

Angela Schader ist es gelungen, dem gegenüber Medien meist recht wortkargen Nobelpreisträger J.M. Coetzee einige Bemerkungen über sein Schreiben, die Literaturkritik und Südafrika zu entlocken. Und über die Rückkehr der Religion: "Nach wie vor überraschend und beängstigend ist freilich die Tatsache, dass die Religion heute in Formen zurückkehrt, die dem Intellekt derart feindlich sind. Es ist, als hätten Jahrhunderte intelligenten und oft tiefschürfenden theologischen Denkens (ich spreche hier von der jüdisch-christlichen Tradition, der einzigen, mit der ich wirklich vertraut bin) keinerlei Wirkung gezeitigt; als wäre nichts davon aus den Universitäten und theologischen Schulen ins Leben der gewöhnlichen Gläubigen gedrungen."

Weiteres: Jürgen Ritte gibt zu, dass in diesem Herbst die französische Politik spektakulärer ist als die Literatur: "Nur selten hat man so viele Vater-, Mutter-, Bruder- oder andere Familienromane lesen können wie in diesem Herbst. Ganz so, als suche man Vergewisserung und Halt im Nächstliegenden." Bettina Spoerri besucht den Schriftsteller F.C. Delius in Berlin, der in diesen Tagen den Büchner-Preis bekommt. Besprochen werden das Album "The Lost Notebooks of Hank Williams" und die gemeinsame CD von Lou Reed und Metallica "Lulu "

TAZ, 28.10.2011

Die taz zeigt auf einer hübschen Seite eins Erbarmen mit der Kanzlerin, die ein bisschen Aufmunterung vertragen könnte (aufstehen, Euro retten, schlafen gehen...).

In der Kultur unterhält sich Jutta Lietsch mit dem chinesischen Fotografen und Pulitzer-Preisträger Liu Heung Shing über den von ihm herausgegebenen Fotoband "China in Revolution?, der die Geschichte der chinesischen Revolution von 1911 erzählt - eine Zeit, die meist mit den Schlagwörtern "Hundert Jahre Einsamkeit" oder "Hundert Jahre Erniedrigung" belegt werde: "Ich wollte zeigen, wie ungenügend diese Sicht ist. Wir müssen beschreiben, wie es dahin kam, was genau damals geschah, wie sich das Land entwickelt hat, wirtschaftlich und politisch. Die Chinesen können die Vergangenheit nicht verstehen, wenn sie sich immer nur als Opfer fühlen. Unter aufgeklärten Historikern in China wird das übrigens auch immer stärker so gesehen. Die Chinesen waren nie nur Opfer."

Christoph Schröder fragt sich, ob der insolvente Frankfurter Eichborn Verlag und der nun als möglicher Investor auftretende Kölner Großverlag Bastei Lübbe wirklich zusammenpassen. Besprochen werden das neue Album "Audio, Video, Disco" des französischen House-Duos Justice und das Album "Mount Wittenberg Orca" von Dirty Projectors & Björk.

Und Tom.

Welt, 28.10.2011

Richard Kämmerlings fragt sich, was in Hanser-Verleger Michael Krüger gefahren ist, der sich nicht vorstellen kann, dass Elisabeth Ruge seine Nachfolgerin wird, weil sie ja Kinder hat. Dabei hatte er sie gerade als "Hanser Berlin"-Chefin installiert: "Wenn Krüger so eine patriarchalische Unverschämtheit nicht bewusst äußern sollte, um Ruge in letzter Minute doch noch zu vergraulen (bislang sind die Verträge offenbar nicht unterschrieben), dann redet hier aufs Schönste ein Machotum alter Schule frei von der Leber weg."

Weitere Artikel: Berthold Seewald besucht in Köpenick eine Ausstellung über die Flucht des jungen Friedrich II. und die Hinrichtung seines Freundes Katte, die das große Friedrich-Zwo-Jubijahr eröffnet. Manuel Brug meldet, dass Frank Castorf den Bayreuther Jubi-Ring 2013 inszenieren darf. Brug besucht auch das aufwändig renovierte Bolschoitheater. Marc Reichwein widmet sich in seiner Feuilletonkolumne der Wiederkehr des Protestes. Besprochen wird Miranda Julys Film "The Future".

FR/Berliner, 28.10.2011

Ulrike Simon hat sich im neuen Spiegel-Gebäude in Hamburg umgesehen und eine sehr effiziente Form der Mitarbeitermotivierung kennengelernt: "Alles ist einsehbar, es gibt kein Verstecken mehr, wer sich zu lange nicht bewegt, bei dem schaltet sich das Licht von selber aus."

Weiteres: Sebastian Preuss ahnt, dass nicht nur dem Kölner Gericht daran gelegen war, den Prozess gegen den Fälschervirtuosen Wolfgang Beltracchi schnell zu beenden. Auch "der Kunsthandel wird versuchen, schnell Gras über den geschäftsschädigenden Skandal wachsen zu lassen." Christian Esch meldet die erfolgreiche Renovierung des Moskauer Bolschoi Theaters: "Am Giebel etwa prangt nun wieder der Doppeladler der Zaren, wo einst das Sowjetwappen hing." Christian Schlüter stellt das Projekt des in Yale lehrenden Philosophen Thomas Pogge vor, den "Health Impact Fund", der die Entwicklung und Verteilung günstiger Medikamente fördern will. Besprochen werden Rihannas Konzert in der Frankfurter Festhalle und Deon Meyers Krimi "Rote Spur".

SZ, 28.10.2011

Anlässlich Frank Castorfs aktueller Gastinszenierung in München unterhält sich Christine Dössel in aller Ausführlichkeit mit dem Berliner Theatermann, der zu einer klaren Selbsteinschätzung kommt: "In meinem Umfeld ist es so, dass ich ein sehr gutes Empfinden habe, wenn mir jemand in den Arsch kriechen will. Schlimmer ist es bei Leuten, die es ernst meinen, da werde ich rot. Vor Scham. Weil ich denke: Bitte, ihr wisst doch, was für ein Scharlatan ich bin. Ich bin ein Faxenmacher. Mein Theater hat ganz viel mit Kinderspielen zu tun, mit dieser Infantilität von Pissi-Pippi-Kacka. Mit der Commedia dell"arte, die immer wieder subversive Waffen des Spotts erfunden hat."

Anlässlich von Barbara Vinkens "brisanter" Studie über Heinrich Kleists "Herrmannsschlacht" befasst sich der Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke sehr ausführlich mit dem "Hassdrama" und konzentriert sich dabei vor allem auf die Konstruktion von Feindschaft darin. Renate Meinhof hat in Berlin Kommissar Rene Allonge getroffen, der im Vorfeld des gerade zuende gegangenen Kunstfälscherprozesses ermittelt hat. Till Briegleb besucht das neue Domizil des Spiegel, Frank Nienhuysen das heute nach langen Sanierungsarbeiten frisch eröffnende Bolschoi-Theater in Moskau. Mit rotem Feuerwehrhelm auf dem Kopf und auch sonst ganz rot vor Freude bespricht Willi Winkler die 40 Jahre verspätete Veröffentlichung der Aufnahmesessions des Beach-Boys-Albums "Smile", das seinerzeit Brian Wilson, mit dem sich Alexander Menden im Interconti auf ein Gespräch getroffen hat, mit viel LSD in den Wahnsinn getrieben hatte. Als Zeuge der Geburt der Musik wähnte sich Volker Breidecker beim Konzert des Jazzmusikers Dino Saluzzi in Heidelberg.

Besprochen werden Jurate Vansks Interpretation von Dvoraks "Rusalka" am Theater Basel, Florian Fiedlers Inszenierung von "Die Nibelungen" am Schauspiel Hannover, der Film "Hotel Lux" und Bücher, darunter ein Band mit Erzählungen von Monique Schwitter (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 28.10.2011

Niklas Maak resümiert ganzseitig den Prozess um Wolfgang Beltracchis Kunstfälschereien (daneben der Abdruck eines "echten Beltracchis" aus der Untersuchungshaft) und den Weg des Fälschers: "Der Künstler, der als Wolfgang Fischer-Beltracchi abgelehnt wurde, verkleidet sich also als Max Ernst, als Derain - und wird geliebt und trickst ein System aus, das in der Öffentlichkeit ohnehin keinen guten Ruf hat. Am Ende hat er mehr als zehn Millionen Euro verdient, die Weltelite der Experten und Auktionatoren düpiert und mindestens fünfundfünfzig, aber in Wirklichkeit wohl viel mehr 'Meisterwerke der Moderne' erfunden."

Weitere Artikel: Erstaunlich uninteressant geraten ist ein seitenfüllendes Gespräch zwischen Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und den CCC-Delegierten Constanze Kurz und Frank Rieger sowie Frank Schirrmacher über den "Staatstrojaner". Constanze Kurz stellt Typen und Vorgehen von Drohnen vor. Frank Lübberding sieht angesichts Hans-Olaf Henkels bei einem Vortrag in Münster geäußerte Plädoyer für einen "Nordeuro ohne Frankreich" "historische Dämonen" auferstehen. Lorenz Jäger bringt einige Hintergründe zur Ausladung des offenbar recht kernigen israelischen Militärhistorikers Martin van Creveld an der Universität Trier (mehr). Jan Ludwig und Melanie Mühl haben zugeschaut, wie @peteraltmaier bei einer Veranstaltung im Berliner "BASE_camp" seine Twitter-Timeline gecheckt hat. Manfred Lindinger ruft dem Informatikpioneer John McCarthy nach.

Besprochen werden der Dokumentarfilm "Over Your Cities Grass Will Grow", Christian Dietrich Grabbes Tragödie "Herzog Theodor von Gothland" am Badischen Staatsschauspiel und Bücher, darunter Andrej Gelassimows Kurzroman "Durst" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).