Heute in den Feuilletons

600 Franken pro Premiere

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.12.2011. In der Welt kritisiert Necla Kelek die Studie über Zwangsehen in Deutschland.  In Zeiten der Finanzkrisen blüht regelmäßig der Antisemtismus, schreibt Micha Brumlik in der taz. Slate stellt Joseph Epstein vor, der den Klatsch als Kunstform sieht. Atlantic Monthly bringt eine Fotoserie aus der "Exclusion Zone" von Fukushima. Die FAZ fragt, warum ausgerechnet Europa im geplanten Berliner Museum der Weltkulturen ein weißer Fleck bleiben soll. Die NZZ sucht nach Spuren von Kulturjournalismus im Netz.

Welt, 06.12.2011

Die neue Studie des Familienministeriums über Zwangsehen in Deutschland setzt alles daran, den Islam aus diesem Thema herauszuhalten, stellt Necla Kelek im Forum fest. "Die Ursache für diesen wissenschaftlichen Unsinn ist bei dem wissenschaftlichen Beirat der Studie zu suchen. Die dort unter anderem versammelten Professorinnen Ursula Boos-Nüning, Birgit Rommelspacher und Gaby Straßburger und ihre Mitstreiter in den Instituten setzen seit Jahren alles daran, die 'Kulturalisierung' von Integrationsproblemen speziell auch der Heiratspraxis zu verhindern." (Mehr über den Streit um die Studie: hier Kristina Schröders Artikel in der FAZ zum Ergebnis der Studie, hier mehr zum Protest des Beirats und hier mehr zur Antwort des Familienministeriums.)

Im Feuilleton singt der Sprachwissenschaftler Karl-Heinz Göttert ein Loblied auf Dialekte im Allgemeinen (gerade ist sein Buch "Alles außer Hochdeutsch" erschienen) und die deutschen Dialekte im Besonderen, die gerade vom Türkischen schön geprägt werden: "Man hat das untersucht und festgestellt, dass türkische Jugendliche den Klang ihrer Sprache in das Deutsche hineintragen. Dieser Klang wird von den deutschen Jugendlichen mit Begeisterung als Identifikationsmerkmal aufgenommen. Das heißt, es entsteht ein neuer Dialekt, der unter Einbeziehung des Türkischen funktioniert. Und wenn sie mich fragen, ja, warum denn nicht?"

Weitere Artikel: Ulf Poschardt mokiert sich in der Glosse über Sigmar Gabriels Parteitagsrede. Marko Martin besucht die "Best Friend Library" im thailändischen Chiang Mai, die von aus Birma geflüchteten Mönchen gegründet wurde.

Besprochen werden Matthias Hartmanns Dramatisierung von Tolstois "Krieg und Frieden" am Wiener Burgtheater ("glänzend" und "fabelhaftes Ensemble", lobt Ulrich Weinzierl), John Neumeiers Choreografie "Liliom" in Hamburg ("ein fast vollkommenes, choreografisches wie musikalisches Meisterwerk", rühmt Manuel Brug und Pernilla Augusts Film "Bessere Zeiten".

TAZ, 06.12.2011

"Zeiten finanzpolitischer Krisen sind - jedenfalls in christlich geprägten Gesellschaften - seit jeher Zeiten der Judenfeindschaft", weiß Micha Brumlik, der schließlich Proudhon, Marx und Toussenel gelesen hat: "Im soeben vom Innenministerium herausgegebenen Bericht über 'Antisemitismus in Deutschland' kann man nachlesen, dass 22 Prozent der befragten Deutschen der Aussage zustimmen, dass Juden zu viel Macht an den internationalen Finanzmärkten haben. Toussenels Buch über die Juden als 'Könige der Epoche' hatte den Untertitel: 'Eine Geschichte des Finanzfeudalismus'."

Weiteres: Julian Weber berichtet vom "Trans Musicales" in Rennes, wohl das einzige Rockfestival in der Welt, zu dessen Konzerten Austern geschlürft werden. Als heißestes Ding aus Angola preist Elise Graton Kuduro an, zu dem man angeblich tanzen soll, indem man die Pobacken "frenetisch" zusammenkneift. Rudolf Walther hat bei den Römerberggesprächen eine Diskussion von Heinz Bude, Werner Plumpe und Claus Leggewie zur Finanz- und Schuldenkrise verfolgt.

Besprochen werden Schorsch Kameruns Kölner Konzert "Der entkommene Aufstand" und Javier Marquez Sanchez' Romandebüt "Das Fest des Monsieur Orphee" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

FR/Berliner, 06.12.2011

Der Autor und Kinderpsychologe Jakob Hein gibt gestressten Eltern humoristisch gemeinte Tipps, wie sie die Gier der Kinder nach Weihnachtsgeschenken dämpfen können.

Besprochen werden Verdis "Otello" in Frankfurt und John Neumeiers Ballett "Liliom" in Hamburg.

Weitere Medien, 06.12.2011

Artforum bringt in der aktuellen Ausgabe die obligatorischen Jahresabschlusslisten. Wie in jedem Jahr ist auch in diesem wieder die Filmbestenliste schon wegen John Waters' Top-10 absolute Pflicht - und sei es nur wegen seiner Einschätzung von Terrence Malicks' "Tree of Life": "You'd think I'd hate this film, and I almost did-until I realized it's the best New Age, heterosexual, Christian movie of the year."

Streunende Hunde in einer ausgestorbenen Stadt. Atlantic Monthly bringt eine Serie mit Fotos aus der "Exclusion Zone" um das havarierte Atomkraftwerk Fukushima.

Isaac Chotiner stellt in Slate das Buch "Gossip - The Untrivial Pursuit" des konservativen Publizisten Joseph Epstein vor, der den Klatsch verteidigt: "Epstein is particularly admiring of those gossip hounds of old, from the Duke of Saint-Simon and Hugh Trevor-Roper, to Nancy Mitford and Evelyn Waugh, who raised the practice to what he calls an 'art form.' (...) Epstein finds these stories irresistible, as he phrases it, 'A man or woman without any interest in gossip may be impressive in his or her restraint, but also wanting in curiosity, uninterested in the variousness of human nature, dead to the wildly abundant oddity of life, and thereby, in some central way, deficient.'

NZZ, 06.12.2011

Auf der Medienseite schildern Philipp Ramer und Claudio Steiger, wie schwierig sich Kulturjournalismus im Internet gestaltet. Nach dem Vorbild der Nachtkritik hat sich jetzt in der Schweiz das Portal Theaterkritik.ch gegründet, allerdings mit einem originellen Geschäftsmodell: "Anders als sonst üblich werden die zu besprechenden Premieren nicht von einer Redaktion ausgewählt, sondern Veranstalter und Theatergruppen können Rezensionen eigener Inszenierungen gegen Bezahlung in Auftrag geben. Für einen Betrag von 600 Franken pro Premiere wird die Vorstellung von zwei Theaterkritikern besprochen."

Im Feuilleton erzählt Andrea Köhler, wie die Familie des großen Betrügers Bernard Madoff versucht, ihre Geschichte zu vermarkten, ohne dafür ihre Gläubiger beteiligen zu müssen. Besprochen werden Milo Raus Reenactment zum Völkermord in Ruanda "Hate Radio" am Berliner Hebbel am Ufer, eine Ausstellung zum kalifornischen Design "Living in a Modern Way", Mansura Eseddins Roman "Hinter dem Paradies", Marc Weitzmanns Roman "Mischehe" und Wolfgang Ullrichs Kritik am Kunstbetrieb "An die Kunst glauben".

FAZ, 06.12.2011

Andreas Kilb besucht die neue Dauerausstellung des Berliner Museums europäischer Kulturen, ist etwas unzufrieden mit der offenbar ahistorisch wirkenden Präsentation und schweift weiter zum künftigen Inhalt des wiederaufzubauenden Berliner Stadtschlosses: "Bezeichnenderweise fehlt auf der Weltkulturenkarte des Humboldt-Forums die europäische Ethnografie. Europa soll als Heimat der Sammler, Händler und Kolonisatoren präsentiert werden, nicht als Sammlungsgegenstand. Je länger man über diese Idee nachdenkt, desto absurder erscheint sie. Was soll man mit einem Kulturglobus anfangen, auf dem Europa als weißer Fleck auftaucht?"

Weitere Artikel: Jürg Altwegg berichtet vom Einsatz antideutscher Ressentiments im französischen Präsidentschaftswahlkampf. Felicitas von Lovenberg erzählt, dass manche Verlage (eta Rogner & Bernhard) anfangen, Bücher im Doppelpack zu verkaufen: Wer das physische Buch nimmt, kriegt das Ebook dazu. Auf der Medienseite erinnert Claudia Bröll an die südafrikanische Zeitschrft Drum, die half,das Apartheid-Regime zu unterminieren. Und Detlef Borchers geht Enthüllungen von Wikileaks zu Softwarefirmen nach, die Regierungen und andere Kunden mit Programmen zum Ausspionieren der Bürger versorgen.

Besprochen werden eine Dramatisierung von Tolstois "Krieg und Frieden" durch Matthias Hartmann in Wien, Verdis "Otello" in der Regie von Johannes Erath in Frankfurt, eine Ausstellung des Architekten und Designers Carlo Mollino im Müchner Haus der Kunst und John Neumeiers neues Ballett "Liliom" in Hamburg.

SZ, 06.12.2011

Sichtlich angewidert ätzt Johan Schloemann wider Guttenbergs "Demutsrhetorik" der letzten Tage. Andreas Zielcke hält nicht viel von der momentanen Rhetorik des Sach- und Zugzwangs, in dem sich die Eurostaaten angesichts der gegenwärtigen Finanzlage wähnen. Harald Eggebrecht feiert das Arcanto Quartett bei deren Münchner Debüt am Prinzregentheater mit stehenden Ovationen. Gerhard Matzig berichtet von den diesjährigen Römerbergesprächen, wo er Zeuge wurde einer "auch und gerade in ihrer Widersprüchlichkeit anregende(n) Abfolge von Thesen und Beobachtungen zur 'neuen Lust an der Einmischung'". Beim Rundgang durch das bald wieder eröffnende irakische Nationalmuseum hat Sonja Zekri echte "Schätze" gesehen. Astrid Mania gratuliert dem Künstler Bruce Nauman zum 70. Geburtstag, Camilo Jimenez  dem spanischen Verlag Seix Barral zum hundertjährigen Bestehen.

Im Medienteil finden wir einen Überblick von Marian Brehmer über die Medienlandschaft Afghanistans.

Besprochen werden Matthias Hartmanns Inszenierung von "Krieg und Frieden" am Wiener Burgtheater ("ein meisterliches Spektakel", freut sich Helmut Schödel), John Neumeiers und Michel Legrands Ballett "Liliom" an der Hamburgischen Staatsoper und Bücher, darunter Nicole Nottelmanns Doppelbiografie über das Verhältnis zwischen Greta Garbo und deren enge Freundin Salka Viertel (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).