Heute in den Feuilletons

Europäischer Glamour

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.12.2011. In seiner in der FR abgedruckten Hannah-Arendt-Preisrede präsentiert Navid Kermani eine Perspektive für Europa: Aufnahme der arabischen Länder in den Binnenmarkt. In der FAZ hofft Hamed Abdel-Samad, dass sich die ägyptischen Islamisten in der selbstgestellten Demokratiefalle verheddern. In der SZ plädiert Gert G. Wagner vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung für weiteres Schuldenmachen. In der Welt träumt Rem Kohlhaas vom starken Staat - aber nur um einer guten Architektur willen.

FR/Berliner, 05.12.2011

Die FR druckt (gekürzt) die Dankesrede Navid Kermanis zur Verleihung des Hannah-Arendt-Preises. Kermani kritisiert zu Beginn unter Rückgriff auf Arendt den Begriff der Integration und kommt dann auf den arabischen Frühling zu sprechen. Nicht die Aufklärung der Araber über ihre Rechte solle dabei für Europa im Vordergrund stehen, "sondern handfeste Beiträge zum Abbau der Massenarmut, also etwa die Aufhebung von Zöllen, das Ende subventionierter Agrarexporte, die die lokale Landwirtschaft zerstören, die Entwicklung der Infrastruktur, von Strom, Wasser, Energie, Bildung, natürlich auch Wirtschaftshilfen und eher kurz- als mittelfristig die Integration in den europäischen Binnenmarkt." (Hier die ungekürzte Rede als pdf).

Aus den Blogs, 05.12.2011

Rue89 macht ein Quiz: Wer verabscheut Deutschland am kenntnisreichsten? Intro: "Ach, l'Allemagne: seine Currywurst, seine übercoiffierten Rockgruppen... und seine verdammte solide Statur auf den Finanzmärkten. Man verabscheut es fast gerne. Falls Sie auch vom Klassenbesten im Euro besessen sind, dann machen Sie möglichst wenige Fehler (und ärgern sich am Ende noch mehr)." Beispiel für eine Quiz-Frage: "An welchem Tag feiert man die deutsch-franzöische Freundschaft: am 22. Januar, am 8. Mai, am 25. Juni?"

Heute ist zwar Montag, aber hier ein Trost: die Zeit vergeht.




Welt, 05.12.2011

Rem Koolhaas zeigt sich im Interview fasziniert von den japanischen Metabolisten, einer Architekturbewegung aus den Sechzigern, die ihre avantgardistischen Ideen in der tabula-rasa-Nachkriegszeit verwirklichen konnte. Dazu brauchte es allerdings einen dirigistischen, "starken Staat", gibt Koolhaas zu: "Es klingt zunächst schockierend, aber es trifft tatsächlich zu. Architektur kann nicht alleine existieren, sie muss finanziert werden. Wenn der Staat einen nicht unterstützt, bleiben vielleicht individuelle Mäzene, aber dort gibt es immer eine Art Privatinteresse, das der Staat nicht notwendigerweise hat."

Weitere Artikel: Hanns-Georg Rodek berichtet über die Verleihung der Europäischen Filmpreise am Samstag abend. Paul Jandl schlägt ein wirklich orgininelles Weihnachtsgeschenk vor: Ein "mit Mimenschweiß getränktes" Brett aus dem Bühnenboden des Wiener Burgtheaters, handsigniert von Matthias Hartmann, kostet 480 Euro. Michael Stürmer sieht die Widersprüche zwischen Frankreich und Deutschland durch Sarkozy und Merkel noch verstärkt. Eine Meldung informiert uns über einen Kunstfälscherskandal in New York (mehr dazu in der NYT).

Besprochen werden Amy Winehouses letzte CD, der Fotozyklus "Manitoba" im Frankfurter Museum für Moderne Kunst, Roland Schimmelpfennigs Inszenierung des "Hamlet" in Frankfurt und eine "Turandot" in der Inszenierung von La Fura dels Baus in München.

NZZ, 05.12.2011

Roman Bucheli ist mit der Stiftung Pro Helvetia durch China gereist und hat dort die Übersetzer und Studenten der Schweizer Literatur getroffen: "Ein Student arbeitet über Frischs 'Homo Faber' und erkundigt sich, wie weit die darin dargestellten Zweifel an der Wissenschaft und an der Existenz schlechthin ein Phänomen der Dekadenz seien."

Weiteres: Elisabeth Wellershaus berichtet von einer Tagung des Goethe-Instituts zu Kunst und Traumata: "'I'm a war child', hallt es durch den Saal, und die Stimmung ist ausgezeichnet." Besprochen werden eine Inszenierung von Puccinis "Turandot" an der Staatsoper München und eine Bühnenfassung von Preußlers "Krabat" am Theater Basel.

TAZ, 05.12.2011

Ingo Arend berichtet von einer Solidaritätslesung für Ai Weiwei in München: "Am Ende hoffte man, dass sich seine Unterstützer in der ganzen Welt nicht so unauffällig zerstreuten wie die Besucher nach einer Stunde ausspracheloser Lesung aus dem Kinosaal im Museumskeller in eine kalte Dezembernacht. Hilflos und ernüchtert schlichen alle von dannen."

Weitere Artikel: Mit den Europäischen Filmpreisen ist Cristina Nord alles in allem einverstanden, nicht aber mit der unglamourösen Inszenierung. Steffen Grimberg weiß von 1000 Abokündigungen, die die Zeit nach Giovanni di Lorenzos eilfertigem Guttenberg-Interview hinnehmen musste.

Besprochen werden die Ausstellung "Unter Bäumen" über die Deutschen und ihren Wald im Berliner DHM und Amir & Khalils Comic "Zahra's Paradise" über die grüne Revolution im Iran (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und Tom.

SZ, 05.12.2011

Den Sozialstaat trifft keine Schuld, was die Staatsverschuldung betrifft, rechnet Gert G. Wagner vom Vorstand des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung vor. Und auch eine Schuldenbremse hält er für einen sozialunverträglichen Irrweg: "Würde die Staatsschuld drastisch reduziert, wüssten viele Anleger gar nicht, wohin mit ihrem Geld. Man sollte bedenken, wer von den Staatsschulden denn überhaupt profitiert: Das sind diejenigen in den nachwachsenden Generationen, deren Eltern ein Vermögen haben, Zinsen aus Staatsanleihen bekommen und dies alles an ihre Nachkommen vererben. Insofern werden bei Kürzungen nur die vermögenslosen Schichten der künftigen Generationen wirklich belastet." (Was?)

Weitere Artikel: Alexander Menden begeht die neue, von Rem Koolhaas konzipierte Londoner Zentrale des Bankhauses Rothschild und besucht bei dieser Gelegenheit auch gleich die Ausstellung "OMA/Progress" in der Barbican Art Gallery, die mit "reichlich Einzelheiten für Koolhaas-Afficionados" aufwartet. Jörg Häntzschel informiert über einen sich in den USA abzeichnenden Kunstfälschungsskandal um Bilder von u.a. Jackson Pollock und Mark Rothko (mehr dazu in der NYT). Ein paar "kleinen Stolpersteinen und nahezu unvermeidlichen Längen" zum Trotz hat sich Anke Sterneborg bei der Verleihung des 24. Europäischen Filmpreises dank "europäischen Glamours" pudelwohl gefühlt. Joseph Hanimann fasst die französische Debatte zum Atomausstieg zusammen. Fritz Göttler bespricht neue DVD-Veröffentlichungen, darunter auch Juraj Herz' surrealen tschechischen Klassiker "Der Leichenverbrenner", dessen fiebrige Eröffnungssequenz man gesehen haben muss:



Besprochen werden die Aufführung der katalanischen Theatergruppe La Fura dels Baus von Giacomo Puccinis "Turandot" an der Bayerischen Staatsoper, Friederike Hellers, laut Christine Dössel "sehr unbefriedigende", Inszenierung von Voltaires "Candide" am Münchner Residenztheater und Bücher, darunter eine neue Alfred-Döblin-Biografie (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 05.12.2011

Nach ersten Teilergebnissen kommen Salafisten und Muslimbrüder in den ägyptischen Wahlen auf etwa 60 Prozent. Hamed Abdel-Samad versucht angesichts dieser Perspektiven seinen Optimismus zu bewahren und könnte sich zum Beispiel vorstellen, dass sich die Islamisten in der Demokratiefalle, die sich selber stellten, verfangen: "Lösen sie sich von ihren kämpferischen Parolen und stürzen sie sich in die Tagespolitik, so müssen sie Kompromisse schließen, die sie in den Augen der Massen entzaubern werden. Beharren sie auf der islamischen Gesetzgebung, werden Touristen und Investoren verschreckt und zahllose Arbeitsplätze vernichtet."

Weitere Artikel: Niklas Maak erzählt nach Lektüre eines New York Times-Artikels über den neuesten Fälscherfall in der Kunstszene - diesmal geht es um erfundene Meisterwerke abstrakter Expressionisten, unter anderem einen falschen Pollock, der für 17 Millionen Dollar an einen Hedge-Fonds-Manager verkauft worden war (das Bild zeigt eine Pollock-Fälschung). Für den Aufmacher hat Neokommunist Dietmar Dath den Parteitag der Piraten besucht und konstatiert nach Erörterung der wichtigen Frage, ob diese nun "links oder rechts" seien, einen "sachten Linksdrall". Andreas Kilb berichtet auffällig kurz von der Verleihung der Europäischen Filmpreise. Und Elisabeth Richter erinnert an den Pianisten Wladislaw Szpilman, dessen Geschichte durch einen Film Polanskis berühmt wurde und der in diesem Tagen hundert Jahre alt geworden wäre.

Besprochen werden ein Konzert der Gruppe Erdmöbel in Frankfurt, und ein "Hamlet" ebendort.