Heute in den Feuilletons

Tendenz zur Selbstzerfleischung

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.04.2012. Vor der Verleihung der Deutschen Filmpreise heute Abend bereitet der Zustand der Branche weiter große Sorge: Die SZ sieht schon Anzeichen von Gremiendenken bei den Kreativen. Viel Politkitsch und begriffliche Schludrigkeit entdeckt die FAZ auf der Berlin-Biennale. Die NZZ kann im französischen Wahlkampf keinen Mangel an Ideen erkennen, die meisten sind nur leider recht unschön. Dafür haben Franzosen wenigstens eine Vorstellung vom Internet, tröstet sich die taz.

NZZ, 27.04.2012

Jürgen Ritte wundert sich, dass sich die französischen Intellektuellen aus dem Präsidentschaftswahlkampf weitgehend heraushalten. Höchstens die Rückständigkeit der politischen Visionen und der Mangel an Ideen werde gelegentlich kritisiert. Dabei, findet Ritte, sei es doch gerade die Aufgabe der Intellektuellen, Ideen zu produzieren. Außerdem könne von einer Absenz von Ideen eigentlich keine Rede sein: "Die Ideen, jedenfalls Ideologien, sind da. Sie sind nationalistisch, xenophob, reaktionär. Und sie mobilisieren fast ein Fünftel des Stimmvolks, das jetzt umworben sein will. Was fehlt, sind die Gegenentwürfe, Visionen und Perspektiven."

Weitere Artikel: Der serbische Schriftsteller Bora Cosic beklagt, dass die Meisterwerke der europäischen Kunst nur noch als gestohlene Ware nach Serbien kommen. Joachim Güntner beleuchtet die prekäre Situation der deutschen Kultureinrichtungen im Allgemeinen und der Kölner Oper im Besonderen, Sieglinde Geisel berichtet über die drohende Insolvenz des Berliner Grips-Theaters.

Besprochen werden außerdem die Oper "Hamlet" des vergessenen Komponisten Ambroise Thomas in Wien, die soeben gestartete Berlin-Biennale und zwei neue Alben von Pop-Tausendsassa Damon Albarn.

Welt, 27.04.2012

Am Urheberrecht darf auch im Internet nicht gerüttelt werden, das könnte sonst die schlimmsten Folgen haben, meinen der Verleger Jo Lendle (hier), der Filmproduzent Martin Moskowicz (hier), der Autor Fred Breinersdorfer (hier), der Komponist Wolfgang Rihm (hier) und der Autor Norbert Zähringer (hier). Nur der Musikmanager Tim Renner sieht im Internet eine neue Chance für Urheber, man muss sie nur nutzen: "Man darf das Geschäft im Internet nicht Kriminellen überlassen! Stattdessen muss man Angebote schaffen, die mindestens so gut sind wie die der vermeintlichen 'Piraten' - und die Erlöse daraus fair verteilen."

Weitere Artikel: Viel Kapitalismuskritik mit der "politischen Sprengkraft einer Knallerbse" und wenig Kunst findet Tim Ackermann bei der Berlin-Biennale. Marc Reichwein widmet sich in seiner Feuilleton-Kolumne dem Freibeuter. Igal Avidan besucht den Schauspieler Amir Orian, der in einem kleinen Theater in Tel Aviv Hitler spielt. In der Leitglosse amüsiert sich Julia Smirnova über den Auftritt Putins und Berlusconis im neuen Stück von Dario Fo. Stefan Koldehoff berichtet weitere Einzelheiten über den Hintergrund der wiedergefundenen Cezanne-Gemälde, die 2008 in der Schweiz gestohlen worden waren. Jan Küveler berichtet von einem Gespräch Mathias Döpfners mit Martin Walser im Springer Verlag, bei dem Walser sich zu keinem Thema von Interesse (Grass, Israel, Springer) äußern wollte.

Im Forum abgedruckt ist ein Brief an die Bischöfe, in dem Benedikt XVI. eine ziselierte Erklärung dafür liefert, warum Jesus "für viele" und nicht "für alle" gestorben ist.

Besprochen werden Sidi Larbi Cherkaouis Choreografie über den Mangakünstler Osamu Tezuka in Wolfsburg und eine Aufführung von Händels Barockoper "Orlando" mit Bejun Mehta und René Jacobs.

TAZ, 27.04.2012

Steffen Grimberg zeigt am Beispiel Frankreich, dass sich Öffentlich-Rechtliche Fernsehsender nicht zwangsläufig in kleinlichen Scharmützeln mit Print- und Onlinemedien verlieren müssen: "Danach ist Arte France - wie in Großbritannien die BBC - vom Staat ausdrücklich aufgefordert, neue digitale Angebote auszubauen und damit bestimmte Nutzerzahlen zu erreichen."

Man brauche Humor, um Lester Bangs zu verstehen, meint Klaus Walter in seiner Würdigung des vor 30 Jahren gestorbenen amerikanischen Rockkritikers. "So genau, zweifelnd und skrupulös schreibt heute keiner mehr. Auch weil es keine Orte gibt, wo sich einer wie Bangs austoben könnte. Ein Berserkermoralist mit todsicherem Radar für Doppelmoral. So einer musste wohl früh sterben."

Besprochen wird eine Ausstellung der Serie "Subway" des amerikanischen Fotografen Bruce Davidson im Berliner C/O, und dem neuen Album "Xenophonie" der Alt-Punk-Gruppe Fehlfarben ("Es geht voran") wird eine Wucht und Dringlichkeit bescheinigt, die die Gruppe seit ihrem stilbildenden Debütalbum nicht mehr erreicht habe.

Und Tom.

FR/Berliner, 27.04.2012

Heute werden die Deutschen Filmpreise vergeben, Daniel Kothenschulte stellt sich zwar hinter Dominik Grafs Forderung aus der gestrigen Zeit nach mehr Sinnlichkeit und Spaß im deutschen Kino, möchte aber klarstellen, dass dies nicht mehr Roland Emmerich bedeutet.

Weiteres: Sebastian Moll konnte offenbar noch einen Blick in die Fotogalerie werfen, in der die Stadt New York 870.000 Fotos aus ihrem Stadtarchiv online stellte. Inzwischen sind die die Server jedoch zusammengebrochen. Joachim Frank überlegt, ob die autoritäre Straffung der katholischen Liturgie durch Papst Benedikt XVI. für viele oder für alle ein Ärgernis sein sollte.

Jonas Rest beleuchtet auf der Medienseite Vor- und Nachteile des neuen Google-Dienstes Drive, mit dem man seine Dateien wie bei der Dropbox in der Wolke, also nicht auf dem eigenen Rechner speichern kann: "Ein Sprecher erläuterte der FR, die Dateien würden derzeit nicht zu Werbezwecken analysiert und dies sei auch nicht in Zukunft beabsichtigt. Allerdings: Die Geschäftsbedingungen schließen dies auch nicht aus."

SZ, 27.04.2012

"Eine fatale Tendenz zur Selbstzerfleischung" macht Tobias Kniebe im Vorfeld des Deutschen Filmpreises aus, der heute Abend verliehen wird. Neben der Tatsache, dass Nina Hoss von ihren Zunftkollegen für ihre Leistung in "Barbara" nicht nominiert wurde, findert er an der branchenintern organisierten Verteilung von Steuergeldern auch die Verschmähung des Populären skandalös. Sein Verdacht: "So sehr man als Filmemacher vielleicht einen Kollegen respektiert, so schwer fällt es zu akzeptieren, dass irgendwer ihm gerade ein dickes Stück vom Kuchen zuteilt, während man selbst wieder leer ausgeht. Man kann es kaum anders sagen: die Logik des kleinlich berechnenden Gremiendenkens hat sich mit den Jahren in die Herzen der Kreativen selbst eingeschlichen."

Weitere Artikel: Catrin Lorch will die Berlin Biennale zwar nicht empfehlen, muss aber "konstatieren, dass es Artur Zmijewski gelungen ist, das Verhältnis zwischen Kunst und Gesellschaft neu zusammenzuzwingen". Julian Hans berichtet, wie sich die Kirche in Russland, einstmals Verbündete von Bürgerrechtlern und Intellektuellen im Kampf gegen den Sozialismus, durch elitären Gestus (und mangelhafte Photoshop-Bearbeitungen) "Hohn und Spott" der Kritik auf sich zieht. "Kraftvoll und intelligent" umgesetzt findet Björn Hayer den Themenschwerpunkt "Afrika - in weiter Ferne so nah" am Theater Konstanz. Alexander Menden unterhält sich mit Ruth Mackenzie, der Leiterin der Kultur-Olympiade in London. Michael Struck-Schloen informiert über Finanzierungsprobleme der "Wittener Tage für neue Kammermusik". Beim Münchner Konzert des Pianisten Tzimon Barto fühlt sich Helmut Mauró rein äußerlich an Arnold Schwarzenegger erinnert. Willi Winkler gratuliert Anouk Aimée zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden der Kinofilm "UFO in Her Eyes", das neue Album von Norah Jones (hier in voller Länge zum Anhören), eine Nietzsche-Biografie in Comicform von Michel Onfray und Bücher, darunter eine neue Ausgabe von Thomas von Aquins "Quaestionen" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 27.04.2012

Von einer "teils erstaunlich tiefsitzenden Dummheit geprägt" sei die diesjährige von Artur Zmijewski kuratierte Berlin-Biennale, ärgert sich Niklas Maak, der sich nicht nur an der begrifflichen Schludrigkeit herumstammelnder Occupy-Gäste stört, sondern auch am "Politkitsch", der die Veranstaltung "im Gemisch mit einem unscharf argumentierenden Zynismus" durchziehe: "Israel erscheint in dieser Biennale vor allem als Problem: in Zmijewskis Worten zu Grass, in den Aktionen zur 'Verteidigung palästinensischer Ansprüche', wie er das nennt. ... Das Occupy-Plakat, auf dem bekundet wird, man sei unter anderem auch gegen Antisemitismus, wirkt wie ein Pfeifen in einem sehr dunklen Wald."

Weiteres: Melanie Mühl porträtiert die für den Vorsitz der Piratenpartei kandidierende Julia Schramm als wankelmütige Persönlichkeit mit Vorliebe für den Edit-Button. Michael Martens begeht das gerade eröffnete "Museum der Unschuld" in Istanbul, das dem aus Orhan Pamuks gleichnamigen Roman nachempfunden ist. Oliver Tolmein kommentiert das (online leider noch nicht zu findende) Gutachten des Ethikrats zum Umgang mit dementen Menschen. Dass Jesu Blut nach Josef Ratzingers Initiative nun nicht mehr "für alle", sondern "für viele" fließe, ist als adäquate Annäherung an den Bibelwortlaut zu verstehen, argumentiert Christian Geyer.

Besprochen werden der Kinofilm "UFO in Her Eyes" und Bücher, darunter Alan Pauls Roma "Geschichte der Haare" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).