Heute in den Feuilletons

Wer sich nicht ruiniert, aus dem wird nichts

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.06.2012. Der Spiegel vergreift sich bei seiner Kritik an Obama im Ton und Deutschland ist bloß neidisch auf die USA, findet Hans Ulrich Gumbrecht in der Welt. Die taz beschreibt neue Verlagsexperimente zur Verbindung von Print und Elektronik. In der SZ wird der Gesetzesentwurf für das Leistungsschutzrecht vorgestellt, und der Jurist Till Kreutzer warnt vor der Kriminalisierung von Kommunikation. Die FAZ räumt den Protesten gegen Putin keine Erfolgsaussichten ein. 

Welt, 15.06.2012

Thomas Schmid erläutert im Essay, das scheinbar demokratische Transparenzdogma der Piratenpartei sei tatsächlich ein Mittel der der "Tyrannei": "Vom Gebot der Transparenz geht auch etwas Nötigendes aus. Wer die Transparenz verabsolutiert, macht sich alle die, die dem nicht gerecht werden können oder wollen, virtuell untertan. Sie sind als Wesen, die etwas zu verbergen haben, defizient, mangelhaft."

Im Feuilleton mokiert sich der Literaturwissenschaftler und Wahlamerikaner Hans Ulrich Gumbrecht über die Überheblichkeit und Missgunst, die seines Erachtens im Spiegel-Artikel über "Obamas missglückte Präsidentschaft" zum Ausdruck kommen: "Könnte genau hier der Grund für soviel Missgunst liegen - in der Ahnung, dass die Vereinigten Staaten, deren Bürger unsere Gegenwart tatsächlich als Zeit einer tiefen Krise erleben, zugleich mit Silicon Valley über die stärksten Zukunfts-Optionen verfügen? Der für das Ausleben der Missgunst längst gezahlte Preis ist hoch. Sie hat eine transatlantische Sympathie und Solidarität versauern lassen, der vor allem Deutschland seinen Aufstieg nach dem Tiefstpunkt des Zweiten Weltkriegs verdankte."

Mit der Neuauflage der TV-Serie "Dallas" versuchen die USA den Gegner im war on terror zu demoralisieren, vermutet Hannes Stein - im Kalten Krieg habe das ja auch schon funktioniert. Bei Christoph Marthalers Inszenierung von Horvaths "Glaube, Liebe, Hoffnung" bei den Wiener Festwochen erlebt Ulrich Weinzierl "eine herbe Enttäuschung. Marthaler inszeniert nicht mehr das Original, er inszeniert Marthaler, dessen oft großartige Manierismen."

TAZ, 15.06.2012

"Buch und E-Book sind jetzt Freunde" - entlang des programmatischen Mottos des Verlags Haffmans & Tolkemitt, der seine Publikationen als Buch-E-Book-Kombination anbietet, beschreibt Catarina von Wedemeyer neue Verlagsexperimente zur Verbindung von Print und Elektronik. "'Wer sich nicht ruiniert, aus dem wird nichts', hat sich Haffmans & Tolkemitt auf seine digitalen Fahnen geschrieben und zitiert damit Peter Rühmkorf. Das Motto scheint zu funktionieren, denn der in dieser Form erst seit April 2011 existierende Verlag macht gute Erfahrungen mit dem Angebot."

Mitmachen oder boykottieren?, fragt sich Ingo Arend zum Auftakt des Projekts BMW Guggenheim Lab in Berlin, das die Berliner zur Gestaltung ihrer Stadt bewegen will. "Schwer zu sagen, ob die rund sechswöchige Arbeit den Berlinern mehr bringen wird als den erwarteten Zuwachs an Street-Credibility für den Nobel-Sponsor." Elise Graton porträtiert die in Berlin lebende australische Musikerin Justine Electra, die an einem neuen Album arbeitet. "Geht's noch, Mainzelleutchen?" fragt Rene Martens auf der Mediensseite süffisant anlässlich der Aufforderung, Äußerungen von ZDFneo-Senderchefin Simone Emmelius aus einem Pressegespräch "vor dem Druck mit der Pressestelle 'abzugleichen'".

Besprochen wird Christoph Marthalers Inszenierung von Horvaths "Glaube Liebe Hoffnung" bei den Wiener Festwochen.

Und Tom.

NZZ, 15.06.2012

Der Schriftsteller und Filmkritiker Wojciech Kuczok lässt eine Zugreise zur Metapher für die ewige polnische Provinz werden. "Seitdem schweige ich, und auch er [der Abteilnachbar] hat sich abgewandt und schaut auf unser Vaterland vor dem Fenster, unser Land in der B-Klasse: Er schaut auf die nie wiederaufgebauten Bruchbuden und daneben die neuen, plasticverkleideten Häuschen, er schaut auf die schmalen Straßen ohne Seitenstreifen, wo nachts im Dunkeln Menschen zu Tode kommen, auf moderne Kirchen, diese Plasticperlen der Architektur, auf die Ortsnamen, die wie ein tragikomisches Echo jener Städtenamen wirken, die wir aus dem Erdkunde-Unterricht kennen (zum Beispiel das Dorf Paris), und er schaut auf das Verkehrsschild 'Achtung: Kühe' und ist tief bewegt, denn das erinnert ihn an die Kinderferien bei der Tante, die ihm das Melken beibrachte."

Die Musikwissenschaftler Heinrich Aerni und Felix Michel erinnern an den 50. Jahrestag der "Zürcher Theaterkrise": damals war eine angesetzte Aufführung von Beethovens Oper "Fidelio" unter der Leitung von Otto Klemperer nach einem Zerwürfnis zwischen Orchester, Stadttheater und Klemperer kurzfristig abgesagt worden. Ueli Bernays porträtiert den amerikanischen Tenorsaxofonisten Mark Turner und stellt zwei Alben mit neuen Aufnahmen des Musikers vor.

SZ, 15.06.2012

Für die Medienseite hat Heribert Prantl den Gesetzesentwurf für das verlegerseits innig herbeigewünschte Leistungsschutzrecht gelesen. Was man davon erfährt, klingt eher nach kleinem Wurf: Demnach soll die "bloße Verlinkung eines Artikels" erlaubt bleiben und "auch die Zitierfreiheit gilt weiterhin; bloße Zitate können nicht verboten oder mit Lizenzgebühren belegt werden." Trotzdem hört Prantl die Verleger schon jubeln, da diese nun - was ihnen bislang auch schon möglich war - "die gewerbliche Nutzung ihrer journalistischen Beiträge im Internet untersagen oder Geld dafür verlangen" können. Der Grund für diesen Jubel liegt aber vielleicht in einem entscheidenden Detail: Die Verleger können von nun an auch ohne "Absprache mit Autoren Urheberrechtsverletzungen einklagen".

Im Feuilleton unterhält sich Bernd Graff ausführlich mit dem Rechtsanwalt Till Kreutzer, der die Anwendung tradierter Richtlinien des Urheberrechts auf die heutige Mitmach-Kultur im Netz für unangemessen hält: "Durch das weite Verständnis des Vervielfältigungsbegriffs fallen schon einfache Nutzungen, die von den Bürgern als 'privat' verstanden werden, etwa das Hochladen eines Fotos in ein Facebook-Profil, unter das Urheberrecht. ... Die Menschen tun das, was sie immer getan haben - sie kommunizieren, sie verständigen sich. Es ist darum ein Mythos, dass sich heute eine so genannte Gratismentalität eingeschlichen hat."

Weiteres: Stephan Opitz, einer der Autoren des "Kulturinfarkt"-Buchs, wünscht sich nach der Lektüre eines neuen Gutachtens über deutsche Kulturwirtschaft eine Politik zur Erhöhung der "Nachfrage nach Kunst und kulturellen Gütern" statt Besitzstandswahrung. Werner Bloch sieht nach der Ausstellung "Carthage Contemporary" im Nationalmuseum in Tunesien die Zeit gekommen, das europäische Bild Karthagos und dessen Geschichte zu überdenken. In Salzburg kämpft Intendant Alexander Pereira mit harten Bandagen um eine Etaterhöhung für die Festspiele im Jahr 2013, berichtet Reinhard Brembeck.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Bildern von Vilhelm Hammershøi in der Hypokunsthalle in München, Ödön von Horváths "Glaube Liebe Hoffnung" in der Regie von Christoph Marthaler bei den Wiener Festwochen, die derzeit im Lichthof der Humboldt-Universität in Berlin zu sehende Wanderausstellung "Praha - Prag 1900-1945", Dmitri Tcherniakovs Inszenierung von Verdis "Trovatore" am Théâtre de la Monnaie in Brüssel und Bücher, darunter Julia Angsters Studie über die Royal Navy (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 15.06.2012

Kerstin Holm zeichnet ein trostloses Bild von der momentanen Situation der Protestbewegung gegen Putin in Russland: Während das Staatsfernsehen sich über die Protestmärsche amüsiert, werden führende Köpfe der Bewegung gezielt schikaniert. Doch "die Versuche, Putins Thron zum Wackeln zu bringen, sind erfolglos, da kann auch noch so Skandalöses geschehen. ... Den Kremlmachthabern könnte nur eine Palastrevolution gefährlich werden."

Weiteres: In Peking begutachtet Mark Siemons neue Gebäude für staatliche und private Fernsehsender. Andreas Kilb berichtet von einer Diskussion über das Urheberrecht in Berlin.

Besprochen werden Christoph Marthalers Inszenierung von Ödön von Horváths "Glaube Liebe Hoffnung" bei den Wiener Festwochen, die aufwändige Hörspielbearbeitung von "Ulysses", die am morgigen "Bloomsday" auf SWR2 ausgestrahlt wird ("ein akustisches Glanzstück", urteilt Sandra Kegel), der Spielfilm "17 Mädchen", die Ausstellung "Bild-gegen-Bild" im Haus der Kunst in München, die Ausstellung "Daniel Spoerri im NHM" im Naturhistorischen Museum in Wien und Fritz Senns Buch "Noch mehr Joyce" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).