Heute in den Feuilletons

Wahnsinnig toll gezeichnet

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.10.2012. In der Welt erfahren wir, wie Peter Zadek seinen Freund Christoph Schlingensief vom Krebs befreien wollte. In der FAZ beteuert der Schriftsteller Laurent Binet, dass François Hollande gar nicht mal so langweilig sei. In der SZ feiert Willibald Sauerländer die Karlsruher Camille Corot-Ausstellung. Die taz fragt: Wie kann man die "Begegnung" mit einem Land inszenieren, das ausländische NGOs als Spione behandelt. Die NZZ nimmt Russlands "heroische Geschichtsschreibung" unter die Lupe.

NZZ, 08.10.2012

In einem Hintergrund-Artikel beschreibt der Trierer Ideenhistoriker Christian Volk, wie Russland die heroische Geschichtsschreibung pflegt. Die offizielle Erinnerungspolitik nähre allein den Mythos von einem "Land der Helden, um dessen Stärke, Ruhm und Größe es immer dann am besten bestellt war, wenn es von einer starken Persönlichkeit geführt wurde. Im Zentrum dieser Heldenerzählung steht der Sieg über Nazideutschland im Zweiten Weltkrieg. Laut der offiziellen russischen Erinnerungspolitik verdankt sich dieser Sieg einer Kombination aus Leidensfähigkeit, Kampfkraft und Gehorsam, gepaart mit der strategischen Überlegenheit der militärischen Führung."

Weiteres: Matthias Messmer schickt Eindrücke von seiner Reise durch Chinas Provinzen, in denen die immense Landflucht zur Verödung ganzer Landstriche und Kulturräume führt. Besprochen werden eine Berner Version von Max Frischs "Blaubart" und Dostojewski-Clownerien von Kristian Smeds in München.

Weitere Medien, 08.10.2012

Tim Burtons neuer Film "Frankenweenie" erzählt von einem einsamen Jungen, der seinen geliebten toten Hund ins Leben zurückholt. Die verlorene Unschuld wiederfinden - ist das nicht ein ständig wiederkehrendes Thema, fragt ihn im Observer Tim Adams: "'People say I am stuck in childhood,' he says, 'but it's not that. I remember seeing a Matisse retrospective, and you could see he started out one way, and then he tried something different, and then he seemed to spend his whole life trying to get back to the first thing. The surprise. It's something like the fact that you only get to see the strangeness of life once, in a truly fresh way. I think the films are sometimes a kind of symbol for that.'"
Stichwörter: Burton, Tim

TAZ, 08.10.2012

Kopfschüttelnd besichtigt auch Barbara Kerneck die naive Großschau "Russen und Deutsche" und erinnert die Herolde der bilateralen Begegnung daran, dass Schirmherr Putin gerade das Gesetz durchgesetzt hat, das internationale NGOs als "Auslandsagenten" einstuft.

Weiteres: Ingo Arend meldet, dass Peking eine neue Runde von Schikanen gegen Ai Weiwei eingeläutet hat: "Dieser Tage haben die chinesischen Behörden angekündigt, Ais Firma Bejing Fake Cultural Development die Zulassung zu entziehen." Tim Caspar Böhme lernt mit dem neuen Heft des Merkurs, wie die Experten dem Kapitalismus die Demokratie austreiben sollen. Besprochen werden zwei Afrika-Ausstellungen im Essener Museum Folkwang, Kristian Smeds Bühnenfassung von Dostojewskis "Schuld und Sühne".

Und Tom.

Welt, 08.10.2012

Matthias Heine liest die aus nachgelassenen Fagmenten zusammengestellten Memoiren Christoph Schlingensiefs. Unter anderem erinnert er sich daran , wie Peter Zadek sich nach seinem Befinden erkundigte, als er im Krankenhaus lag: "'Mir geht's scheiße.' 'Wirklich? Was hast du denn?' 'Ich hab Krebs, Lungenkrebs.' 'Ja, das ist scheiße. Das ist echt scheiße. Du ich schick dir ein Buch, das wird dich befreien, die Elisabeth steckt dir das gleich in die Post.' Drei Tage später bekam Schlingensief einen Pornocomic - statt Blumen: 'Wahnsinnig toll gezeichnet, aber nur ficken, lecken, blasen, alles auf dem Rasen.'"

Weitere Artikel: Nina Tretmann erzählt, dass das Viertel der jüdischen Emigranten in Schanghai restauriert werden soll. Gemeldet wird, dass die Lage im Schlosspark-Theater nach Dirk Bachs Tod prekär ist (hier) und dass sich Liao Yiwu im Focus empört über Helmut Schmidts Verteidigung des Massakers am Platz des Himmlischen Friedens geäußert hat.

Besprochen werden ein Konzert von Noel Gallagher in Düsseldorf, eine Dramatisierung von "Schuld und Sühne" in der Regie Kristian Smeds an den Münchner Kammerspielen, eine Ausstellung über das Bild des fahrenden Volks in der Kunst des 19. Jahrhunderts im Pariser Grand Palais, und die Staats-und-Kunst-Schau über Deutsch- und Russland in Berlin.

Aus den Blogs, 08.10.2012

Bisschen Musik zum Montagmorgen nötig? Blogger Swen hat einen bunten Strauß aktueller Alben- und Mixstreams zusammengestellt. Und In Focus stimmt unterdessen auf den Herbst ein.

(Via Roger Ebert) Pünktlich zum Montag macht Max X (mehr hier) einige Vorschläge zur Verbesserung der innerbetrieblichen Kommunikation:



(via open culture) Domenico Vicinanza, Komponist und Physiker, hat die Daten des Higgs Boson in Noten transponiert und dann daraus ein Stück komponiert. In PRI's The World erklärt er genauer, wie er vorgegangen ist: "In order to take a subatomic particle like the Higgs Boson and convert it into a melody, to notes, what we do is basically take the data and associate with each one of the numeric values a single note on a score. Melody is following basically exactly the same behavior the scientific data is showing. So when the piano starts playing, you can hear some really really high pitched notes…. They are the signature of the Higgs Boson melody and they are corresponding to a peak in the scientific draft research has shown at CERN." Hier eine Hörprobe:


Stichwörter: Musik, Piano

FAZ, 08.10.2012

Der französische Präsident François Hollande ist keineswegs so langweilig und schwach wie er der Öffentlichkeit erscheint, behauptet im Interview der Schriftsteller Laurent Binet, der Hollande fast ein Jahr im Wahlkampf begleitete: "Hollande wirkt weniger megaloman als Sarkozy, aber ich vermute, er ist es nicht minder. In seinem politischen Kampf gegen Sarkozy gab es auch eine sehr persönliche Dimension. Das konnte man in der Fernsehdebatte zwischen den beiden Wahlgängen beobachten. Hollande wollte Sarkozy töten. Solch eine Animosität, solch eine Antipathie hatte man seit dem Duell zwischen Giscard d'Estaing und Mitterrand 1981 nicht mehr gesehen."

Weitere Artikel: Peter Gauweiler erklärt, warum er gegen das Geld drucken von EZB und amerikanischer Notenbank ist. Christian Geyer sieht die Pannen beim Verfassungsschutz trotz der Untersuchungsausschüsse nicht aufgeklärt.

Besprochen werden Stefan Herheims Inszenierung von Puccinis "Manon Lescaut" in Graz, ein Konzert der Tee trinkenden amerikanischen Songschreiberin Laura Gibson in Köln und die Ausstellung "Bücherhimmel - Bücherhöllen" im Zürcher Strauhof.

Die FAS hat außerdem einen Kanon der zwanzig angeblich besten deutschsprachigen Autoren unter vierzig zusammengestellt, die in Porträts vorgestellt werden. Katy Derbyshire mokiert sich in ihrem Blog Love German Books darüber, dass die FAS dabei auf die versehentlich in "Fourty under Twenty" umbenannte Aktion des New Yorker Bezug genommen hat. Bei Buzzaldrins sind alle Namen.

SZ, 08.10.2012

Rundum beglückt ist Willibald Sauerländer im Feuilletonaufmacher von der "behutsamen, man möchte sagen kammermusikalischen Ausstellung" in der Kunsthalle Karlsruhe mit Bildern des französischen Malers Camille Corot, die "an eine der lautersten beseelten Stimmen aus dem polyphonen Konzert der französischen Malerei von Delacroix bis Cézanne erinnert. ... Jede nach Effekten haschende Inszenierung ist vermieden. In etwa einem Dutzend Räumen von gemäßigter Größe kommen die Bilder auf weißen Wänden ungestört zum Sprechen. Es geht nicht um eine kunsthistorische Nachholstunde. Die Evokation von versunkenen Stimmungen und elegischer Poesie färben den Klang dieser Ausstellung. Über ihr liegt ein Hauch von Souvenir und Melancholie."

Weiteres: Tim Neshitov erklärt die anti-kulturimperialistischen Gründe, aus denen der aussichtsreiche Literaturnobelpreiskandidat Ngugi wa Thiong'o nicht mehr auf Englisch, sondern auf Gikuyu schreibt, "einer Sprache von acht Millionen Menschen, die einst die entscheidende Rolle im antikolonialen Krieg gegen Großbritannien gespielt hatten". Gustav Seibt schlägt vor, dass sich die Preußische Schlösserstiftung am Fortbestand des Hauses Doorn, dem nach Kulturetateinsparungen bedrohten Altersruhesitz von Kaiser Wilhelm II. in den Niederlanden, beteiligen soll. Egbert Tholl freut sich nach dem Tiroler Klangspuren-Festival, dass die aktuelle koreanische Musik nicht nach dem klingt, "was man sich im Westen als koreanische Musik vorstellt". In den "Nachrichten aus dem Netz" meldet Niklas Hofmann, dass sich Colleen Lachowicz von der Demokratischen Partei derzeit in Maine wegen ihrer "World of Warcraft"-Spieleleidenschaft Vorwürfen ausgesetzt sieht (mehr).

Besprochen werden neue DVDs (darunter hier Dominik Grafs Essayfilm "Das Wispern im Berg der Dinge") eine Ausstellung im Käthe Kollwitz Museum in Köln mit Fotografien von Lotte Jacobi, Dietrich Brüggemanns Film "3 Zimmer/Küche/Bad", Kristian Smeds "Imaginärer Sibirischer Zirkus des Rodion Raskolnikow" an den Münchner Kammerspielen und Bücher, darunter Norbert Scheuers Roman "Peehs Liebe" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).