Heute in den Feuilletons

Es gibt keinen Theatergott

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.10.2013. In Libération beklagt sich Filmregisseur Olivier Dahan bitter über die Weinsteins, die seinen Film neu geschnitten haben. Die NZZ besucht die Hutterer in Montana. Die FAZ beklagt sich über den Mangel an Anstand im Netz. In der SZ lehnt der Filmproduzent Martin Moszkowicz ein Zwangslizenzsystem für Filme im Netz ab. Die Feuilletons trauern um den Theatermacher Dimiter Gotscheff.

Tagesspiegel, 21.10.2013

"Man fällt vom Glauben ab. Es gibt keinen Theatergott", ruft Rüdiger Schaper in seinem Nachruf auf den Regisseur Dimiter Gotscheff. "Er starb in der Nacht von Samstag auf Sonntag nach kurzer, schwerer Krankheit, wie das Deutsche Theater Berlin mitteilte. Er wurde siebzig Jahre alt. Man spürt, wie die Hand zitterte, die diese Mitteilung schrieb. Dort, am DT, war er zuhause, wollte im nächsten Frühsommer Becketts 'Warten auf Godot' inszenieren. Gotscheff, Godot! Schöne Witze wären das geworden. Gotscheff liebte Witze, da war er nah bei Shakespeare. In einem Interview sagte er einmal, Heiner Müller zitierend und laut auflachend: 'Regisseure sind Penner, sie leben von den Almosen der Schauspieler. Und ich füge immer hinzu, man muss gut betteln können.'"

Hier ein Probenvideo von Gotscheffs letzter Inszenierung: "Zement" von Heiner Müller am Münchner Residenztheater:



Außerdem: Jan Schulze-Ojala sieht düstere Filme beim Filmfestival "Rakkautta ja Anarkiaa" (Liebe und Anarchie) in Helsinki.

TAZ, 21.10.2013

Klaus Walter erinnert an den Tod von Nancy Spungen vor 35 Jahren.

Besprochen werden eine Ausstellung von Robert Indiana im Whitney Museum (links Indianas "Love" von 1968), ein Konzert von Peter Gabriel und Erich Kästners Roman "Der Gang vor die Hunde" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und Tom.

Welt, 21.10.2013

Wolf Lepenies schreibt über Albert Camus' Verhältnis zu Algerien und erläutert, was Camus unter "mittelmeerischem Denken" verstand: "Die 'pensée de midi' war ein Heilmittel gegen die Nazi-Ideologie. Nichts konnte Camus, der in den Algerienfranzosen eine Melange geliebt hatte, in denen Spanier und Elsässer, Italiener, Juden und Griechen zu einer 'glücklichen Mischung' zusammengefunden hatten, fremder sein als eine Weltanschauung, die nach der Reinheit der Rasse verlangte."

Barbara Möller berichtet über einen museumskundlichen Kongress, der eine bedenkliche Leerstelle in deutschen Museen beleuchtet - den Umstand, dass es in Museen in den Neuen Ländern so gut wie keine Ausstellungen über die Nazizeit gibt. Reinhard Wengierek schreibt zum Tod von Dimiter Gottscheff. Beprochen wird ein Konzert der Toten Hosen, das sich von Nazis verfemter Musik widmete.

Weitere Medien, 21.10.2013

Olivier Dahan hat einen Film über Grace von Monaco mit Nicole Kidman in der Hauptrolle gedreht, der ihm allerdings von den Brüdern Weinstein ganz neu geschnitten wurde, worüber sich der Regisseur im Gespräch mit Libération bitterlich beschwert: "Es hat nichts mit dem Film zu tun. Es ist nur eine Geldsache, eine Frage von Millionen von Dollar, solche Sachen eben. Mit Kino hat das nichts zu tun. Aber alles mit Kino als Industrie. Sie möchten einen kommerziellen Film, in dem alles abgeschnitten wird, was übersteht, alles was zu abrupt ist - alles was Kino und das Leben ist."

NZZ, 21.10.2013

Rudolf Stumberger besucht eine Kolonie der Hutterer in Montana, eine Religionsgemeinschaft aus Tirol, die im 19. Jahrhundert in die USA geflohen und seitdem dort ansässig ist. Für ihn stellt sich angesichts der Abgeschiedenheit der Siedlung "die Frage, wie sich diese Welt aufrechterhalten lässt, umgeben von den Anfechtungen des Konsums, der Technik und des Liberalismus. Scheidung, Homosexualität oder Abtreibung sind keine Bestandteile dieser Welt, ebenso wenig wie die Anerkennung der Evolution. Ihre Grenzen sind eng, die Dinge bestimmt, und auf dem Tisch liegen Zeitschriften, deren konservatives Weltbild fest geschlossen ist."

Außerdem im Feuilleton: Marko Martin trifft den tschechischen Autor Jaroslav Rudis in Berlin, der gemeinsam mit dem Illustrator Jaromir 99 kürzlich die Graphic Novel "Alois Nebel - Leben nach Fahrplan" veröffentlicht hat, und stellt fest: "Um das Gedächtnis des Kontinents scheint es in der Tat besser bestellt zu sein als befürchtet."

Besprochen werden Herbert Fritschs Inszenierung von Dürrenmatts "Physikern" am Schauspielhaus Zürich ("Ein Affentheater! Schrill und grell, wie es das Label Fritsch verlangt", konstatiert Barbara Villiger Heilig wenig begeistert.) und eine Neuinterpretation von "Der fliegende Holländer" unter Regie von Alexander Nerlich am Theater St. Gallen.

Aus den Blogs, 21.10.2013

Der niederländische Designer Eric Klarenbeek entwickelte laut Dezeen einen mit 3-D-Drucker gefertigten Stuhl inklusive Pilzkultur.



(Via Medialdigital) David Bauer publiziert eine vorläufige Liste interessanter journalistischer Start-ups.
Stichwörter: Dezeen

FAZ, 21.10.2013

Martin Halter vergisst sich geradezu nach der Premiere von Herbert Fritschs Inszenierung von Dürrenmatts "Physiker" am Schauspielhaus Zürich, wobei er ja schon den Stoff reichlich durchgekaut findet. Doch: "Wenn einer den 'Physikern' noch Beine machen kann, dann Herbert Fritsch, der Leitende Irrenarzt am Krankenbett des deutschen Literatur- und Kopftheaters. Sätze wie 'Nur im Irrenhaus dürfen wir noch denken' sind wie gemacht für den Vater der intelligenten Klamotte: Die Austreibung des Sinns aus dem Theater - mitsamt dem 'Ungeheuer' Publikum - ist sein Geschäft, die körperbetonte, delirante Vollgasblödelei sein Markenzeichen. ... [Doch] zeigt Fritsch seinem Publikum (...) keine einheitliche Feldtheorie, sondern nur seine Ätsch-Zunge."

Weitere Artikel: Edo Reents besuchte den Tourauftakt von Bob Dylan, der ihm auf der Bühne nur noch wie "ein kleines Hutzelmännchen, das an den normalen Dingen des Lebens kein Interesse mehr hat und nur noch musizieren will", erscheint. Andreas Platthaus berichtet von den Feierlichkeiten rund um den 200. Jahrestag der Leipziger Völkerschlacht. Irene Bazinger schreibt zum Tod des Regisseurs Dimiter Gotscheff.

Auf Seite 1 des politischen Teils informiert Reinhard Müller aus unklarem Anlass: "Geredet wird über das, was in der Zeitung steht. Die zahllosen Foren, Blogs oder Kommentare im weltweiten Netz sind oft lediglich Abziehbilder jener Berichte, welche die Printmedien gedruckt haben. " Und bittet um Berücksichtigung folgenden Aspekts: "Zur Unkultur des Netzes, die kaum wieder rückgängig zu machen ist, zählt auch dessen Mangel an Anstand."

Besprochen werden die Ausstellung "Einblick - Ausblick. Das Familie Frank Zentrum" im Jüdischen Museum Frankfurt und Bücher, darunter Oliver Hilmes Biografie über Ludwig II. (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

In der FAZ am Sonntag berichtet Birgitta vom Lehn, dass die Zahl der von Ärzten vorgenommenen Beschneidungen von Jungen im Vorschulalter in Deutschland stark zunimmt - obwohl es so gut wie nie eine medizinische Indikation dafür gibt. Die Kassen scheinen da nicht näher zu kontrollieren, und die Ärzte verdienen gut. Außerdem ermittelt Ralph Bollmann, wie reich die Kirchen wirklich sind.

SZ, 21.10.2013

Der Filmproduzent Martin Moszkowicz hat erhebliche Einwände gegen Fred Breinersdorfers vor kurzem in SZ geäußerten Vorschlag für eine Reform des Urheberrechts für Filme. Dass künftig Filme ohne weiteres im Netz angeboten werden dürfen, solange eine Beteiligung an den Werbeeinahmen erfolgt, hält Moszkowicz weder für praktisch umsetzbar, noch für wünschenswert. Nur ein Kritikpunkt von vielen: "Im Rahmen eines Zwangslizenzsystems müsste bei jedem Webseiten-Betreiber weiterhin der Umfang seiner Werbeerlöse kontrolliert werden (...) Dies wäre, wenn überhaupt, nur mit zusätzlicher Überwachung möglich, deren Umfang wiederum alles Bisherige in den Schatten stellt. ... Soll sich die Verteilung nach der Nutzungsintensität richten, das heißt danach, welcher Film wie häufig heruntergeladen wird? Dann müsste künftig zusätzlich das gesamte Aufkommen von Downloads im Internet überwacht und protokolliert werden."

Außerdem: Willi Winkler führt ein in die "Eschenburg-Debatte" über die Frage, ob der 1999 gestorbene Politologe Theodor Eschenburg tatsächlich, wie der Politologe Rainer Eisfeld (etwa hier) behauptet, ein "Diener des Dritten Reichs" gewesen sei. Helmut Mauró erläutert die Hintergründe zu den Forderungen der Deutschen Orchestervereinigung nach einem neuen Tarifvertrag. Franz Kotteder berichtet von einer Düsseldorfer Konzertaktion, bei der die Toten Hosen von den Nazis als "entartet" diffamierte Musik spielten. Christine Dössel schreibt den Nachruf auf den Theaterregisseur Dimiter Gotscheff.

Besprochen werden die Ausstellung "Dionysos. Rausch und Ekstase" am Bucerius Kunst Forum in Hamburg, Calixto Bieitos musikalische Lukrez-Installation "De rerum Natura" am Theater Basel und Bücher, darunter Uwe Nettelbecks postum veröffentlichter Montageroman "Maurice Wilson" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).