Vorgeblättert

Leseprobe zu Ernst Piper: Nacht über Europa. Teil 3

25.11.2013.
     Dies alles setzte Beckmann offenbar mehr zu, als seine lakonischen Beschreibungen vermuten lassen. Am 4. Mai 1915 hatte er seiner Frau geschrieben: »Meine Seele ist in wüsten Wogen.« Wenige Wochen später erlitt er einen Nervenzusammenbruch und kehrte nach Deutschland zurück. Er lebte nun in Frankfurt bei der Familie des Majors von Braunbehrens, der 1917 Beckmanns endgültige Entlassung aus dem Militärdienst erwirkte. Der Maler Ugi Battenberg überließ ihm sein Atelier. In dieser Zeit entstand ein Selbstbildnis, auf dem Beckmann kaum zu erkennen ist, man sieht einen schmalen alten Mann mit eingefallenen Wangen. Statt des gewohnten Bleistifts verwendete er eine Rohrfeder. Sie machte den Strich hart und scharf, übertrug jede Unsicherheit bei der Linienführung und gab so den Erschütterungen des Kriegserlebnisses Ausdruck. Beckmann arbeitete damals an einem monumentalen Gemälde, einer zweiten »Auferstehung«, die von der ersten »Auferstehung« des Jahres 1909 Welten entfernt war und die radikale Entwicklung deutlich werden ließ, die der Künstler durchgemacht hatte. War die frühere Version des Motivs noch stark an traditionellen Darstellungen, etwa von Peter Paul Rubens, orientiert, so ist nun aus dem steilen Hochformat ein gewaltiges Breitformat geworden, die Zentralperspektive ist einer Fragmentierung des Dargestellten gewichen. Ein Empor zum Licht gibt es nicht mehr, die Sonne ist schwarz, ein Todesstern, der nicht Erlösung, sondern Vernichtung verheißt. Das 4,97 Meter breite und 3,45 Meter hohe Bild stand wie ein Monument des künstlerischen Wandels bis 1933 im Frankfurter Atelier. Max Beckmann sah es täglich, ohne es jemals zu vollenden. Als Reinhard Piper den Maler im Mai 1917 besuchte, hatte die apokalyptische Auferstehung eine starke Wirkung auf ihn:
Oben in der Mitte schwebte die schwarze Sonne im weißen Himmel. Zu ihr blickten Gestalten auf, deren Maßstäbe bizarr wechselten. Über dem Ganzen lag ein grauer Leichenton. Schiefe Schlünde öffneten sich, in denen sich Menschen verloren. Der Boden schien zu schwanken. Die Körper waren zerrenkt oder aufgequollen, Gruppen moderner Menschen ängstlich in Winkeln zusammengedrängt, beklommen blickend. Schwebende, Kniende, Nackte oder von grellfarbigen Laken noch halb Umwickelte bewegten sich durcheinander. Dazwischen eine jaulende Katze. Die schöne Malerei war verlassen, alles war in unwirklichen Farben kartonhaft mehr gezeichnet als gemalt.

Beckmann sagte dem Besucher, er wolle noch vier ebenso große Bilder malen, und fügte hinzu: »Wilhelm II. wird ja für meine Kunst nichts übrig haben. So hoffe ich also auf eine deutsche Republik.« Tatsächlich kam dann die Republik schon im Jahr darauf, aber als Folge der Niederlage und begleitet von Bürgerkriegswirren. Beckmann reflektierte diese Ereignisse in dem Mappenwerk Die Hölle. Großes Spektakel in 10 Bildern (1919). Das Titelblatt der Mappe zeigt den Künstler als Ausrufer, der das verehrte Publikum bittet näherzutreten, um die herrschenden Zustände, Hunger und Chaos, Kriegsgewinnler und die Ermordung Rosa Luxemburgs in Augenschein zu nehmen. Das letzte Bild »Die Familie« zeigt den Künstler, seine Schwiegermutter und seinen Sohn Peter, der auf einem Spielplatz einen Stahlhelm und »Büchsen« gefunden hat, die in Wirklichkeit von heimgekehrten Soldaten weggeworfene Handgranaten sind.

Die wichtigsten Künstlergruppen des Expressionismus waren die »Brücke« und der »Blaue Reiter«. Während der erst 1912 gegründete »Blaue Reiter« ein Opfer des Krieges wurde, weil die ausländischen Künstler wie Wassily Kandinsky und Alexej von Jawlensky das Land verlassen mussten und andere wichtige Mitglieder der Gruppe wie August Macke und Franz Marc fi elen, hatte die »Brücke« sich schon 1913 aufgelöst. Bis auf Emil Nolde leisteten die Maler der 1905 in Dresden gegründeten »Brücke« alle Militärdienst. Erich Heckel war Sanitätssoldat in Flandern, wo er Max Beckmann begegnete, ebenso wie dem belgischen Expressionisten James Ensor, der in Ostende lebte. Auch Max Pechstein und Otto Mueller waren an der Westfront eingesetzt, während Fritz Bleyl und Karl Schmidt-Rottluff in Ostpreußen beziehungsweise an der deutsch-russischen Grenze zum Einsatz kamen. Ernst Ludwig Kirchner meldete sich wie so viele andere damals »unfreiwillig freiwillig« zum Militärdienst, in der Hoffnung, so Waffengattung und Einheit wählen zu können. Er kam als Rekrut zum Feldartillerie-Regiment Nr. 75 nach Halle.
     Schon nach wenigen Wochen zeigte sich, dass Kirchner den Anforderungen des Dienstes physisch und psychisch nicht gewachsen war. Er wurde bereits im September 1914 wegen »Lungenaffektion und Schwäche« beurlaubt.258 Dem Ausbildungsoffizier Hans Fehr, einem Schweizer Juristen, der der »Brücke« seit langem als passives Mitglied verbunden war, hatte Kirchner es zu verdanken, dass er unter der Auflage, sich auszukurieren, im November 1915 aus dem Dienst entlassen wurde. Mehrere Sanatoriumsaufenthalte erbrachten keine Verbesserung seines Gesundheitszustandes. Kirchner wehrte sich gegen die Heilungsversuche, weil er glaubte, sie seien sein Tod, und geriet noch mehr in die Fänge von Tablettensucht und Alkoholabhängigkeit. Seine dramatische Situation spiegelte sich in zwei berühmten Selbstbildnissen, »Der Trinker« (ursprünglich »Der Absinthtrinker«, 1915) und »Selbstbildnis als Soldat« (1915). Er malte diese Dokumente der Verzweiflung in seinem Berliner Atelier, »als Tag und Nacht die schreienden Militärzüge unter meinem Fenster vorbeifuhren «. Während der Trinker zusammengesunken auf einem Stuhl sitzt und mit glasigen Augen ins Leere schaut, ist das Gesicht des Soldaten maskenhaft erstarrt, seine Augen sind leer. Er trägt die Uniform des Feldartillerie-Regiments Nr 75. Im Vordergrund ist sein blutiger rechter Armstumpf zu sehen, die Hand ist abgehackt. Das hinter ihm stehende Modell hat sich umsonst entkleidet, er kann nicht mehr malen. Kirchner, der während seiner kurzen Ausbildung keinerlei körperliche Verletzung davongetragen hatte, brachte in diesem Selbstporträt mit bemerkenswerter Drastik seine Angstzustände zum Ausdruck. Am 28. März 1916 schrieb er an den Sammler Gustav Schiefler: »Schwerer als alles andere lastet der Druck des Krieges und die überhandnehmende Oberflächligkeit. Ich habe immer den Eindruck eines blutigen Karnevals. […] Aufgedunsen schwankt man, um zu arbeiten, wo doch jede Arbeit vergeblich und der Ansturm des Mittelmäßigen alles umreißt. Wie die Kokotten, die ich malte, ist man jetzt selbst. Hingewischt, beim nächsten Male weg. Trotzdem versuche ich immer noch Ordnung in meine Gedanken zu bringen und aus dem Verwirrenden ein Bild der Zeit zu schaffen, was ja meine Aufgabe ist.«
     Im Januar 1917 ging Kirchner erstmals nach Davos, wo er noch eine Weile mit Lähmungserscheinungen und Bewusstseinsstörungen zu kämpfen hatte. Schließlich besserte sich sein Zustand, und er ließ sich dauerhaft auf der Stafelalp nieder. Als die Nazis seine Bilder brutal aus den Museen entfernten und sein Werk als »entartete Kunst« zeigten, verdüsterte sich Kirchners Gemüt erneut. Selbstmordgedanken suchten ihn heim. Erst zerstörte er Druckstöcke seiner Grafiken und schoss auf seine Bilder, im Juli 1938 setzte er dann mit einem Schuss ins Herz seinem Leben ein Ende.

Otto Dix war ein Künstler von gänzlich anderem Naturell als Kirchner. Er meldete sich gleich bei Kriegsbeginn und wurde in Dresden, Spandau und Bautzen erst als Artillerist und dann als MG-Schütze ausgebildet. 1915 kämpfte er in der Champagne, 1916 an der Somme und 1917 an der Ostfront. Er wurde zum Feldwebel befördert und meldete sich noch kurz vor Kriegsende für eine Ausbildung zum Flieger. Ähnlich wie Ludwig Meidner hatte Otto Dix 1913 ein Gemälde geschaffen, das trotz des optimistisch klingenden Titels »Sonnenaufgang« einen apokalyptischen Charakter hatte. Inspiriert war Dix durch van Goghs »Weizenfeld mit Krähen« (1890), das er im Jahr zuvor in Dresden gesehen hatte. Auch im »Sonnenaufgang« sind auffliegende Krähen ein dominierendes Element, es gibt genau dreizehn von ihnen, diese Unglückszahl ist im Tarot dem Tod zugeordnet. Ein Weg durchschneidet die Landschaft diagonal, der nicht zu der kalt und abweisend strahlenden Sonne führt, sondern zu einem dunklen Wolkengebirge, das sich im Hintergrund aufbaut und in dem ein dämonisches Gesicht zu erkennen ist. Der »Sonnenaufgang « markiert den expressionistischen Höhepunkt im Werk von Otto Dix und verkörpert zugleich »den Vorhang zum Welttheater des Krieges, der sich demnächst öffnen wird«.
     Als der Vorhang sich dann öffnete, wollte Dix dabei sein, nicht aus Kriegsbegeisterung, sondern getrieben von dem unbändigen Willen, sich der Wildheit und Grausamkeit des Lebens rücksichtslos auszusetzen. Im Rückblick sagte er: »Der Krieg war eine scheußliche Sache, aber trotzdem etwas Gewaltiges. Das durfte ich auf keinen Fall versäumen. Man muss den Menschen in diesem entfesselten Zustand gesehen haben, um etwas über den Menschen zu wissen. […] Alle Untiefen des Lebens muss ich selbst erleben, deswegen gehe ich in den Krieg, und deswegen habe ich mich auch freiwillig gemeldet.« Hier offenbart sich auch der Einfluss von Nietzsches Lebensphilosophie, mit der Dix sich in den Jahren vor dem Krieg intensiv beschäftigt hatte. Er porträtierte den Philosophen 1911 sogar in einer heute verlorenen Büste.

     Otto Dix erlebte den Krieg so intensiv wie kaum ein anderer Künstler. Nicht als Sanitäter wie Max Beckmann, als Nachrichtenoffizier wie Willy Jaeckel, als Armierungssoldat wie Karl Schmidt-Rottluff, als Flugzeuganstreicher wie Paul Klee oder als Dolmetscher wie Hermann Struck, nicht zu reden von den vielen Künstlern und Schriftstellern, die in Kriegsarchiven, Propagandaabteilungen und Zensurbehörden überwinterten, oder Komponisten wie Arnold Schönberg, die das Glück hatten, einer Militärkapelle zugeteilt zu werden. Dix stand die ganzen Jahre an vorderster Front, er setzte sich der Realität dieses Krieges mit aller Radikalität aus. In Gefechtspausen und in den Lazaretten schrieb und zeichnete er ohne Unterlass. Auch sein Tagebuch ist ein herausragendes Dokument der Kriegswirklichkeit: »Läuse, Ratten, Drahtverhau, Flöhe, Granaten, Bomben, Höhlen, Leichen, Blut, Schnaps, Mäuse, Katzen, Gase, Kanonen, Dreck, Kugeln, Mörser, Feuer, Stahl, das ist der Krieg! Alles Teufelswerk! «

     So war dieser Krieg, so sah Dix ihn, und so stellte er ihn auch dar. 1924 publizierte er Der Krieg, einen Zyklus von fünfzig Radierungen. Zu sehen sind Verwundete, Verstümmelte, Tote, niedergebrannte Dörfer, eingestürzte Schützengräben, zerstörte Landschaften.265 Heute sind diese Radierungen das dominierende Exponat im Hauptraum des 1992 eröffneten Historial de la Grande Guerre in Péronne an der Somme, dem nationalen französischen Museum zum Ersten Weltkrieg. Die Technik der Radierung ermöglichte es Dix, seiner Chronistenpflicht minutiös nachzugehen und die verrenkten und zerrissenen Körper, die Verwundungen, die von Würmern und Maden durchsetzten Totenschädel detailgetreu wiederzugeben. Er stützte sich dabei nicht nur auf die eigene Erinnerung, sondern nahm auch Fotografien zu Hilfe und besuchte in Dresden die pathologische Abteilung des Friedrichstädter Krankenhauses, wo er sich sezierte Leichen bringen ließ.      Otto Dix war ein »Wirklichkeitsmensch«, wie er selbst es einmal formulierte. Immer wieder porträtierte er damals auch sich selbst, zuerst im »Selbstbildnis mit Artilleriehelm« (1914), dann im »Selbstbildnis als Soldat« (1914) und im »Selbstbildnis als Mars« (1915), schließlich, als der Fronteinsatz näher rückte, im »Selbstbildnis als Schießscheibe« (1915). War er in dem expressionistischen »Selbstbildnis als Soldat« noch wie ein bedrohlicher Berserker aufgetreten, sehen wir hier einen ganz gewöhnlichen Soldaten, dem die Angst ins Gesicht geschrieben steht, einen Anonymus, den die Uniform zu einem Todgeweihten macht, zu einer Zielscheibe für den Kriegsgegner. Die Kokarden an der Mütze erscheinen wie Markierungen für den tödlichen Kopfschuss. Das Bild zeigt eindrücklich, dass Dix klar war, worauf er im Begriff war sich einzulassen. Und da er das Glück hatte zu überleben, war es seine Rolle zu berichten, was er gesehen hatte. Dabei sind für ihn die Schrecken Teil der Grausamkeit des Lebens. Dix fragt nicht nach politischen Gründen oder gesellschaftlichen Verhältnissen. Entsprechende Motive, wie sie zum Beispiel in Beckmanns »Hölle« auftauchen, finden sich bei Dix nicht.
     In den Bildern von Otto Dix, mehr als in den Grafi ken, gibt es aber nicht nur Zerstörung, sondern auch vitale Dynamik, naturhafte Wucht. Jede Explosion ist auch eine Kraftentladung. Dieter Schubert hat sein Selbstbild als Mars ein »nietzschesches Bild« genannt. Matthias Eberle hat auf das vitalistisch-erotische Element in den Naturdarstellungen verwiesen, etwa in der Gestaltung der verwundeten Erde, und die von Dix gezeichneten Granattrichter mit Darstellungen des weiblichen Geschlechts verglichen.269 Immer wieder sind auch Parallelen zu Ernst Jünger gezogen worden, in dessen Werk dieses vitalistisch-erotische Element, nicht nur in seinem Essay über den Kampf als inneres Erlebnis, sehr deutlich wahrzunehmen ist. Während aber Ernst Jünger sein Kriegserlebnis zu einem heroischen Realismus verklärte, will Otto Dix die Menschen immer wieder an die Schrecken des Krieges erinnern, von denen diejenigen, die auf den Schlachtfeldern zurückgeblieben sind, nicht mehr reden können. Sein unbedingter Wille zur realistischen Darstellung, als dessen Höhepunkt sein großes, 1932 vollendetes Triptychon »Der Krieg« gelten darf, verursachte immer wieder Skandale und rief geradezu hysterische Reaktionen nicht nur bei Nationalisten und Kriegsromantikern hervor, sondern auch bei denjenigen, die wie zum Beispiel Julius Meier-Graefe den Impressionismus nach Kräften gefördert hatten, dem Expressionismus aber verständnislos gegenüberstanden. Als 1933 die Nazis an die Macht kamen, wurde Dix als Kunstlehrer fristlos entlassen.

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