Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Hiltrud Häntzschel: Marieluise Fleißer. Teil 3

19.03.2007.
Er nimmt wieder Kontakt auf - als wäre da nichts gewesen in der Vergangenheit - zu "meinem lieben Richard Friedenthal ", redet meist von sich und seinen wissenschaftlichen Leistungen oder fragt in alter, herabsetzender Weise: "Was ist aus den künstlich hochgelobten Talentchen CARL ZUCKMAYER, HERBERT SCHLÜTER, JOACHIM MAASS, MARIELUISE FLEISSER undsoweiter geworden, was haben sie wirklich geleistet?" Immer wieder einmal taucht er - "was für ein anstrengender Mann!" - in Hans Erich Nossacks Tagebüchern auf. Draws scheint den scheuen Autor mit seinen Besuchen zu überfallen:
"Der Mann tut mir leid, ich weiß nicht warum, denn er hat mein Leidtun kaum nötig, aber er macht mich nervös." Noch einmal protzt er in Versen wie so oft schon mit seiner Potenz - auf Kosten einst geliebter Frauen, auch Marieluises, "Maluflei":


"An der Donau

Du Donau, bist ein Schicksalsstrom -
Auch für mein Leben.
Drei Frauen gabst du mir aus fremden Völkern;
Sie gingen wieder heimwärts,
Als ich sie erkannte,
Als ihres Blutes Ferne
Und ihrer Seele Falschheit
Für mich kein Rätsel mehr,
Zu dessen Lösung mich der Leib verlockte.
Maluflei nannte sich die erste,
Ein Weib aus Bayern, wild an Wollust
Und wütig auch auf dichterischen Ruhm,
Mit prallen Schenkeln und mit roten Haaren.
Magyarin war die zweite, Livia,
Ganz blond wie reifer Kukuruz,
Gefährlich peinigend wie Paprika
Den Gaumen und der Sinne Vielfalt.
Gese, die dunkele dritte, ist Rumänin
Und Mutter zweier Kinder, halbwüchsig schon;
Sie lieb’ ich noch . . ."


Und nun also am 16. Oktober 1963 in der Stuttgarter Zeitung
eine Rezension von teuflischer Gehässigkeit:
"Marieluise Fleißer rediviva? Neue Erzählungen:
[. . .] ihre schöpferische Potenz war bereits damals in drei Prosabücher und drei Bühnenwerke völlig ausgeleert worden." Was sie jetzt noch kann, hat ihr der Verfasser beigebracht. "Ihr sprachschöpferisches Lebenswerk kennt keinerlei dynamische Entwicklung. [. . .] Zeit ihres Lebens muß Marieluise Fleißer mit irgend jemandem abrechnen, der ihr etwas Vermeintliches angetan haben soll oder fiktiv noch anzutun beabsichtigt, und sollte es selbst der eigene, bereits vor langer Silberhochzeit ergraute, aber kinderlose [wem gilt denn diese Spitze?] Ehemann sein." Hat er sich womöglich geärgert, daß er nicht genannt ist in dieser Erzählung? Diesem Mann, sie muß es noch 1965 gegen über Erich Kästner gestehen, war ich "geradezu verfallen, zu meinem Unglück".511 Ein Nachtrag noch: Ein Jahr vor Marieluise Fleißer, am 7. Januar 1973, stirbt Hellmut Draws-Tychsen in Gabersee in Oberbayern. Das kleine Dorf Gabersee besteht aus wenig mehr als einem Bezirkskrankenhaus, einer psychiatrischen Anstalt. Auskünfte über die Umstände seiner letzten Lebensjahre und seines Todes dort verhinderte die ärztliche Schweigepflicht.

Endlich, nach so vielen Jahren, hat Marieluise Fleißer wieder etwas vorzuweisen, sie ist wieder da, sie kann an Freunde und Kollegen ein neues Werk verschicken. Sie tut es sofort nach Erscheinen, sozusagen an die Mitakteure, an Helene Weigel, an Elisabeth Hauptmann, an Herbert Ihering, später an Hermann Kesten, an Erich Kästner, an Wolfgang Koeppen. Nichts Ungewöhnliches. Ungewöhnlich aber sind die Begleitbriefe, die jeder dieser Sendungen beigegeben sind. Alle enthalten sie Erklärungen zur Titelgeschichte, Rechtfertigungen, Richtigstellungen, wehren sich gegen falsche Lesarten, vor allem gegen die Lektüre von Avantgarde als 1:1-Brecht-Geschichte.

Zum Zeitpunkt der ersten Briefe, Oktober 1963, sind die Rezensionen noch nicht erschienen, die Unsicherheit über das, was sie da möglicherweise geschrieben hat, ist noch unscharf: "Liebe Helli, die erste Geschichte sollte eine wunderschöne Geschichte über Brecht werden, ich hab auch gut angefangen und ich bin betrübt, dass ich sie nicht ganz auf der Höhe halten konnte und immer dann, wenn ich nicht weiter wußte, ins allzuenge Autobiographische fiel. Es scheint, man kann nichts dagegen machen, wenn sich die Dinge allzusehr eingehängt haben. Ich weiß, dass die Arbeit unvollständig sein muß, ich habe diesen verdammten Einschnitt in meinem Leben immer bedauert." An Herbert Ihering (mit gleichlautenden Passagen auch an Elisabeth Hauptmann): "In der ersten Geschichte versuche ich, mein persönliches Brechterlebnis zu verdichten, wenn auch in Form einer Geschichte und durch Zusammenlegung von zwei Frauengestalten. Ich denke, der frühe Brecht ist mir, wenn auch mit seinen Fehlern wirklich lebendig geworden. Ein Denkmal wollte ich nicht machen, sondern die schonungslose Wirklichkeit eines Genies geben, so weit ich sie aus meiner persönlichen Erinnerung und Beobachtung anschneiden konnte, und ich hoffe, ich werde darin verstanden. Sollte aber aus der Bitterkeit meiner zweiten Lebenshälfte, die ja in genauem Zusammenhang mit jenen entscheidenden Jahren steht, etwas hinübergeflossen sein, so bin ich wohl dagegen machtlos." Helene Weigel und Elisabeth Hauptmann scheinen auf die Sendung nicht geantwortet zu haben. Ein Jahr später muß sie auf die polemischen Besprechungen reagieren, präziser werden. Zur ersten Brücke zu Hermann Kesten im November 1964, nach der NS-Zeit, nach Emigration und Krieg, dient Marieluise Fleißer eine Sendung ihrer Arbeiten, die Geschichte der Kriegs- und Nachkriegsjahre Der Rauch (erschienen in Jahresring 1964/65) und der Band Avantgarde. Und erklärend schreibt sie: "Die neue Nicklgeschichte [Der Rauch] ist autobiographisch. Die Brechtgeschichte ist dies nur in manchen Teilen, in anderen wieder nicht, entweder spukt mir da eine andere Frau hinein oder ein anderer Mann, der mir einmal nahestand, aus dem Rahmen der Brechtschen Möglichkeiten fällt sie nicht. Ich habe meinen Knall für Brecht geschrieben, der offenbar so stark war, dass er irgendeinmal heraus mußte, aber es ist eine Geschichte um Brecht. Wenn man irgendwelche realen Begebenheiten einbezieht, wird das sofort als Schlüsselgeschichte erklärt." Und ähnlich schließlich an Wolfgang Koeppen und wohl nicht ganz zufällig an Wolfgang Koeppen, dessen Schreiben lebenslang im Netz von Autobiographie, Phantasie und Realität verstrickt war: "Die erste Geschichte wurde als Schlüsselgeschichte abgestempelt, aber so eng ist das nicht zu nehmen." Und dann das denkwürdige Bekenntnis: "Wie kann ein Mensch sich noch in das Wagnis stürzen, dass er ausschließlich vom Schreiben leben muß, wenn sich die Dinge so langsam in ihm bilden, wenn er seine Jugend hinter sich hat und wenn er durch den grausamen Zwang der Umstände nur auf ein verschüttetes zusammengepreßtes Leben zurückblicken kann, sodass etwas in ihm sich sträubt, sagen zu müssen, wie es wirklich war?"

"Ich habe mir damit ein Trauma von der Seele geschrieben", das ist die meistzitierte Selbstaussage über Fleißers Arbeit an dieser Geschichte. Unterzieht man die Erzählung noch einmal einer wachsamen Lektüre auf der Folie von Fleißers Erfahrungen von fünf Jahren gemeinsamen Lebens mit Draws-Tychsen, dann springt es einem plötzlich ins Auge, als entwickle man einen Film ein zweites Mal und sieht, daß er mehrfach belichtet ist, daß da mehrere Paargeschichten übereinandergelagert sind:

Da ist die Entdeckungs-, die Erfolgs- und Begehrensgeschichte einer jungen Schriftstellerin und eines genialen jungen Dichters. Die vermeintliche Bindung zerbricht an der Asymmetrie der Machtverteilung, schlägt um in die Geschichte von der entbehrungsreichen Zuarbeit und der materiellen Ausbeutung einer Mitarbeiterin im Dunstkreis des Genies. Cilly Ostermeier ist darin so etwas wie die Schnittmenge aller Brecht-Frauen: "Es war nicht heraus, war sie seine Mitarbeitern, Freundin, Geliebte oder wurde sie seine Frau." Die zweite Geschichte, der Kontrast zur ersten, erzählt von Cillys verhängnisvoller Flucht in die neue Unfreiheit, zu Nickl, dem Schwimmer, dem spotthäßlichen Naturburschen, der geistige Überlegenheit, die ihm vollständig abgeht, durch körperliche Gewalt ersetzt. Über diesen Paargeschichten liegt wie eine fremde Schicht eine andere Paargeschichte, sie handelt von der Unterwerfung und in der Folge der völligen Zerstörung einer erfolgreichen Autorin, die sich von einem größenwahnsinnigen Exzentriker vollständig in Besitz nehmen und ihren Willen brechen läßt. Die drei Paargeschichten sind auf sublime Weise fast ununterscheidbar zu einer einzigen Leidensgeschichte ineinandergeflossen, der 'Film' ist ins Entwicklerbad der dichterischen Phantasie getaucht. Dem 'genialen Dichter' stellt die Autorin als scharfen Kontrast nicht den einfühlsam Liebenden gegenüber, sondern "Nickl den Schwimmer [. . .] roh von Gesicht". Ausweglos gefangen zwischen zwei monströsen Gewaltmenschen, dem intellektuellen und dem physischen, klingt Cillys Hoffnung am Ende kläglich.

Hellmut Draws-Tychsen, den Fleißer tief in der dunklen Höhle wähnt, dessen Name ihr nicht mehr über die Lippen kommt, treibt sein Unwesen weiter, geistert durch die Erzählung. Mit dem "Mann", der am Ende der Erzählung auftaucht, ist es nicht getan. Draws’ Geist und Unwesen ist längst in allen Facetten jener darübergelegten Schicht anwesend. Das Trauma im Leben Marieluise Fleißers war Draws-Tychsen, an seiner Seite lief sie in den "Abgrund", litt sie die "Fröste", nicht die der Freiheit, sondern der Hörigkeit. Dutzende von Formulierungen aus Avantgarde finden sich ähnlich in der Korrespondenz der beiden, in Fragmenten literarischer Bewältigungsversuche oder benennen die Fakten aus der Verlobungszeit mit Draws, etwa:
"Er hielt sie streng am Zügel und hatte sich an sie gewöhnt, machte bloß nichts Legales draus."
"Der Mann kam nie aus den Schulden heraus, gab er ihr was ab von seinem Geld, dann zwei Mark fürs Essen, es war eine symbolische Handlung. Die mußte sie noch verlangen, was sie lieber vermied. [. . .] Sie war nicht einmal seine Frau vor dem Gesetz." (Wolfgang Koeppen gegenüber hat Fleißer über Brecht richtiggestellt: "Er war durchaus bereit, mir zu helfen, nur war mir in meiner so festgefahrenen Situation nicht zu helfen."
"Sie fühlte sich ganz umstellt. Sie war grausam gefangen."
"Er verlangte ihr ab, was nicht drin war." (So heißt es wörtlich im Tiefseefisch-Essay über Draws-Tychsen.)
Daß man ihn schon in der Schule "einen Spinngockel" nannte, bezieht sich ebenso auf Draws wie hinter dem Bett die "Batterien von Flaschen gebaut mit dem trinkbaren Stoff". Der notorische Trinker war natürlich Draws, Brecht hatte nie ein Alkoholproblem. Und gerade dieses "von ihr mitgeteilte Detail" bekommt in der Lesart als Brecht-Schlüsseltext für Curt Hohoff fatalerweise "Quellenwert". Und intoniert nicht die fatale Bezeichnung "der Jude" für Feuchtwanger in ihrer kollektiven Entindividualisierung den Sprachgebrauch des Dritten Reiches und ist noch dem "Draws’schen Unsinn" geschuldet, den Richard Friedenthal noch 1947 in Fleißer wirksam sah? "Das Ungeschick" in der Bezeichnung "der Jude" läßt sich Marieluise Fleißer auch von Wolfgang Koeppen nicht ausreden.

Die Literaturwissenschaft hat diese Erzählung als Geschichte von Fleißers Vertreibung aus dem Paradies der Avantgarde, durch Brecht, ins literarische Abseits der Provinz interpretiert. Bedenkt man, daß Marieluise Fleißer in wenigen Jahren den kollegialen Respekt und die Unterstützung von Feuchtwanger und Brecht, von Herbert Ihering, Moriz Seeler, Kurt Pinthus und Alfred Kerr, die Hochschätzung vonWalter Benjamin, Arthur Eloesser und Hanns Henny Jahnn, die Aufmerksamkeit von Theodor W. Adorno, ThomasMann und Robert Musil fand, dann wird nicht der Ausschluß aus der Avantgarde, wen immer man dazu rechnen will, deutlich, sondern das Ausmaß des Schadens, den Marieluise Fleißer sich durch das Überlaufen zu Draws-Tychsen und das Festhalten an ihm bis zur Selbstzerstörung angetan hat.

Hat Marieluise Fleißer sich das wahre Trauma wirklich von der Seele geschrieben, oder hat sie es kunstvoll umschifft, verdrängt, übertragen (oder wie immer die Analytiker das nennen mögen)? In einer späteren Auskunft über ihr Werk modifiziert sie die historischen Zusammenhänge noch einmal: "Vorsicht bei der Brecht-Geschichte. Es ist eine Geschichte mit stark autobiographischen Zügen, sofern es sich um den jungen Brecht handelt. Die Mädchengestalt aber ist eine Ineinander-Verschmelzung zweier junger Mädchen aus der unmittelbaren Umgebung Brechts, nämlich seiner Mitarbeiterin Elisabeth Hauptmann und von mir. Von mir persönlich hat Brecht niemals Geld verlangt - das tat mein späterer Verlobter, der Journalist, ich kenne also die entsprechende Situation haargenau."

Mit dem Schreiben von Avantgarde und mit der Lektüre durch ihre Leser geschah etwas Sonderbares: Die Details, die eine Kunstfigur aus der Schablone in die Lebendigkeit überführen, sind Marieluise Fleißers poetische Erfindungen; sie hat sie so eng an ihren biographischen Lebensstationen festgemacht, daß diese Details umgehend zu den Details im Leben der Marieluise Fleißer wurden. Solche ›Anekdoten‹ sind etwa ihre Rolle in Brechts Mitarbeiterteam oder gar ein Eheversprechen, Brechts Einrede, das Studium und das Doktorexamen in den Wind zu schlagen, sind die Gespräche über das Lustspiel in Augsburg, das Hausverbot des Vaters nach dem Skandal, wohl auch Feuchtwangers Einfluß auf die Entlobung. Dazu kommen Lesefrüchte, etwa der politisch inszenierte Skandal bei der Pioniere-Aufführung, oder die Wendung vom Auge voll "satanischem Glanz", die in Bronnens Brecht-Buch von 1960 zu finden ist. Zahlreiche dieser Details aus Cilly Ostermeiers Leben gehen später in die biographischen Angaben zu Fleißers Lebensgeschichte ein, verwandeln sich über die Notizen, die mit dem Herausgebertitel "Meine Biographie" versehen werden, zu 'Fakten' und erhalten so die Deutungshoheit über Marieluise Fleißers Leben und Brechts Rolle darin. Die Diktion der Erzählung ist von großer Entschiedenheit, sie vermittelt die Sicherheit einer auktorialen Erzählerin, die sich um äußerste Aufrichtigkeit bemüht, die ihre Cilly sehr genau kennt bis weit unter ihre Oberfläche, die sie nicht schont in ihrer Einfältigkeit, in ihrem Anlehnungsbedürfnis, das sie so viele falsche Lebensentscheidungen treffen läßt.

Schließlich schreibt Günther Rühle, der Kommentator der Werkausgabe, die Erzählung trotz aller Warnungen Fleißers als
Schlüsselgeschichte für alle Zeiten und Lektüren fest: "Avantgarde ist das erste große autobiographische Prosastück. Schlüssel zu den Figuren: Der Dichter: Bertolt Brecht. Der Jude: Lion Feuchtwanger. Nickl: der spätere Ehemann Joseph Haindl. Polly: Helene Weigel. Der neue Mann am Theater: Ernst Joseph Aufricht. Das Stück: Pioniere in Ingolstadt. Der Mann (am Schluß des Textes): Hellmut Draws-Tychsen." Damit war die Erzählung Avantgarde endgültig zum Tatsachenarchiv für Marieluise Fleißers Lebensgeschichte geworden, unwidersprochen, da man ja von der Beziehungsgeschichte zu Draws-Tychsen bis zum Auftauchen der Korrespondenz 1996 kaum etwas wußte. Aber noch im Kommentar der Briefedition von 2001 verweist Günther Rühle durchgehend als 'Beleg' für biographische Ereignisse in Fleißers Leben auf den "Bericht" Avantgarde.

Die Lesart als Schlüsselgeschichte mit einem recht negativ gezeichneten Brecht fiel - zufällig oder nicht - zusammen mit dem politischen Diskurs der ersten sechziger Jahre, nach dem Mauerbau vor allem, als im 'Kampf um Brecht' in der BRD erbittert gefochten wurde. Vom Dezember 1961 bis zum März 1962 stritten sich antikommunistische Gegner und Anhänger Brechts in der Zeitschrift Der Monat (und ähnlich in zahlreichen Fernseh- und Hörfunkdiskussionen) heftig um das Thema: "Soll man heute Brecht spielen?" Der Avantgarde-Band erschien im Augenblick eines Klimawandels. In den folgenden Jahren stieg der tote Dichter aufs Klassikerpodest. In seinen Dichtungen, seinen Botschaften erkannte sich der progressive Teil einer ganzen Generation. Mit ihm kam auch Fleißer wieder ins Gespräch, und allmählich verschob sich die Bewertung seiner Rolle in ihrem Leben. Nun ist er nicht mehr das zerstörerische Genie, nun würdigt Fleißer ihn als ihren großen Lehrer, ihren Förderer, in dessen Dunstkreis gelebt und erfolgreich geschrieben zu haben ihr durchaus auch Attraktivität verleiht. Bald beginnt die Zeit der Interviews, in denen man Auskunft erhofft über ihre Lehrzeit bei Brecht, über ihre Mitarbeit bei ihm, über seinen Anteil an ihremWerk.Noch 1960mußte sie auf Fragen von Herbert Göpfert nach der frühen Pioniere-Fassung eine Auskunft schuldig bleiben, denn: "Ich kann mich aus dieser Zeit ja an überhaupt nichts mehr erinnern."521 Und oft hören wir so oder ähnlich von der Erfahrung: "Mein Gedächtnis läßt mich im Stich."

Nun setzen die Erinnerungstexte ein, teils sind es Erzählungen, teils biographische Auskünfte. Daß beide Gattungen ineinanderfließen, scheint Fleißer gar nicht bewußt gewesen zu sein. Sonst hätte sie nicht das Manuskript Frühe Begegnung (geschrieben für Radio Zürich 1964) anWalter Höllerer als "meine originären Brechterinnerungen" zum Abdruck für Akzente geschickt oder gegenüber Wolfgang Koeppen als "eine streng biographische Aufzeichnung meiner Begegnung mit Brecht" bezeichnet. Warum leugnet Marieluise Fleißer so heftig die Leistung der dichterischen Phantasie, bezeichnet sie als "Schwindel" und bezieht doch die Stärke ihrer Poesie aus ihr, "ich kann keinen Schwindel erfinden"? Warum besteht sie so vehement auf solcher angeblicher Authentizität, alsmache sie das Erzählen auf irgendeine Weise wahrer, wo doch die Wahrheit ganz allein im Text selbst liegt? Auch in der von Fleißer als "autobiographisch" deklarierten Geschichte Der Rauch deckt sich die Erzählung etwa über die Befreiung aus dem Gefängnis im Juni 1945 keineswegs mit den Dokumenten, aber ist das wichtig? Immerhin aber stammten Menschen und Ereignisse so erkennbar aus der Wirklichkeit, daß sich die Autorin, sechs Jahre nach dem Tod ihres Mannes und ein Jahr nach der Avantgarde-Geschichte, in der Schwiegerfamilie nicht eben beliebter gemacht hat.

Mit freundlicher Genehmigung des Insel Verlages
(Hiltrud Häntzschel, Marieluise Fleißer. Eine Biographie. Mit
zahlreichen Abbildungen, © Insel Verlag Frankfurt am Main und Leipzig 2007)

Informationen zum Buch und zur Autorin hier