Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.06.2001.

TAZ, 13.06.2001

Sebastian Handke hat die Berliner Konferenz über Kulturpolitik verfolgt und dabei auch die Eröffnungsrede des Kulturphilophen Slavoj Zizek mit anhören müssen: "Es war ein schicksalhaftes Gewitter, welches über die hereinbrach, die da arglos Platz genommen hatten: Schuberts Winterreise als Soundtrack für den Stalingrad-Feldzug, westlicher Taoismus als die paradigmatische Ideologie des Spätkapitalismus, die Amfortaswunde als Lacansches Objekt klein a, das Rauchverbot als faschistischer Neid auf den Genuss des anderen. Selten dürfte ein Redner mit ähnlichem Erfolg und erbarmungsloserer Konsequenz an Publikum und Anlass vorbeigesprochen haben."

Weitere Artikel: Ira Mazzoni schreibt zur Eröffnung der Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung. Besprochen werden die Aufführung des Stücks "Fight Club" in Jena und James Knowlsons Biografie über Samuel Beckett (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

NZZ, 13.06.2001

Sieglinde Geisel stellt das Programm des Internationalen Literaurfestivals in Berlin und seinen Macher vor: "Als Außenseiter des Literaturbetriebs ist Ulrich Schreiber etwas gelungen, was Insider von vornherein für unmöglich halten: Durch Überzeugungsarbeit und eine tüchtige Portion 'leg work' hat er ein Festivalbudget von zwei Millionen Mark zusammenbekommen, fast ausschließlich von privater Seite." Tatsächlich hat die Stadt Berlin keinen Pfennig gegeben.

Weitere Artikel: Martin Sander schildert die "seltsame Verbringung von Bruno-Schulz-Gemälden nach Israel". Christine Wolter kommt auf die Saison des Piccolo Teatro in Mailand zurück. Derek Weber schreibt zum 50. Geburtstag der Wiener Festwochen. Hans-Jörg Neuschäfer schreibt zum 100. Todestag des spanischen Autors Clarin. Besprochen werden eine Ausstellung britischer Kulturbauten in London. Adolf Max Vogt berichtet über ein Kolloquium zum Klassizismus in Zürich. Besprochen werden heute vor allem Bücher, darunter Richard J. Evans' Geschichte der Todesstrafe. (Siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr)

FAZ, 13.06.2001

Oliver Brüstle und Otmar Wiestler, also jene Forscher, die zusammen mit Wolfgang Clement embryonale Stammzellen aus Israel importieren wollten, erläutern in einem anderthalbseitigen Gespräch die Vorteile, die sie in diesen Zellen sehen: "Nummer eins: diese Zellen sind wirklich uneingeschränkt in der Zellkultur vermehrbar. Das ist mit adulten Stammzellen nicht machbar. Zweitens: diese Zellen können in der Zellkultur ganz gezielt in verschiedenste Zelltypen umgewandelt werden, Herzmuskelzellen, insulinbildende Zellen, Nervenzellen, Knorpelzellen und so weiter. Drittens, und das wird völlig vergessen in der momentanen Diskussion: an embryonalen Stammzellen ist es möglich, praktisch jedes beliebige Gen nicht nur zu eliminieren, zu inaktivieren, sondern auch zu modifizieren oder zu ersetzen. Bei genetischen Erkrankungen nützen Ihnen adulte Stammzellen nämlich überhaupt nichts, weil der genetische Defekt natürlich in jeder adulten Stammzelle des Patienten sitzt."

Jürgen Kaube fürchtet, dass bei der anstehenden Reform der Jursistenausbildung die Grundlagen verschwinden werden: "Der Entwurf, der den Justizministern vorliegt, sieht unter 172 Stunden der Juristenausbildung ganze vier in Rechtsgeschichte vor. Diese sollen zudem im vierten Semester belegt werden, zu einer Zeit also, wo bereits erste Prüfungserfordernisse auf die Studenten zukommen. Das wird ihr Interesse an den Grundlagen ihrer Disziplin deutlich schwächen. Auch aus Gründen der Motivation zum Nachdenken über Recht - im Unterschied etwa zum Pauken von Recht - sollten die entsprechenden Fächer, zu denen neben der Rechtsgeschichte die Rechtsphilosophie, Rechtstheorie und Rechtssoziologie zählen, alle Phasen des Studiums begleiten. Grundlagen gehören unter jeden Teil eines Gebäudes."

Andreas Kilb schwärmt von Edward Yangs "grandiosem Familienporträt" "Yi Yi": "Was 'Yi Yi' von Familienserien oder vergleichbaren Spielfilmen unterscheidet, ist der Ton, in dem die Erzählung gehalten ist. Jene Gesten der Regie, die sonst gewöhnlich ein dramatisches Ereignis ankündigen oder begleiten, fehlen bei Edward Yang; alles geschieht so, wie es ein interessierter Besucher, ein Freund oder Gast der Familie wahrnehmen würde."

Weitere Artikel: Jörg Magenau stellt das große Internationale Literaturfestival vor, das morgen in Berlin beginnen wird. Martin Vogel, einer der Berater der Regierung bei der Reform des Urhebervertragsrechts, erläutert die Intention des neuen Gesetzes: die "Korrektur des strukturellen Ungleichgewichts von Werkschöpfern und Werkverwertern". Jürgen Dollase erklärt die Vorteile der "Fusion-Küche", die europäische und exotische Einflüsse kombiniert und außer Mode zu kommen scheint, bevor sie überhaupt ihr Potenzial entfalten konnte. Patrick Bahners hat einer Sitzung des Ordens Pour le merite beigewohnt. Dirk Schümer feiert in seiner Venedig-Kolumne den Aufstieg seines Heimatvereins in die italienische A-Liga. Susanne Staerk liefert "Theatertendenzeindrücke" von den Internationalen Schillertagen in Mannheim.

Besprochen werden eine Saarbrücker Tagung über Robert Musil, eine Jean-Marc-Bustamente-Ausstellung in den Hamburger Deichtorhallen, die Tournee der Jazzmusikerin Marilyn Mazur, die Oper "Zerbrochene Bilder" von Paul-Heinz Dittrich in Rheinsberg, ein von der niederländischen Architektengruppe "Observatorium" errichtete Aussichtsturm, der bei Rotterdam einen Blick auf die Autobahn erlaubt (ehrlich!), eine Issey-Miyake-Ausstellung in Berlin und eine Ausstellung mit Meisterzeichnungen des Cleveland Museums in New York.

SZ, 13.06.2001

Holger Liebs hat sich die vielen Videos bei Szeemanns "Plateau der Menschheit" auf der Biennale angesehen und kann am Ende mit den Werken der alten Meister, die dort auch ausgestellt werden, nichts Rechtes anfangen: "Die schweren Kalksandsteinklötze von Beuys, die mit Olivenöl getränkt wurden, sowie die Basalttrümmer, die sich zur symbolträchtigen Installation 'Das Ende des 20. Jahrhunderts' gruppieren, wirken zwischen den luftigen Nike- Tretern, die die meilenfressenden Biennale-Wanderer tragen, wie das Strandgut einer längst vergangenen Epoche." Wie werden wohl die vielen Videos in 20 Jahren wirken?

Eine neue Schauspielerrangfolge hat "sus" in der amerikanischen Filmzeitschrift Premiere ausgemacht. Kriterium ist, "dass sie auf einen Teil ihrer üblichen Gagen verzichtet haben, um einem Projekt auf die Beine zu helfen: Julia Roberts kam von Platz 20 auf 12, wegen anhaltenden Erfolgs und vernünftiger Gagenforderungen bei 'The Mexican' Brad Pitt, in 'The Mexican' ebenfalls dabei, wurde von Platz 60 auf Platz 44 befördert; und auch George Clooney, letztes Jahr noch auf Rang 82 und nun auf 42, stieg aus dem selben Grund auf. Das funktioniert auch anders herum: Kevin Costner ist aus der Liste verschwunden, weil er, so Premiere, 'für weniger als 15 Millionen Dollar nicht von seiner Couch hochkommt'." Verständlich.

Die Art Basel, wo Kunst verkauft wird, ist das schon weiter, meldet "D.B.". Bei der Galerie Beyerler zum Beispiel "wird vor Alberto Giacomettis Skulptur 'La Cage' eine Figurenkomposition Fernand Legers konfrontiert mit Anselm Kiefers mythischem Geraune. Der Basler Galerist nennt seine noble Präsentation 'Classic now' ? und hat damit so etwas wie das Motto der diesjährigen Messe gefunden. Denn klassischer als sonst geht es auch bei den jüngeren Zeitgenossen zu. Die Warhol-Euphorie der vergangenen Saison hat sich gelegt: Platz für zeichnerische Radikalgesten von de Kooning, für neue Bastelskulpturen und alte Passstücke von Franz West oder für 'nicht orthogone Skulptur', elastische Raumgespinste, wie sie Lara Schnitzer in der Sektion 'Statements' spannt." Die jungen Künstler müssen sich dort bei der "Young ArtFair" um einen Platz in der Oberliga bewerben.

Weitere Artikel: Thierry Chervel entwirft Perspektiven für eine Berliner Kulturpolitik unter Kultursenator (sic!) Klaus Wowereit. Wolfgang Scheiber macht sich Sorgen, ob bei all dem Berliner Chaos noch der Vertrag für Simon Rattle bei den Philharmonikern unterschrieben wird. Arno Orzessek hat in Berlin einen Kongress über "Kollektive Körper und Theorie-Kollektive" verfolgt.

Uwe Mattheis bespricht die Wiener Ausstellung "Die barocke Party", die barocke Bezüge in der neuesten Kunst aufspürt. Besprochen werden außerdem eine Ausstellung im Münchner Architekturmuseum über die Moderne in Bukarest zwischen 1925 und 1945, die beiden Theaterstücke "Die Kameliendame" nach Dumas in Düsseldorf und "Cymbelin" nach Shakespeare in Bonn, Strawinskys Oper "The Rake's Progress" in Hamburg und die Filme "Yi Yi", "Love & Sex" und "Wie Feuer und Flamme". Ferner erfahren wir in der Rubrik "Was gibt's Neues" wer was mit wem dreht.

FR, 13.06.2001

Harry Nutt beschreibt die Psychopathologie der Berliner Geldwirtschaft. Anderswo begeben sich Pleitiers wenigstens auf die Flucht oder zeigen Scham. Nicht so in Berlin: "Das Eingeständnis der Scham kennzeichnet zugleich den demonstrativen Verzicht auf Flucht. Hier bleibe ich und kann nicht anders. Dass beide körperlichen Ausdrucksweisen im Berliner Bankenskandal bislang keine Rolle spielten, lässt vermuten, dass die Berliner Politik nachhaltig ein anderes Geldgefühl etabliert hat."

Sehr kritisch und selbstkritisch äußert sich der Frankfurter Opernintendant Martin Steinhoff im Interview mit Harry Nutt und Hans-Klaus Jungheinrich über die kulturpolitische Lage der deutschen Theatern und Opern: "Es ist der Oper in vielerlei Hinsicht ein Ansatz verloren gegangen, von dem man in den 70-er Jahren dachte, er würde sie auf eine neue soziale Basis stellen. Stattdessen ist die Oper zurückgekehrt in den Schoß der "besseren" Gesellschaft, von der sie sich nun auch in finanzieller Hinsicht zunehmend abhängig gemacht hat. Auf Dauer halte ich es für sehr gefährlich, wenn wir uns auf private Spender wie Alberto Vilar, die Millionen investieren, verlassen. Ich denke nach wie vor, der Staat sollte unsere Häuser finanzieren, um auch ihre Freiheit sicherzustellen. Was mir darüber hinaus Sorgen macht, ist die Veraltung der sozialen Basis innerhalb der Häuser selbst. Wir haben eine nicht nur eine antiquierte technische, sondern auch soziale Struktur. Es handelt sich beim Theater um eine Gewerbeform, die seit rund 150 Jahren überholt ist."

Markus Brauck mahnt zum unmittelbar drohenden Kirchentag: "So wie Techno einer Welt der körperlosen Kommunikation den tanzenden Körper entgegengesetzt hat, so müssen die Kirchen in einer Welt der Sinne weiter den Sinn behaupten. Gegen die Konjunktur. Die Kirchen können und müssen sich das leisten. Das ist beinahe ihr einziger Ausweg. Der andere heißt: Sie bringen Gott an die Börse." Eine sichere Aktie, aber bringt sie Rendite?

Weitere Artikel: Von Rolf C. Hemke erfahren wir, dass Rene Pollasch den Mülheimer Dramatikerpreis gewinnt. Besprochen werden Franzobels Habsburgerfarce "Mayerling" in Wien, Valerie Breimans Filmkomödie "Love & Sex" und die David-Hockney-Retro in der Bonner Bundeskunsthalle.

Zeit, 13.06.2001

Petra Kipphoff ist über die von Harald Szeemann ausgerichtete Biennale in Venedig gegangen und ein wenig entnervt zurückgekommen: "Immer häufiger darf/muss der Ausstellungsbesucher mitmachen, krabbelnd, knopfdrückend, wie auch immer. Und immer selbstverständlicher wird ihm die schiere Realität vorgesetzt... Kunst und Leben begegnen sich auf der Partnerschaftsebene im Eins-zu-Eins-Verhältnis. Eines Tages könnte man diesen klammheimlich-öffentlichen Rollentausch auch legitimieren, die Besucher zum Ausstellungsgut machen und die Künstler und Kuratoren Schlange stehen lassen."

Thomas E. Schmidt glaubt in der Berliner Kulturpolitik nicht mehr an den Austausch von Senatoren: "Etwas Neues begänne, wenn der Besitzstandswahrung des öffentlichen Dienstes in der Berliner Kultur politisch entgegengetreten würde, um jedenfalls eine Minimalflexibilisierung der Berliner Tarife zu erreichen. Das aber wäre eine Aufgabe für das neu zu wählende Berliner Abgeordnetenhaus, dort müsste sich der entsprechende Wille bündeln, nicht bei einem 'besseren' Senator oder einem Bürgermeister, der Kultur zur Chefsache erklärt."

Thomas Groß bewundert, wie die Band Radiohead auf ihrer CD "Amnesiac" Songstrukturen auflöst und mit dem Zufall und Geräuschen spielt: "Doch sind die Texturen bei näherem Hinhören nichts weniger als beliebig. Der Fluss des Vergessens führt Traumreste mit sich: hier ein versunkenes Beatles-Motiv, dort ein Hymnenfragment, das weiteren Jazz-Patterns, Tempeltrommeln und heiliges Blech, stets sorgfältigst arrangiert vor einem wie ziseliert wirkenden Hintergrund aus Knistern, Pochen und Rauschen. So libidinös und zugleich wählerisch wurde schon lange nicht mehr mit Trümmern hantiert."

Jörg Lau porträtiert die Kunstszene von Krakau: "Die Coolness und Unbeschwertheit der jungen Leute um den Krakauer Bunkier Sztuki (eine Galerie, der Pt.) können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die polnische Öffentlichkeit sehr reizbar auf die Provokationen der modernen Kunst reagiert." Da werden die westlichen Künstler sie aber beneiden!Weitere Artikel: Hanno Rauterberg stellt den Innenraum von Frank Gehrys Gebäude der DG Bank vor ("ein Formensturm aus Stahl und Glas"). Reinhard Merkel greift in die Bioethik-Debatte ein und findet, dass "die therapeutischen Ziele der Stammzellforschung mehr Gewicht haben als unsere Schutzpflicht". Besprochen werden Edward Yangs Film "Yi Yi" und ein "Figaro" in Stuttgart.

Aufmacher des Literaturteils ist Günter Ohnemus' Porträt des amerikanischen Autors Sherwood Anderson. Ferner ist auf ein neues Literaturrätsel hinzuweisen, das von nun ab wöchentlich stattfinden soll.

Interessant auch Ralph Geisenhanslükes Interview im Modernen Leben mit dem Madonna-Biografen J. Randy Taraborrelli, der nach zehnjähriger Recherche folgende Neuigkeiten über die Sängerin berichten kann: "Ich fand Bestätigung für das Gerücht, sie habe eine Affäre mit John Kennedy jr. gehabt. Neu war für mich auch, dass Jackie Kennedy Onassis sich weigerte, Madonna zu treffen. Oder Madonnas Beziehung zu Warren Beatty, die mir als 'publicity stunt' erschienen war. Es stellt sich heraus, dass ihr wirklich etwas an Beatty lag." Ach was!