Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.11.2001. Die NZZ setzt sich mit dem linken Bestseller "Empire" auseinander. In der FAZ schildert Annemarie Schimmel das süße Leben in Riad. In der FR liefert Thomas Hettche einen Nachruf auf all die schönen Währungen, die nun im Euro untergehen. In der SZ beschreibt Naomi Klein den "Kamikaze-Kapitalismus" als religiösen Fundamentalismus.

FAZ, 10.11.2001

Mark Siemons sieht die Attentate als Reaktion auf die Globalisierung und fordert eine Internationaliserung der Öffentlichkeit, um solchen Geschehnissen vorzubeugen: "Zum Universalismus, der im Westen ausgeprägt wurde, gehört gerade die Fähigkeit, über die Grenzen des eigenen Kultur- und Interessenkreises hinauszugehen. Modern ist die Selbsterkenntnis, dass kein politischer, ökonomischer oder militärischer Akteur den Universalismus für sich gepachtet hat. Den blinden Fleck, der durch die gar nicht vermeidbare Beimischung mit Interessen zustande kommt, gilt es durch eine möglichst demokratisch organisierte Öffentlichkeit aufzuklären. Die Verteidigung und die Verbreitung der Prinzipien der Gewaltenteilung, des Pluralismus und des Rechts haben auf Dauer wohl nur eine Chance, wenn durch sie auch die Staaten, Kulturen und Religionen ihre Souveränität behaupten können, die keinen Einfluss auf die westlichen Entscheidungszentren haben." Wir denken hier vor allem an die armen Saudis, die so gar keine Mittel zur Einflussnahme haben.

Paul Ingendaay erzählt die Geschichte des Mannes, der zwei ETA-Terroristen fassen hielf, indem er sie mit dem Auto verfolgte und jetzt einen anonymen öffentlichen Brief veröffentlichte, in dem er sein Handeln begründet: "Er zeigt, wie viel Klarsicht und Entschiedenheit im Widerstand der Bevölkerung gegen den Terrorismus steckt".

Weitere Artikel: Hannes Hintermeier meldet, dass Kommissar Mats Wallander nun endgültig aufs Altenteil geschickt wird. Henning Mankell lässt ihn in seinem siebten Roman,der gerade in Schweden die Bestsellerlisten stürmt, zum letzten Mal auftreten. Dieter Bartetzko stellt die "grandiose" neue Synagoge in Dresden vor. Verena Lueken liefert schauerliche Befunde aus einer amerikanischen Zeitschriftenschau: Es wird in seriösen Instituten wie Newsweek ernstlich über Folter diskutiert. Michael Jeismann will die Phantasie an der Macht sehen. Sowohl Gegnern als auch Befürwortern des Kriegs sei anzuraten, "Arsenal ihrer Phantasie zu durchmustern und sich darüber klar zu werden, dass man einen Konjunktiv nicht köpfen kann, um ihn in einen Indikativ zu verwandeln." In einem kleinen Artikel über den Konkurs des Haffmans-Verlags erfahren wir, dass der Verlag bereits keine Rechte mehr besitzt - der Verleger hatte sie verkauft und "zurückgeleast"!

Ferner berichtet Susanne Klingenstein anlässlich einer Ausstellung in Chicago Neues über das Verhältnis zwischen van Gogh und Gauguin. Ilona Lehnart zeichnet einen Streit zwischen Berliner Museumsleuten über den richtigen Ausstellung wichtiger Caspar-David-Friedrich-Gemälde nach - Charlottenburger Schloss oder Alte Nationalgalerie? Der Politologe Conrad Schetter (mehr hier) warnt vor einer Gestaltung einer künftigen afghanischen Verfassung nach ethnischen Gesichtspunkten. Auf der Medienseite resümiert Andreas Obst die Verleihung der MTV Europe Music Awards. Man erfährt im übrigen, dass drei Zeit-Redakteure zu Geldstrafen verurteilt wurden, weil sie aus geheimen Akten der Staatsanwaltschaft zitierten.

Besprochen werden eine Inszenierung von Tschechows "Möwe" durch Stephane Braunschweig in Straßburg, der Szenenwechsel in Frankfurt, Bill Seamans Tanzstück "Inversions", Michael Winterbottoms Film "Das Reich und die Herrlichkeit", die Kasseler Musiktage (mehr hier), die Ausstellung "la ciutat dels cineastes" in Barcelona und die erste Aufführung des Mannheimer Balletts unter seinem Leiter Mark McLain.

Und wenn man dann, überwältigt nach einer derartigen Fülle der Kulturberichterstattung, den Kulturteil zur Seite legen will, findet man auf der letzten Seite noch einen Reisebericht der Islam-Wissenschaftlerin Annemarie Schimmel über Riad. Das Leben dort muss herrlich sein. Gerade den Frauen geht es besonders gut, zum Beispiel den Universitätsdozentinnen: " Das Fortbestehen der Großfamilie erleichtert es den Frauen, sich der Wissenschaft zu widmen, denn immer sind Familienmitglieder da, die sich der Kinder annehmen." Nur am ganz am Rande bemerkte Schimmel eine "gewisse Nervosität", denn "es gibt ja im Augenblick gewisse innenpolitische, aber auch außenpolitische Probleme".

In Bilder und Zeiten beschäftigt sich Dennis Kuck mit dem Schicksal der Gastarbeiter in der DDR. Dietmar Dath erinnert an den Sensualisten Julien Offray de la Mettrie. Wolfgang Günter Lerch erinnert an Ignaz Goldziher, den Begründer der modernen Islamwissenschaft. Tilman Spreckelsen unternimmt zusammen mit Günter de Bruyn einen Spaziergang durch Berlin-Mitte. Und Dieter Bartetzko hat das Herculaneum bei Pompeiji besucht.

In der Frankfurter Anthologie stellt Hein Ludwig Arnold ein Gedicht von Peter Rühmkorf vor - "Hochseil":

Wir turnen in den höchsten Höhen herum,
selbstredend und selbstreimend,
von einem Individuum
aus nichts als Worten träumend..."

NZZ, 10.11.2001

Noch ist das Buch nicht übersetzt, aber schon wirft es seine Schatten voraus. Jan-Werner Müller beschreibt "Empire" (mehr hier) von Michael Hardt und Antonio Negri als linken Bestseller, von dem in New York bereits kein Exemplar mehr erhältlich ist. Es möchte, so scheint es, das "Kapital" des neuen Kapitalismus sein: "Anders als für den klassischen, auf Nationalstaaten zentrierten Imperialismus gibt es für das grenzenlose 'Empire' mit seiner globalen Befehlsgewalt, so eine der politischen Pointen der Theorie, kein politisches oder wirtschaftliches 'Außen' mehr. Ebenso fehlt dem Reich ein Rom, ein lokalisierbares Zentrum - wie das Internet ist es sowohl dezentral als auch universal."

Der rumänisch-amerikanische Autor Norman Manea verteidigt das Land, dessen Bürger er seit kurzem ist: "Amerika hat seine Sünden, aber in der Geschichte der großen Mächte steht es, vermute ich, nicht allzu schlecht da. Ein Vergleich mit dem Osmanischen Reich, dem Zarenimperium, der Sowjetunion und der Naziherrschaft genügt. Gewiss, Amerika provoziert Frustration, Neid und auch Unrecht. Seine Prinzipien sind jedoch zutiefst humanistisch, sie werden von einer Art Religion des Dialogs und des pragmatischen Kompromisses gestützt. Vielen Völkern und Ländern ließ und lässt Amerika Gutes zukommen, selbst ehemaligen Gegnern. Dies wird, hoffentlich, auch in Afghanistan der Fall sein."

Weitere Artikel: Urs Schoettli hat das von I.M. Pei entworfene Miho-Museum unweit von Kyoto besucht. Besprochen werden zwei Uraufführungen des Balletts Freiburg Pretty Ugly.

In Literatur und Kunst blickt Han-Albrecht Koch ziemlich kritisch auf das gerade laufende, von der Öffentlichkeit aber kaum bemerkte Preußenjahr: "Die Publikationen zum Preußenjahr machen einen vergleichsweise braven Eindruck und muten zuweilen diffus bis zur Beliebigkeit an."Unter anderem macht Koch den Veranstaltern den Vorwurf, Polen nicht mit in die Gestaltung des Jahres einbezogen zu haben.

Ein kleines Dossier ist türkischer Literatur gewidmet. Kenan Cayir betrachtet türkische islamistische Literatur als Spiegel neuer Lebensformen und warnt vor der Schilderung der Islamisten als antimodernen Ideologen: "Keineswegs nur rückwärts gewandt, wollten sie sich die Möglichkeiten und Institutionen der Moderne zunutze machen, was zu einer erbitterten Auseinandersetzung über Ideen wie Demokratie, Zivilgesellschaft oder die Grenzziehung zwischen öffentlicher und privater Sphäre führte."

Zum Dossier gehören zwei weitere Artikel. Monika Carbe befasst sich mit türkischer Literatur im deutschen Sprachraum. Und Ludwig Ammann liest Yasar Kemals Roman Die Ameiseninsel".Weiteres: H. D. Kittsteiner versucht in einem längern Essay die "Skizze einer Epochengliederung" und setzt sich mit Denkern wie Nietzsche und Baudelaire auseinander, die den Begriff des Fortschritts in Frage stellten. Friedrich Niewöhner denkt über Lessing und den Islam nach. Matthias Frehner besucht den Eisenplastiker Oscar Wiggli im Jura. Und Donat Rütimann liest die Schriften Alberto Giacomettis.

SZ, 10.11.2001

Rechtzeitig zur WHO-Konferenz in Doha, Qatar (mehr hier), meldet sich Naomi Klein ("No Logo") in der SZ zu Wort. Kamikaze-Kapitalismus nennt sie griffig, was da am Persischen Golf trotz extremer Gefährdung durch mögliche Selbstmord- oder sonstige Attentate stattfindet. "Aber warum tun sie es? Wahrscheinlich aus demselben Grund wie all die anderen Menschen, die jemals ihr Leben für eine Sache riskiert haben: Sie glauben an einen Kanon von Geboten, der ihnen Transzendenz verheißt. In diesem Fall lautet der Name des Gottes 'Wirtschaftswachstum', und er verspricht, uns vor der globalen Rezession zu retten." Das eher religiöse denn wirtschaftliche Ziel des Ganzen, meint Klein, sei es, ein Zeichen zu setzen, "dass das Wachstum bald wieder kommen wird und die Expansion kurz bevorsteht."

In einem anderen Beitrag erläutert Tariq Ali, warum Saudi-Arabien seiner Meinung nach ein fataler Verbündeter ist: "Ob die Truppen, die jetzt entsandt werden, die Arme des wahhabitischen Kraken erfolgreich abschneiden oder nicht, der Kopf sitzt gesund und munter in Saudi-Arabien, wo er über die Ölquellen wacht, neue Waffen herbeischafft und von den amerikanischen Soldaten des US-Luftwaffenstützpunkts Dhahran beschützt wird. Washingtons Versäumnis, seine lebenswichtigen Interessen vom Schicksal der saudischen Monarchie abzukoppeln, könnte zu einem weiteren Rückschlag führen."

Weitere Artikel: Rainer Stephan findet, es ist die Angst vor der Zerreißprobe, die die Grünen zerreißt, Ulrich Raulff über die glanzvolle Wiederauferstehung der Tate Britain, die mit einer Doppelausstellung gefeiert wird, Oliver Fuchs attestiert MTV und seinen Europe-Awards Bedeutungslosigkeit, Andrian Kreye stellt den Nachfolger Rudolph Giulianis vor: Mike Bloomberg, Jürgen Berger weiß, warum das Heidelberger Theater nur zweite Liga ist, Thomas Kirchner sagt, wie sich die Schweiz in die Zukunft retten will, Marc Deckert untersucht das Bild der 30-Jährigen in den Medien und fragt rhetorisch: Brauchen wir diese Nabelschau? W.-E. von Lewinski schreibt zum Tod des Musikwissenschaftlers Peter Gradenwitz.

Besprochen werden ein Panoptikum über öffentliche Kultur in Hamburg 1700-2000, das die Cornell University im Staate New York ausrichtet, und der Kinofilm "Unter dem Sand" von Francois Ozon.

Außerdem schreibt Martin Mosebach ("Der Nebelfürst") über eine Pilgerfahrt zum Festival der Volksmusik in Samarkand. Auf dem Basar von Taschkent haben ihn besonders die blitzenden Zähne entzückt: "Die junge Verkäuferin lächelt und entblößt dabei Zähne aus warm leuchtendem Rotgold. Auch ihre Mutter hat reingoldene Zähne, und das Gebiss des würdigen Vaters, der Artischocken schält, ist gleichfalls aus lauterem Gold ... Die Frauen zeigen ihre schönen Gesichter, aber tragen ihre Brautkrone im Mund und lassen sie gelegentlich aufblitzen, eine Verheißung von innerem Reichtum, der keine Phrase ist, sondern überprüfbare Wirklichkeit."

Otto Krätz erzählt in der SZ am Wochenende die Erfolgsgeschichte Alfred Nobels und seiner zündenden Ideen, Viola Schenz erklärt, wie die Expansion der Super Book Stores zu einer neuen Blüte des literarischen Lebens in den Kleinstädten der USA geführt hat und Klaus Modick erinnert sich an eine Kommune-Reise nach Knossos in den frühen 70ern und wie er in den Palast der Königin einbrach, um den Fries der Delphine bei Kerzenlicht zu sehen. Nach ein paar Joints fingen die lustigen Meeressäuger zu tanzen an.

FR, 10.11.2001

Thomas Hettche ("Der Fall Arbogast") liefert einen herzzerreißenden Nachruf zu Lebzeiten auf die vielen Währungen, die demnächst im Euro aufgehen werden, samt ihres jeweiligen besonderen Habitus'. Die Lira in Italien z.B.: "Anders als fast überall gab man dort nicht der Münze mit dem höchsten Nennwert das größte Gewicht, sondern machte diejenige zu 100 Lire besonders groß und schwer. Mir schien es immer, als habe man versucht, auf diese Weise den Takt des Landes sozusagen im Gewicht der eigenen Börse abzubilden. War man viel unterwegs und erhielt also überdurchschnittlich viel Wechselgeld mit geringem Nennwert, klimmperten die Geldstücke zu 100 Lire laut und gewichtig. Lebte man dagegen bedächtig und eher hochpreisig, sank das Börsengewicht und man fühlte sich leicht und ungebunden."

In den USA wird weiterhin ernsthaft die Folter an Terroristen debattiert. 45 Prozent der Amerikaner stimmen dafür. Eva Schweitzer zeichnet die Debatte nach und begründet sie mit der hysterischen Stimmung in den USA, angeheizt durch die Milzbrand-Anschläge. "Folter jedoch ist in den USA verboten - auch wenn bisweilen Gefängnispraktiken wie das monatelange Anketten von aufsässigen Gefangenen an Folter heranreicht. Verboten wäre auch, durch Folter erpresste Geständnisse vor Gericht zu verwenden. Deshalb wird laut Washington Post im FBI über andere Wege nachgedacht: Verdächtige unter Drogen zu setzen oder sie an Staaten auszuliefern, in denen Folter legal ist".

Ferner: Christian Schlüter folgt den Grünen auf ihren Abwegen und findet sie schließlich gar nicht soo abwegig, Elke Buhr erzählt mit Schmerzen von der Verleihung der MTV-Awards, Manfred Schneider erinnert an den Skandalphilosphen Julien Offray de La Mettrie (mehr hier), der vor 250 Jahren starb, und der englische Lyriker John Berger ("Wegzeichnung") nimmt uns mit auf einen Gang auf den Spuren von Madame de Pompadour.

Besprochen werden Michael Winterbottoms neuer Film "Das Reich und die Herrlichkeit", Elmar Goerdens Einstandsarbeiten (Handke und Schimmelpfennig) in München, Undine Gruenters labyrinthischer Roman "Das Versteck des Minotauros" sowie ein interdisziplinäres Lexikon zur "Erinnerung" (auch in unserer Bücherschau Sonntag ab 11 Uhr).

TAZ, 10.11.2001

In der taz behauptet Ralph Bollmann, Angela Merkel müsse erst zu sich selbst finden, bevor sie an der CDU-Spitze bestehen könne, und rät zu diesem Zweck zu Nestroy: "Der CDU-Vorsitzenden ergeht es wie dem rothaarigen Titus Feuerkopf in Johann Nestroys Wiener Posse 'Der Talisman'. In einer Gesellschaft, die Rothaarige diskriminierte, stülpt sich Nestroys Held eine schwarze Perücke über wie Angela Merkel ihre ultrakonservativen Positionen. Und siehe da: Jener Titus Feuerkopf, dem bislang niemand etwas zutraute, macht plötzlich Karriere. Doch irgendwann durchschauen die Betrogenen das Spiel ... Und Titus selbst, den Umgang mit Perücken nicht gewohnt, greift versehentlich zum blonden Exemplar - ganz so, wie sich Merkel mit ihrem Vorstoß in Sachen Bundeswehr vergriffen hat." Bei Nestroy indes folgt der Enttarnung das glückbringende Bekenntnis des Helden zum roten Schopf.

Außerdem im Blatt: wie Tobias Hülswitt auf Lesetour in den Staaten einen Snack vermisste und ein winziger Sylvester Stallone im unversehens entgegentrat. Ulf Erdmann Ziegler verrät, wieso Andy Warhol überlebt hat und die Twin Towers nicht.

Und im tazmag gibt Kurt Oesterle Geschichten über das Lied "Ich hatt einen Kameraden" ("die heimliche deutsche Hymne") zum Besten, das zum Volkstrauertag wieder überall zu hören sein wird ? allerdings nur noch ohne Text. Verena Kern entlarvt das Kinderbuch als Selbstgespräch der Erwachsenen. Die Kinder selbst, glaubt Kern, "werden auf die Tatsachen eingeschworen beziehungsweise auf das, was die Erwachsenen für Tatsachen halten, als sei die Sorge berechtigt, der Realitätssinn könne sich andernfalls nicht entwickeln. Und als müsse derjenige, der einen Möglichkeitssinn entwickelt, zwangsläufig Schiffbruch erleiden."

Schließlich noch Tom.