Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.11.2001. Richard Rorty wirft den europäischen Intellektuellen Denkfaulheit vor, berichtet die SZ. Die taz dokumentiert einen Vortrag von Navid Kermani über den Opferkult der Schiiten und moderne Selbstmordattentäter. Die FAZ erzählt derweil, wie die Österreicher nach dem Krieg mit geraubter Kunst verfuhren...

NZZ, 20.11.2001

Sandrine Wilhelm berichtet über die New Yorker Theatersaison, beklagt zunächst, dass die Amerikaner nach 6.000 Toten ihren Patriotismus nicht im Zaum halten können und kommt dann auf Tony Kushners Stück "Homebody/Kabul" zu sprechen, das vor dem 11. September geschrieben wurde - Kushner bekennt, sich schon lange für Afghanistan zu interessieren. "Die Handlung spielt 1998 und zeigt eine gutbürgerliche Londonerin, die nach der Lektüre eines Reiseführers von 1961 nach Kabul aufbricht, während zeitgleich afghanische Flüchtlinge in Grossbritannien eintreffen. Tony Kushner ist gegen den Krieg, er verurteilt die 'Cowboymentalität', plädiert für Widerstand gegen Bush und einen Erlass der Drittweltschulden." Na sehen Sie, es gibt doch auch gute Amerikaner!

Weiteres: Hubertus Adam schreibt über den bedeuernswerten Abriss des Zürich-Hochhauses in Frankfurt. Claudia Schwartz bereitet uns auf kommende und schon laufende Mies-van-der-Rohe-Ausstellungen in Berlin vor. Jörg Ulrich vermeldet das erstmalige Erscheinen der Memoiren des kommunistischen Renegaten Victor Serge im Russischen. Besprochen werden Robert Wilsons "Siegfried"-Inszenierung in Zürich, Richard Wherlocks Tanzabend "Wunderbar" in Basel, eine Diskussion mit Richard Rorty in der Schaubühne und einige Bücher, darunter Adriano Sofris "Die Gefängnisse der anderen" und Louise Erdrichs Roman "Die Antilopenfrau".

FR, 20.11.2001

Florian Rötzer wird für seine These in der aktuellen Ausgabe des "Kunstforums" kritisiert, der 11. September sei ein "Spektakel um Aufmerksamkeit" gewesen. Obwohl es ihm dabei um die "Bedeutung der Bilder ... für das öffentliche Bewusstsein" gehe, erkläre er damit "Bin Laden und Mohammed Atta zu Entertainern, .. die ihre Kommunikationsstrategien nur besonders extrem verfolgen" ? indem sie sich in ihrem "künstlerischen Akt" Neil Postmans These von der medial bedingten Gewaltgewöhnung und dem ihr "immanenten Steigerungsverlangen ... inszenatorisch zunutze" gemacht hätten. Mit dieser Sicht, so die FR, habe Rötzer allerdings nicht nur seine eigene Medienkritik "desavouiert".

Petra Kohse fahndet im "Wunderland Theater" respektive in diversen aktuellen Inszenierungen auf deutschen Bühnen nach den Modellen gängiger "Identifikationsangebote für das postmoderne, postideologische, zunehmend an Gut-Böse-Dichotomien interessierte Individuum". Stephan Hilpold war derweil in Wien und resümiert für uns das fortgesetzte Theater um das Theater in der Josefstadt. Des weiteren lesen wir einen Bericht über einen Auftritt von Imre Kertesz bei den "Weltenbürgern" in Hannover, wo er über sein Selbstverständnis als jüdischer Schriftsteller Auskunft gab. In einem Nachklapp auf das 50te Filmfest Mannheim-Heidelberg erfahren wir alles über Programm und Preise, ein Gespräch mit dem Kurator einer Zürcher Ausstellung informiert uns über Fragen der Datierung und Präsentation afrikanischer Kunst.

Besprochen werden die Ausstellung "New Heimat" im Frankfurter Kunstverein, die ethnologische Objekte mit zeitgenössischer Kunst zusammenbringt, und aus Zürich kommt eine Besprechung von Robert Wilsons "Siegfried".

TAZ, 20.11.2001

Für die taz-Lektüre braucht man heute etwas Zeit: Die gekürzte Fassung eines Vortrags, den der Islamwissenschaftler Navid Kermani in Berlin gehalten hat, bringt es noch immer auf 930 Zeilen. Kermani geht darin der Frage nach, was den Opferkult der Schiiten im Iran mit den Assasinen und den heutigen Selbsmordattentätern verbindet. Sein Befund: Den Koran für die Ursprünge des 11. Septembers verantwortlich zu machen "verharmlost, ja führt in die Irre". Er sieht hier vielmehr einen "bekenntnislosen Terror" am Werk, der sich gegen einen Feind richtet, "der zur Abstraktion geronnen ist, ...eine schon metaphysisch zu nennende Übermacht". Die zeitliche Inszenierung in New York beweise, dass sich das "nicht afghanische Stammeskrieger ausgedacht (haben), sondern Menschen, die in eben jener Gegenwart stehen, die sie bekämpfen".

Gerrit Bartels begeistert sich für Dave Eggers Roman "Ein herzzerreißendes Werk von umwerfender Genialität". Nach einem quälend kryptischen und langen Vorwort, erwarte einen ein "schönes, trauriges und rasantes Buch" über die Familie des Autors in einem weißen Suburb von Chicago. Besprochen wird außerdem der neue Krimi von Jean-Patrick Manchette, und die taz entdeckt mit dem "messedesignjahrbuch 2001" die Tendenz, Verkaufsräume auf Messen nicht mehr von den Firmen selbst, sondern zunehmend von Fachleuten gestalten zu lassen.

Im Ressort Politisches Buch wird heute gelobt: "Brillanz" bescheinigt Robert Misik dem ersten Band von Manuel Castells Trilogie "Die Netzwerkgesellschaft", und "kundig" beurteilt der Rezensent eine Biografie Osama Bin Ladens von CNN-Reporter Peter Bergen (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und hier kommt TOM.

FAZ, 20.11.2001

Andreas Rosenfelder hat eine überfüllte Derrida-Konferenz in Anwesenheit des Meisters im bulgarischen Sofia verfolgt, und siehe, die Philosophie der Dekonstruktion erwies sich als eine politische: "Der schiere Name der 'Dekonstruktion', der seinen Elan im Westen weithin eingebüßt hat und der zumindest als Tagungstitel nicht mehr zieht, klingt in den ideologisch zerklüfteten Schluchten des Balkan noch wie ein ermutigender Kampfruf. Wo nach den Umbrüchen des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts vor allem die Identitätsfiktionen blühten, da steht eine Philosophie der Bruchlinien fast auf der politischen Agenda."

Stephan Templ erzählt anhand eines Falls, wie die Österreicher nach dem Krieg mit dem Problem der geraubten Kunst umgingen: "Der Zahnarzt Heinrich Rieger besaß bis 1938 die bedeutendste Sammlung österreichischer Gegenwartskünstler. Zudem gilt er als einer der Entdecker Egon Schieles. Er kam in Theresienstadt ums Leben, seine Frau wurde in Auschwitz ermordet. Der Sohn Robert flüchtete nach New York, von wo aus er nach dem Kriege versuchte, die Sammlung seines Vaters wiederzuerlangen." Allerdings wählte er einen Rechtsanwalt, der zugleich die Interessen eines Ariseurs vertrat. "Wen wundert es, dass Robert Rieger nur einen Bruchteil zurückbekam. Von den etwa achthundert geraubten Kunstwerken erhielt er elf zurück, der Rest galt als unauffindbar - einiges daraus wie Faistauers 'Waldinneres' kann nun in der 'Privatstiftung' Leopold bewundert werden."

Weitere Artikel: Gerd Roellecke findet den Protest gegen Otto Schilys Sicherheitspolitik "lächerlich". Eberhard Rathgeb erzählt neueste Episoden aus der Hamburger Suche nach einem Kultursenator. Werner Bloch berichtet vom Projekt des Basler Afghanistan-Museums, die von den Taliban zerstörten Bamiyan-Buddhas wiederaufzubauen. Marc-Christoph Wagner resümiert die dänische Buchmesse (die Dänen lesen viel erfahren wir, und dies, obwohl schon Taschenbücher im Schnitt 60 Mark kosten). Ingeborg Harms liest deutsche Zeitschriften. Martin Halter freut sich, dass auch Stuttgart nun ein Literaturhaus hat. Und Frank Ebbinghaus findet Guido Knopps Fernsehdokumentation über die Vertreibung, deren erster Teil heute im ZDF läuft, "überraschend differenziert"

Ferner resümiert Franz-Anton Cramer eine tanzwissenschaftliche Tagung in Berlin. Ralf Drost hat einem Kölner Kolloquium über Kultur und Zivilisation zugehört. Auf der Bücher-und-Themen-Seite denkt Waltraud Schelkle von der London School of Economics anhand neuere und älterer Bücher über die Zukunft des Wohlfahrtstaats nach. Andreas Rossmann lauschte Volker Schlöndorff beim Vortrag über die Frage, ob der deutsche Film besser sein könne. Andreas Obst gratuliert dem Rocksänger Dr. John zum Sechzigsten. Und Dieter Bartetzko hat den Schlagersänger Gunter Gabriel auf Tournee in deutschen Kasernen beobachtet: "Es steht ein Haus im Kosovo, das ist zerbombt und leer. Doch die Jungs aus good old Germany, die stell'n es wieder her."

Besprochen werden Karlheinz Stockhausens (mehr hier) "Freitag" aus "Licht" beim Festival in Forbach, Robert Wilsons "Siegfried"-Inszenierung am Opernhaus Zürich, Kurzdramen Philippe Minyanas am Bayerischen Staatsschauspiel, eine Ausstellung mit junger niederländischer Kunst in Groningen, die Uraufführung von Tim Staffels "Jeanne d'Arc" in Krefeld und eine Ausstellung über die Kunst der malischen Voksgruppe der Bamana in Zürich.

SZ, 20.11.2001

Im Streitraum der Berliner Schaubühne war am Sonntag der amerikanischen Philosoph Richard Rorty (mehr hier) zu Gast. Vorsichtige Versuche von Thomas Ostermeier, Mathias Greffrath und Jakob Augstein, Rorty die deutsche Kritik am Krieg in Afghanistan nahe zu bringen, ließen den Mann vollkommen ungerührt: "In Europa begnügt man sich gern damit, die Fehler der USA aufzuzählen ohne wirkliche Alternativen zu präsentieren. Unter europäischen Intellektuellen grassiert eine bestimmte Art von Denkfaulheit. Manche Argumente erinnern mich an die fünfziger Jahre. Als Martin Luther King die Bürgerrechtsbewegung ins Leben rief, entgegneten ihm die Konservativen, man müsse Verständnis für die spezielle Kultur der Südstaaten aufbringen ... Wenn heute gefordert wird, andere Kulturen zu tolerieren, habe ich den Verdacht, dass es wieder darum geht, die Herrschaft der Mächtigen über die Unterdrückten zu akzeptieren. Dabei mag die Durchsetzung westlicher Werte – und sei es mit militärischen Mitteln – für die Unterdrückten die einzige Hoffnung sein.

Andreas Zielcke billigt der Vertrauensfrage "Gestaltungskraft" zu. Sie sei "ein Mechanismus der Maßstabsvergrößerung, eben weil die Streitfrage nurmehr zur bloßen Vorfrage herabgestuft und mit der Fortführung des gesamten politischen Projekts der Regierung verknüpft wird. So wird es möglich, den gordischen Knoten prinzipieller Uneinigkeit nicht zu lösen, aber zu zerhauen – mit politischem Sinn und Verstand zu zerhauen."

Bernd Graff berichtet kurz von einem Vortrag Professor Rodney A. Brooks, Direktor der Forschungslaboratorien "Künstliche Intelligenz" am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in München: "Brooks glaubt, dass es in spätestens fünfzig Jahren in jedem Haushalt Roboter geben wird. Sie sollen waschen, putzen, babysitten, und darum sollen sie mit den Menschen auch kommunizieren können. Von friendly machines spricht der Professor." Dazu gehören Cog und Kismet. Süß, was? (Siehe dazu auch unsere Links zur Debatte hier, hier und hier)

Weitere Artikel: Arno Orzessek war bei einer Berliner Tagung zu Spionage und Widerstand im Zweiten Weltkrieg, "ein Forschungskrimi", schreibt er. Ijoma Mangold kündigt Veränderungen des Gesetzesentwurfs zum Urheberrecht an. Fritz Göttler hat internationale Journale durchgeblättert. Und Jonathan Fischer meint, der neue deutsche Schlager heißt Soul.

Besprochen werden Robert Wilsons "Siegfried" in Zürich ("Zwar erfährt der Betrachter kaum Genaueres über die psychologische Konfliktlage ... Doch dafür versteht er, dank der Kunst hervorragender Sänger, von Wagners Texten in dieser Aufführung umso mehr", schreibt Wolfgang Schreiber). Oskaras Korsunovas Gastspiele "Sommernachtstraum" und "Meister und Margarita" in Berlin, die erste Retrospektive des Fotografen Thomas Ruff in der Kunsthalle Baden-Baden, eine Choreografie von Meg Stuart am Schauspielhaus Zürich und Philippe Minyanas "Kurzdramen I", inszeniert von Jarg Pataki im Münchner Haus der Kunst.