Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.11.2001. In der Zeit plädiert Peter Schneider gegen das gute Gewissen. In der FR empfiehlt Dirk Baecker Gewaltrituale gegen den Krieg. In der FAZ ruft Joachim Seyppel: Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten! Die SZ verteidigt Hogwards als Utropie der guten Schule. In der taz sieht Michael Rutschky die Grünen auf dem Weg nach draußen.

TAZ, 22.11.2001

Michael Rutschky erzählt noch einmal die Geschichte der Grünen: von Anfang an bis jetzt, wo sie "übers Politikmachen das Charisma der Protestbewegung, die Anschlussfähigkeit für den kategorischen Gegenwillen" verloren haben. Obwohl sie längst auf der Innenseite des politischen Systems angekommen sind und seit 1998 sogar mitregieren im Zentralstaat, sind sie in Rutschkys Augen "doch immer wieder" von Heimweh nach draußen erfüllt. Draußen, damit meint Rutschky die Natur. Die Grünen hätten einst Levi-Strauss' strukturalistischen Antagonismus Kultur/Natur "in das politische System der Bundesrepublik eingeführt und zum Arbeiten gebracht, wobei sie auch noch positive und negative Vorzeichen verteilten. Kultur ist negativ, Natur positiv, und auf welcher Seite die Grünen selbst sich verorteten, wissen Sie auf Anhieb." Natur und Kultur "bilden einen Code, der mannigfaltigste Inhalte zu schematisieren erlaubt." Was, wenn man Rutschky richtig deutet, der Wahrheitsfindung nicht in jedem Falle dienlich ist.

Außerdem: Birgit Glombizza ist mit Nanni Morettis "Das Zimmer meines Sohnes" nicht wirklich froh geworden. Gerade das kunstvolle Zuwenig des Films wurde ihr auf die Dauer zuviel. Christina Nord bespricht den Dokumentarfilm "Danach hätte es schön sein müssen" von Karin Jurschick. Und Christian Boecking schreibt über den "Fjord-Jazz" des Norwegers Jan Garbarek, der gerade durch Deutschland tourt.

Auf der Kommentarseite verficht Joscha Schmierer die These, dass sich die Grünen nicht für den Bellizismus entscheiden müssen, aber für eine neue Friedensordnung, die militärische Mittel nicht prinzipiell ausschließt.

Schließlich Tom.

NZZ, 22.11.2001

Claudia Spinelli porträtiert Jean-Christophe Ammann, Leiter des Frankfurter Museums für moderne Kunst (MMK), der das Haus Ende des Jahres verlassen wird. Spinelli ist von dem Mann höchst beeindruckt: "Ammann ist ganz und gar seiner Aufgabe verpflichtet. Er geht in seiner Funktion auf. Ein eigentliches Privatleben hat er nicht, höchstens ein paar Marotten - der Blick fällt auf das Werbeplakat einer bekannten Unterwäschefirma mit nicht ganz jugendfreiem Motiv. Es hängt an einer Wand des mit Bücherstapeln, Kartonschachteln und vielerlei Kleinigkeiten voll gestellten Büros. In einem Einmachglas ein faustgroßer Affe mit erigiertem Penis, daneben eine vergoldete Frauengestalt klassischer Prägung, ein persönliches Geschenk von Gina Lollobrigida. 'Und das', Ammann weist auf ein zerknautschtes Ding, 'das ist Hans Huckebein, der Unglücksrabe, ein Geschenk meiner Mutter und seit 1968, als ich Direktor des Kunstmuseums Luzern wurde, mein ständiger Begleiter'."
Weitere Artikel: Weitere Artikel: Thomas Hahn berichtet über die Hip-Hop-Tanzszene in Frankreich, die peu a peu von Frauen erobert wird. Roman Bucheli denkt über die rechtlichen Folge des umstrittenen Sale-Lease-Back-Vertrages nach, mit dem Gerd Haffmans seinen Verlag retten wollte. Und Joachim Güntner schreibt über die Verleihung des neu geschaffenen internationalen Buchpreises "Corine" in Bayern.
Besprochen werden ein Opernabend mit Händel und Purcell in München, der oberitalienische Theaterherbst mit Aufführungen in Mailand, Udine und Turin, "What Sound", das dritte Album des englischen Duos Lamb (mehr hier), und Bücher, darunter Peter Lobbes "erstaunliche" Erzählung vom Malen "Nach Delft gehen" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 22.11.2001

Zwei Kriegsgegner treten in der FAZ auf. Jürgen Todenhöfer, ehemals CDU-Politiker und Afghanistan-Experte, kritisiert, dass die Amerikaner mit der Nordallianz die Falschen an die Macht gebombt haben, fährt dann aber fort: "Nicht die Amerikaner, sondern die Afghanen selbst sollten Bin Ladin jetzt ausschalten. Bin Ladin hat mit seinen feigen Terroranschlägen gegen Unschuldige schließlich nicht nur den Freiheitskampf der Afghanen, sondern auch den Islam verraten. Bin Ladin möchte als Märtyrer sterben. Er will der Weltmacht Amerika unterliegen, nicht aber afghanischen Kämpfern. Man wird nicht zum Märtyrer, wenn man von afghanischen Muslimen ausgeschaltet wird."

Der Schriftsteller Joachim Seyppel, Jahrgang 1919, ist empört über die Bundestagsabstimmung zum Krieg: "Während es bekannt ist, dass die Bevölkerung mit großer Mehrheit diesen Kriegseintritt 'gegen den Terror' missbilligt als keinen Anti-Terror-Krieg, statt dessen mit zahllosen Opfern unter Zivilisten. Das heißt mir Abschied von der SPD."

Weitere Artikel: Johan Schloemann schreibt zum hundertsten Geburtstag des Times Literary Supplement und Historikerdebatten über die einflussreiche Zeitschrift, über die übrigens auch ein voluminöses Buch erscheinen ist. Martin Mosebach legt eine Nina Simon illustrierte Erzählung vor: "Das Taubenei". Die Stammzellforscher Konrad Bayreuther und Anthony D. Ho betonen: "Schon seit langem haben Stammzellen aus ethisch unproblematischen Quellen ihre Vielseitigkeit unter Beweis gestellt", womit auf embryonale Stammzellen verzichtet werden kann. Martin Vogel, einer der Autoren der von der Bundesregierung geplanten Urheberrechtsreform, deren Entwurf jetzt entschärft wurde, meint entgegen der FAZ vor zwei Tagen: "Von einer Kapitulation der Justizministerin kann .. keine Rede sein, obwohl mancher Änderungsvorschlag schmerzt."

Ferner liefert Dirk Schümer weitere Impressionen über sein beneidenswertes "Leben in Venedig" ? es geht um die jüdische Gemeinde in der Stadt. Ilona Lehnart resümiert eine Berliner Tagung der Unesco über den "Dialog der Kulturen" Auf der Medienseite berichtet Julia Macioti über Spekulationen zum Tod der italienischen Journalistin Grazia Cutuli vom Corriere in Afghanistan: "Von besonderer Brisanz ist die These, daß die Sizilianerin Cutuli und der Spanier Fuentes ermordet wurden, weil sie Bin Ladin und seiner Terrorgruppe zu nahe kamen. Die beiden Journalisten hatten Recherchen zu einem Lager unternommen, in dem die Terrororganisation Al Qaida chemische Waffen gelagert haben soll." Und Zhou Derong berichtet aus China über internationale Propagandaoffensiven der Kommunistischen Partei, für die sich auch Konzerne wie AOL Time Warner einspannen lassen, die dort neue Sender gründen wollen. Auf der Filmseite wird die Filmreihe "Unseen Cinema" vorgestellt, die demnächst in Frankfurt und Berlin läuft. Und auf der letzten Seite liefert Klaus Ungerer Rückansichten des SPD-Parteitags. Außerdem stellt Martin Halter den Leiter des neuen Stuttgarter Literaturhauses, Florian Höllerer vor, und Heinrich Wefing analysiert den Etat des Bundes-, Staats- oder Kulturministers Nida-Rümelin.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Bruegel-Zeichnungen in New York, ein Konzert mit Cecila Bartoli und Nikolaus Harnoncourt in Frankfurt, Nanni Morettis Film "Das Zimmer meines Sohnes", zu dem Andreas Kilb sowohl ein Interview mit dem Regisseur führte, als auch aus dem Italienischen übersetzte, Händel- und Purcell-Opern in München und Lichtinstallationen von James Turrell in Zürichs neuem "Haus konstruktiv".

Zeit, 22.11.2001

Peter Schneider macht in einer kleinen Polemik (die die Zeit bescheiden auf Seite 2 des Feuilletons platziert) deutlich, dass auch gutes Gewissen böse Folgen haben kann: "Das gute Gewissen, das die Friedensfreunde mir voraushaben, lässt sich nur behaupten, wenn dessen Preis verschwiegen wird. Wer den sofortigen Stopp des amerikanischen Bombardements und die Abstinenz der Bundeswehr forderte, nahm in Kauf, dass das 'Volk' von Afghanistan weiterhin von einer islamistischen Machokultur vergewaltigt würde. Er nahm in Kauf, dass Millionen von Flüchtlingen, zu denen die Hilfsorganisationen jetzt vorstoßen, nur aus der Luft hätten versorgt werden können. Er nahm in Kauf, dass islamistische Fanatiker, die Allah auf ihrer Seite wissen und sich für unbesiegbar halten, eine halbherzige Weltmacht umso entschlossener angreifen würden. Er nahm in Kauf, dass eine Bundesrepublik, die, statt ihren Bündnispflichten nachzukommen, der Welt Lektionen im friedlichen Umgang mit Terroristen erteilte, auf Jahre hinaus isoliert wäre." Auch moralischer Komfort hat halt seinen Preis.

Christoph Dieckmann antwortet auf Klaus Harpprechts Einwendungen, zu seinem Essay vom 9. November, der aus gegebenen Anlass Israels "Selbsterwählungshybris" geißelte: "'Hält nicht Israel bis heute fremde Erde und büßt dafür mit Tod und tötet jeden Tag?' Das bezog sich ausschließlich auf die okkupierten Gebiete." Ach so!

Weiteres: Aufmacher ist ein Essay von Thomas E. Schmidt zum "Abschied von Rot-Grün". Ulrich Stock hat Peter Eszterhazy (dessen "Harmonia Caelstis" als eines der Bücher der Saison betrachtet werden darf) in Ungarn besucht und liefert eine schöne, ganzseitige Reportage. Konrad Heidkamp ist vom Harry-Potter-Film enttäuscht, weil er sich zu eng an die literarische Vorlage halte. Chritof Siemes porträtiert den japanischen Unternehmer und Stifter der Kyoto-Preises Kazuo Inamori. Christoph Dieckmann berichtet von Wolf Biermanns Auftritt im Berliner Ensemble zum 25. Jahrestag seiner Ausbürgerung aus der DDR. Heike Kühn stellt Nanni Moretti und seinen neuen Film "Das Zimmer meines Sohnes" vor.

Und Thomas Groß hält fest, was die neue CD von Cher mit ihm macht: "Auf den ersten Blick eine leicht überirdische Erscheinung, die da vom Cover herabsteigt, eine Sturmgeburt vor gewittergrauem Himmel. Auf den zweiten meint man, seiner alten Aerobic-Lehrerin wiederzubegegnen. Der dritte verliert sich in den Wirren von Kunst- und Pophistorie: ein wenig Botticelli, ein wenig Disney, Vegas, Art Deco."

Aufmacher der Literaturseite ist ein Plädoyer Dorothea Dieckmanns für "die Wiedereinführung des Begriffs Trivialliteratur".

Hinzuweisen ist außerdem auf ein Gespräch mit Ernst-Ludwig Winnacker von der DFG über Wohl und Wehe der Stammzellforschung im Wissen-Teil.

FR, 22.11.2001

Die FR fällt ja mitunter durch einen Hang zu Forschung und Belehrung auf. So wird heute ein Vortrag des Unternehmensoziololgen Dirk Baecker (mehr hier) dokumentiert, der sich komplizierte Gedanken über die Möglichkeit der Zunft macht, die gegenwärtige Krise zu beschreiben, ohne ein Teil davon zu sein. Dabei blickt er mit einem Auge auf das friedliche Volk der Balinesen, das durch ein Gewaltritual in Form eines blutigen Hahnenkampfs seine Aggressionen domestiziert. Gesellschaften ohne Gewaltritual haben es da Baeckers Ansicht nach schwerer. Auch befindet sich die Soziologenzunft Baecker zufolge in der Zwickmühle, weil man sich, liest man staunend, "mit der Ablehnung des Krieges zwar moralisch auf der besseren Seite glauben kann, dass jedoch nur die Zustimmung zum Krieg auf der Höhe der Empirie der Gesellschaft operiert." Aber die Gesellschaft "ruht nicht eher, als bis sie aus diesem Ereignis und denen, die auf es folgen, eine Perspektive abgeleitet hat, die es erlaubt, den Konflikt zu beobachten, mit dieser Beobachtung an dem Konflikt teilzunehmen und diese Teilnahme zu seiner Entschärfung zu nutzen." Die Soziologie vermutlich auch nicht.

Martina Meister hat die französische Gegenwartsliteratur unter die Lupe genommen und reichlich frivol gefunden. "Tatsächlich dürfte es leichter sein unter den Neuerscheinungen des Bücherherbstes die Romane zu zählen, in denen bestimmte Geschlechtsbezeichnungen nicht auftauchen, als umgekehrt." In einem zweiten Artikel freut sie sich für Julian Nida-Rümelin, der auf seiner haushaltpolitischen Pressekonferenz verkündet hat: "Alle kulturpolitischen Ziele sind, soweit sie finanzielle Dimensionen haben, erreicht." Nida-Rümelins Verhandlungserfolg findet sie angesichts der Milliardenlöcher durch geringere Steuereinnahmen, die Finanzminister Hans Eichel erwartet, beträchtlich.

Weiter Artikel: Vorfreudig berichtet Daniel Kothenschulte von den Plänen des neuen Berlinale-Chefs Dieter Kossliks. Wortreich widmet sich Harry Nutt dem Wiedereintritt der Grünen in die politische Handlungsfähigkeit. Dirk Fuhrig kommentiert die geplante Reform des Urhebervertragsrechts.

Besprechungen: Udo Feist hat das neue Album der Elements of Crime (mehr hier) gehört und darin Parallelen zu Rilke gefunden. Außerdem gehe es Band und Album "um Alltag als philosophischen Ort, mit seiner banalen Pausenlosigkeit, aber zugleich mit jener Sexiness, zu der nur Pop in der Lage ist". Und Matthias Dell schreibt über die Nan-Goldin-Retrospektive im Pariser Centre Pompidou. Schließlich werden Bücher besprochen, darunter eine Biografie Emmy Ball-Hennings (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 22.11.2001

"Wie furchtbar", fragt Thomas Steinfeld in der SZ, "muss das niedere Bildungswesen heute sein, wenn die 'Harry Potter'-Bände, die erfolgreichsten Bücher der vergangenen Jahre ­und einer der beiden großen Filme dieses Herbstes im wesentlichen von einer guten Schule handeln. Und wie dumpf und dumm muss sich ein Politiker der CSU machen, wenn er mit altem Schmutz-und-Schund-Reflex ausgerechnet den Traum von einer guten Schule als eine besonders gefährliche Spielart des 'Okkultismus' entlarvt zu haben glaubt." Daneben wirft Fritz Göttler einen Blick in amerikanische Harry-Potter-Filmkritiken.

Petra Steinberger erklärt, warum der Westen in Afghanistan einen neuen Staat aufbauen muß, dafür aber keine Dankbarkeit erwarten darf. Ängste vor imperialistischem Nation-Building nach dem Vorbild der Fünfziger und Sechziger Jahre findet Steinberger zwar nachvollziehbar, in diesem Fall jedoch nicht angebracht. Außerdem "gibt es mindestens zwei Beispiele für erfolgreiches nation-building, und keine unbedeutenden. Sie liegen schon etwas länger zurück: In Deutschland und Japan wurden nach dem Zweiten Weltkrieg zwei bis heute recht gut funktionierende Demokratien etabliert, mit jahrelanger Hilfe -­ aber auch Nachdruck -­ der Alliierten."

Jörg Hänzschel untersucht die große Wirkung der gegenwärtigen Norman-Rockwell-Schau im New Yorker Guggenheim Museum. 'Wer hätte geahnt, wie bedeutsam diese Ausstellung werden würde?', wird "der sonst unsentimentale Guggenheim-Chef Thomas Krens" zitiert. Guggenheim-Kurator Robert Rosenblum habe Rockwells Bilder "keineswegs kritisch ­als 'comfort food' für die amerikanische Seele" bezeichnet, "also als ästhetisches Äquivalent zu Chips und Donuts, die nach dem 11. September in bislang unerreichten Mengen verschlungen wurden".

Weitere Artikel: Vom Nürnberger Parteitag der SPD berichtet Jakob Augstein. Dortselbst hat Johannes Willms Otto-Schily-Exegese betrieben. In Frankfurt hat Benjamin Henrichs verschiedene Formen von Theaterwahn diagnostiziert. Friedemann Vogt berichtet von einer Tagung über die Schrecken Gottes in Berlin. Dietmar Schellin schreibt schreibt über Querellen in Zusammenhang mit der Entlassung des Saarbrücker Museumsdirektors Güse. Marianne Heuwagen liefert einen Kommentar zur Haushaltspolitik des Kulturstaatsministers, und aster stellt das neue Berlinale-Team um Dieter Kosslik vor.

Besprochen werden Nanni Morettis Film "Das Zimmer meines Sohnes". Außerdem - ein Gespräch mit Nanni Moretti . "Eine eigentümliche Form von Balkan-Hipness" bescheinigt ein Kritiker einer Reihe von slowenischen Filmen, die im Münchener Kino "Arena" zu sehen waren. Reinhard J.Brembeck hat Henri Purcells "Dido and Aeneas"und "Acis and Galatea" von George Friderick Handel (!) gehört und gesehen. Andreas Willink schreibt über die Krefelder Uraufführung von Tim Staffels "Jeanne d'Arc". Und Bücher, darunter ein Wendland-Lexikon (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).