Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.12.2001.

TAZ, 01.12.2001

Die taz bringt ein Gespräch mit dem iranischen Filmemacher Mohsen Makhmalbaf ("Kandahar"), der gerade einen Dokumentarfilm über die Bildungssituation in Afghanistan dreht. So erschüttert, wie Makhmalbaf angesichts der Situation im Land ist, so enttäuscht zeigt er sich über die Strategie der USA und ihrer Verbündeten. Hätten die Supermächte in den letzten 25 Jahren Bücher statt Bomben nach Afghanistan geschickt, erklärt er, hätte es dort weniger Raum für Ignoranz, Terrorismus und Tribalismus gegeben: "Als Afghane hat man keine Schulbildung, nichts zu essen und wegen der desolaten ökonomischen Situation - Afghanistan hat kein Erdöl wie Iran - auch keine Arbeit. Was bleibt, sind die Drogen oder der Krieg. Das ist kein Land, in dem sich leben lässt. Doch davon sprach vor dem 11. September niemand."

Ferner: Sebastian Handke stellt Thomas Christallers Studie über "Robotik. Perspektiven für menschliches Handeln in der zukünftigen Gesellschaft" vor, Katrin Bettina Müller berichtet von einer Pressekonferenz des Goethe-Instituts Inter Nationes ganz im Zeichen des "schrecklichen 11. September".

Im prallgefüllten tazmag kann Christian Semler sich auch mit Hilfe von Hans Delbrücks "Geschichte der Kriegskunst" keine Klarheit über den Krieg in Afghanistan verschaffen. Wir lesen die gekürzte Fassung der Eröffnungsrede zur neuen Wehrmachtsausstellung, in der der Militärhistoriker Hans-Erich Volkmann den Streit um die Wehrmachtsverbrechen als Streit um das schlechte Gewissen deutscher Täter und Mitläufer entlarvt, und blättern in einem Dossier zur Großschriftstellerfamilie Mann (u.a. mit einem Interview mit Horst Königstein, dem Mitautor des Films "Die Manns", der kommende Woche auf Arte zu sehen sein wird, und mit einer persönlichen Handreichung von Dirk Knipphals betreffend TM an spätpubertären Lesevormittagen oder später).

Lesenswerte Themen des Tages gibt es auch noch: Harald Frickes Nachruf auf den "unscheinbar netten" George Harrison: "Man muss nur die Augen schließen und sich andere Paarungen vorstellen: McCartney und Harrison sehen zu pomadig nebeneinander aus, zu sehr nach Provinz. Und Lennon mit Harrison, als die zwei Revolutionsvollbärte der Sixties, das ist später Russenzauber ohne Sex-Appeal. Nein, für George war kein Platz ganz vorne vorgesehen.") Und zur Frage, warum es der taz so gut geht. Der inhaltlichen Qualitäten wegen natürlich, meint Chefredakteurin Bascha Mika im Interview. Der Krieg ist eben der Vater aller Dinge.

Natürlich liegt es auch an Tom.

NZZ, 01.12.2001

Marc Zitzmann kommt noch mal auf Jean Baudrillards äußerst umstrittenen Text zum 11. September zurück (der in der SZ stark verkürzt nachgedruckt wurde). Baudrillard hatte darin in einem beliebten linkskonservativen Argument die "Immoralität der Anschläge" auf die "Immoralität der Globalisierung" zurückgeführt. Zitzmann zitiert aus einer Antwort Alain Mincs: "Müssen wir dieser Apologie (in Form einer Erklärung) des Terrorismus die geringste Beachtung schenken? Leider ja. Sie stammt von einer intellektuellen Majestät, einem jener Denker, deren Name die Medienwelt nur mit Respekt ausspricht . . .. Sie signalisiert die in der französischen Intelligenzia so angestammte Unfähigkeit anzuerkennen, dass es eine Hierarchie der Werte gibt und dass es nicht anstößig ist, sich auf eine Moral zu berufen."

Weiteres: Eric Facon schreibt unter der hässlichen Überschrift "Die talentierte Nebenfigur" zum Tod von George Harrison. Claudia Schwartz hat sich die renovierte Alte Nationalgalerie in Berlin angesehen. Brigitte Kronauer setzt die in der letzten Woche eröffnete Serie über das "Verschwinden" fort. Besprochen werden die Ausstellung "Sade/Surreal" im Kunsthaus Zürich, Jon Fosses "Traum im Herbst" in München und einige Bücher, darunter Axel Honneths "Leiden an Unbestimmtheit" und Michael Moshe Checinski "Die Uhr meines Vaters".

In Literatur und Kunst resümiert Susanne Schanda eine Begegnung mit Orhan Pamuk, dessen Roman "Rot ist mein Name" als eines der Bücher der Saison gilt. "Der Kosmopolit Orhan Pamuk steht nicht mit einem Bein in Europa und dem anderen in Asien, denn dafür ist der Bosporus zu breit. Im Cihangir-Viertel Istanbuls, auf einem der zahlreichen Hügel der Stadt, hoch über dem Bosporus, blickt er von seinem Schreibtisch über die spitzen Minarette einer Moschee hinweg - nach Asien hinüber: 'Der Osten kommt immer näher an den Westen heran', sinniert er in fliessendem Englisch, 'Istanbul war während meiner Kindheit viel europäischer.'"

Weiteres: Martin Kaltenecker stellt den Komponisten Hugues Dufourt und die Spektralmusik vor. Thomas Macho schreibt zum 100. Jubiläum der Nobelpreise. Theo Hirsbrunner porträtiert die finnische Komponistin Kaija Saariaho. Besprochen werden einige Bücher, darunter, sehr ausführlich, Paul Celans Briefwechsel mit Hermann und Hanne Lenz , die neue Herrmann-Hesse-Ausgabe und eine Monografie über Dieter Schnebel.

FR, 01.12.2001

Eva Schweitzer graut gehörig vor den antidemokratischen Tönen, die in den USA nach den Anschlägen immer lauter werden. "Fernsehsender werden wie selbstverständlich zensiert, ihre Manager ins Weiße Haus einbestellt. Leser und Anzeigenkunden machen immer wieder Druck auf Verleger ... Bush schränkte den 'Freedom of Information Act' ein, der Bürgern den Zugriff auf Regierungsakten gestattet, und erlaubte es, Gespräche zwischen Anwälten und Klienten vom Geheimdienst belauschen zu lassen. Und die Einwanderungsbehörde INS kann Immigranten nach Belieben festhalten, selbst wenn ein Richter die Freilassung angeordnet hat." Besonders erschreckend findet Schweitzer, dass die linken Intellektuellen der USA praktisch verstummt sind. Das Fehlen einer US-amerikanischen Debattenkultur mache sich jetzt schmerzlich bemerkbar.

Ulrich Holbein, selbst erklärter Klassikfan, enthüllt für uns die Tragik des soeben verstorbenen George Harrison: "So reich und schön George auch immer blieb und wurde, es gab da den Stachel: zwar über Ringo zu stehn, ansonsten aber - neben Lennon/MacCartney - immer nur Bratsche zu spielen. Bei Lady Di bleibt der Aufschrei jederzeit größer, und dies forever, als bei einem, der ein Werk vorweisen kann, x Alben. John starb als Held, George bloß so unrühmlich wie Reval- & Marlboro-Mann."

Außerdem zu lesen: der Vorabdruck eines Kursbuch-Essays, in dem Silvia Bovenschen über ihr literaturgestütztes "inneres Heldentum" nachdenkt, Martina Meister erstarrt fast vor Ehrfurcht angesichts der Wiedereröffnung der Alten Nationalgalerie in Berlin, Jörg Aufenanger erinnert an Christian Dietrich Grabbe, der vor 200 Jahren zur Welt kam, Michael Buselmeier führt durch jüngste Ausgaben von "Akzente", "metaphora" und "die horen".

Besprochen werden Stanlislaw Muchas Dokumentarfilm "Absolut Warhola" über die urige Verwandtschaft des Pop-Artisten, Luk Perceval Fassung von Fosses "Traum im Herbst" in München, Bilder der Brücke-Maler in einer Ausstellung in Dresden und Bücher, darunter Ricarda Bethkes autobiografischer Roman "Die anders rote Fahne" (siehe auch unsere Bücherschau am Sonntag ab 11 Uhr).

Im Magazin schließlich spricht Wolfgang Schäuble über die geniale Reichstagskuppel und warum er kein Verhältnis zu seinem Attentäter entwickelt hat. Und Hans W. Korfmann folgt den Windungen des spanischen Ebro von den Picos de Europa bis zum Mittelmeer.

FAZ, 01.12.2001

Edo Reents schreibt eine schöne Hommage auf George Harrison und nennt "While my Guitar Gently Weeps" vom Weißen Album zurecht "ein Meisterwerk, das selbst diese Platte noch aufwerten konnte". Er sang "mit der Scheu von einst, und so spielte er auch: verhalten, schleppend, aber im richtigen Augenblick jaulte die Leadgitarre in dosierter Schrille auf, als sollte der Titel damit unterstrichen und zugleich konterkariert werden." Wir verweisen auf unseren kleinen Link des Tages zu Harrison, den wir gestern vormittag ins Netz gestellt haben mit einigen schönen Links zu alten Interviews mit Harrison.

Hannes Hintermeier verspricht "schrille Töne" zwischen den Buchverlagen von Springer und Bertelsmann, aber allzu schrill liest sich sein Artikel dann doch nicht. Immerhin erfahren wir, dass beide Häuser Probleme haben: "Vor allem im Ratgeberbereich ist die Krise gravierend. Bertelsmann hat mit dem Falken Verlag ein Kuckucksei gekauft, Springer hadert mit seinem Sorgenkind Südwest Verlag. Die Umsätze sind eingebrochen, das Wort von der 'Standortschließung' macht die Runde."

Eduard Beaucamp begutachtet die restaurierte Berliner Nationalgalerie. Schön, meint er, aber die Sammlung hat Schwächen: "Trotz aller Herrlichkeit fällt aber nun der Rückstand gegenüber der Neuen Pinakothek auf. In München wurde der nationale Kernbestand durch bedeutende Erwerbungen der Nachkriegszeit glücklich erweitert. In Berlin würde die Übernahme einiger Engländer aus der Berliner Gemäldegalerie am Kemperplatz dem bescheidenen Goethezeit-Auftakt mehr Bravour geben. Die nationale Feindseligkeit im 19. Jahrhundert blockierte das Engagement für den französischen Klassizismus und die Romantik. Es fehlen in Berlin Ingres, Gericault, ein repräsentativer Delacroix oder auch Turner, ferner die Symbolisten und Präraffaeliten."

Und noch ein Artikel, den wir zitieren wollen. Bogdan Musial, der die Irrtümer der ersten Wehrmachtsausstellung bloß gelegt hatte und damit zu ihrer Schließung beitrug, ist mit der der Wehrmachtsausstellung 2.0 völlig einverstanden: "Man sieht ihr an, daß ihre Autoren professionell gearbeitet haben und sich bemühten, den angeschlagenen Ruf des Hamburger Instituts für Sozialforschung wieder herzustellen. Und das ist ihnen auch gelungen."

Weiteres: Andreas Rosenfelder resümiert ein Streitgespräch mit Wolfgang Clement über Gentechnik. Joseph Hanimann stellt das neue Deutschlandzentrum in Frankreich vor, in dem französische Forschung über Deutschland besser koordiniert werden soll. Joseph Croitoru blickt in osteuropäische Zeitschriften. Tobias Döring weist auf eine Tournee schwarzer Schriftsteller aus Großbritannien hin. Andreas Platthaus hat dem Vortrag Heribert Fassbenders bei der Bochumer Ringvorlesung "Die Zukunft des Fußballs" gelauscht. Auf der letzten Seite berichtet Stefan Weidner über eine Deutschland-Tour jemenitischer Schriftsteller. Und Bert Rebhandl porträtiert den japanischen Filmemacher Shinji Aoyama ("Eureka").

Auf der Medienseite erzählt Marcus Theurer die Geschichte vom Aufstieg und Fall der Firma Kinowelt - eines jener Epen vom Neuen Markt, die eines Balzac würdig wären, aber leider haben wir keinen. ZDF-Intendant Dieter Stolte reagiert auf die FAZ-Serie zur Kür seines Nachfolgers.

Besprochen werden Rod Luries Film "Die letzte Festung", Jon Fosses Stück "Traum im Herbst" in München, Richard Avedons Fotoserie "In the American West" in Wolfsburg, ein Konzert Tori Amos' auf Deutschlandtournee, der konzertante Parsifal unter Abbado in Berlin, und ein amerikanischer Fernsehfilm, der einen Prozess gegen bin Laden simuliert.

In Bilder und Zeiten schreibt Andreas Platthaus zum 100. Geburtstag von Walt Disney. Heinz-Joachim Fischer schildert Italiens Probleme mit den illegalen Einwanderern. Armin Hermann porträtiert den "Hohepriester der Quantentheorie" Werner Heisenberg. Und auf der letzten Seite nimmt Friedrich Dieckmann Abschied von der Deutschen Mark.

In der Frankfurter Anthologie stellt Peter von Matt ein Brecht-Gedicht vor: "Der Bauch Laughtons":
"Sie alle verschleppen ihre Bäuche
Als wäre es Raubgut, als würde gefahndet danach
Aber der große Laughton trug ihn vor wie ein Gedicht..."

SZ, 01.12.2001

Der Moraltheologe Eberhard Schockenhoff, selbst Mitglied im Nationalen Ethikrat, kritisiert das pragmatische Vernünfteln desselben, wo dieser eigentlich "die moralischen Argumente für das strikte Verbot der verbrauchenden Embryonenforschung" in Erinnerung rufen sollte: "Die Suche nach Schlupflöchern kleidet sich dabei in das Gewand anspruchsvoller Begründungskonzepte, die da heißen: 'abgestufter Lebensschutz für den Embryo', 'Vorrang der Ethik des Heilens', 'sinnvolle Verwendung überzähliger Embryonen'." Der Ansatz des "graduellen Lebensschutzes", meint Schockenhoff, verleihe dem Embryo im Konfliktfall gerade keinen Schutz. "Man kann den Embryo nun einmal nicht stufenweise, sondern nur vollständig vernichten."

Robert Gernhardt hat den Ehrendoktor der Universität Fribourg erhalten. Wir nehmen uns die Freiheit, sein "Sonett vom Dies Mirabilis" aus der abgedruckten Dankesrede in extenso wiederzugeben: Seufzend wank ich unter so viel Glück. /Wie parier ich nur den ganzen Segen, / der auf mich herniederprasselt? Regen / ist das nicht mehr. Das ? mein Gott, wie drück / ich's nur aus? Ist Wasserfall, ist Flut, / warme Dusche. Ach, auf allen Wegen, / die ich einschlag', stürzt sie mir entgegen, / einem Stausee gleich, der lang geruht, / Bis der Damm brach. Lobesmassen / treiben mich in immer höh're Zonen, wo um Ruhmestempel Feuer flammen. / Und mich Gernhardt-Priester liebend fassen: / ?Herr! Geruh in diesem Haus zu wohnen!? / Anbetend brech ich vor mir zusammen.

Weitere Artikel: Oliver Tepel begleitet die "Super Furry Animals" auf Deutschland-Tournee, Helmut Mauro berichtet von den Auftritten Grigory Sokolovs ("im Profil täuschend ähnlich einer Brahms-Darstellung"), Arcadi Volodos' ("wahrer Tastenteufel"), Radu Lupus (blieb "auf dem Boden des Nachfühlbaren"), Evgeny Kissins ("perfekt") beim dritten Klavier-Festival in Luzern, Ulrich Schlie verkündet die Eröffnung des Zentrums für Deutschlandstudien (CIERA) in Paris, Gottfried Knapp freut sich mit Herzog & de Meuron und dem Büro von Gerkan, Marg und Partner über den Zuschlag im Wettbewerb für das Stadion in Fröttmaning, Marianne Heuwagen berichtet von der Jahrespressekonferenz des Goethe-Instituts (es ging um Geld), Willi Winkler schließlich vermeldet den Tod des amerikanischen Schriftstellers John Knowles ("In diesem Land"), und Karl Bruckmaier verabschiedet George Harrison.

Besprochen werden Jon Fosses "Traum im Herbst" an den Münchner Kammerspielen, der Film "Der Zimmerspringbrunnen" von Peter Timm, eine Ausstellung des Münsterschatzes im Bayerischen Nationalmuseum München, Claudio Abbados Dirigat von Wagners "Parsifal" in Berlin und Bücher, darunter drei Bücher über die Familie Mann (siehe auch unsere Bücherschau Sonntag ab 11 Uhr).

Und in der Wochenendbeilage klärt uns Klaus Podak auf über Jacques Derrida und die politischen Konsequenzen seines Werks, Andreas C. Knigge führt durch die Welt des Walt Disney, der vor hundert Jahren geboren wurde. Und in einer gekürzten Version eines Vortrags, den sie im Rahmen der "Berliner Lektionen" gehalten hat, erklärt Christiane Nüsslein-Volhard, warum die Schöpfung aus der Petrischale reine Illusion ist. Die komplexe Beziehung zwischen Genen und Eigenschaften beim Menschen, so die Nobelpreisträgerin, sorge dafür, "dass man vielleicht von keinem Gen jemals wirklich genau wissen kann, was es alles beeinflusst ... Es ist also nicht richtig, dass es mit der bloßen Entzifferung des Genoms möglich wird, den Menschen nach Wunsch genetisch 'neu zu entwerfen'."