Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.02.2002. Die SZ antwortet auf Martin Mosebachs gestriges Plädoyer in der FAZ für einen Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses. Die FR sagt Günter Grass' Novelle "Im Krebsgang" einhellig positive Reaktionen voraus. Die taz hat Catherine Millet interviewt. Es geht natürlich um Sex. Die NZZ porträtiert den Buch-Visionär Jason Epstein.

NZZ, 05.02.2002

Michael Schmitt porträtiert den ehemaligen Random-House-Lektor und Visionär des Buchmarkts Jason Epstein, der mit seiner Firma 3billionbooks eine Art World-Wide-Backlist im Netz und auf Print-on-Demand-Maschinen zur Verfügung stellen will. Es "ist die Vision von einem neuen 'Katalog', wie ihn das Netz wohl noch nicht gesehen hat und wie ihn kein einzelner Verlag und kein Konzern zusammenstellen könnte. Ein unermessliches Backlist-Archiv, vernetzt mit Zeitschriften, Zeitungen und anderen Quellen, zum freien Zugriff für die potenziellen Leser, zum Abrufen 'am nächstgelegenen Ort zum günstigsten Preis' - und das kann im Copy-Shop um die Ecke sein."

Paul Jandl versucht das komplizierte Verhältnis der Österreicher zu ihren östlichen Nachbarn zu erklären: "Die Mythologien einer ehemals gemeinsamen Vergangenheit haben das Misstrauen ebenso befördert, wie sich die daraus erwachsenen Sympathien erhalten haben. Die Grenzen zwischen Österreich und den Nachbarländern Tschechien, der Slowakei, Ungarn und dem neuen Staat Slowenien sind Orte beharrlicher Vorurteile und des geheimen Verdachts, dass man einander ähnlicher sein könnte, als man bisher meinte."

Besprochen werden eine Ausstellung über den Silberschmied Christoph Dresser in Mailand, eine Ausstellung über Mies van der Rohe in Dessau und einige Bücher, darunter der Briefwechsel Rudolf Borchardts mit mit Rudolf A. Schröder (mehr hier) und Tim Waterstones Roman "Lilley & Chase". (Siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr.)

FAZ, 05.02.2002

Die großen Verlierer der chinesischen Modernisierung sind die Arbeiter, schreibt Zhou Derong. Und darum sprechen die chinesischen Kommunisten von ihnen in einem neuen Forschungsbericht lieber nicht mehr als "Klasse", sondern als "Schicht". Und Jiang Zemin "hat auch Abschied von der Idee genommen, dass die Partei vornehmlich Arbeiterinteressen zu vertreten habe - die neue Formel lautet vielmehr, dass die 'elementaren Interessen der Mehrheit' ihr Anliegen seien. Und die Mehrheit, so hat es nun der Forschungsbericht festgestellt, ist die 'Mittelschicht', zu der Privatunternehmer, Techniker, Beamte, Selbständige, Dienstleister und - mit etwas Glück - auch manche Industriearbeiter und einige wenige Bauern gehören. Es wäre die Basis, die Jiang Zemin sich wünscht. Mit der Wirklichkeit Chinas hat dieser Befund allerdings wenig zu tun. Die tatsächliche Mehrheit stellen nach wie vor die Arbeiter und Bauern." Es wäre nicht das erste Mal, dass eine Partei der Arbeiterklasse auf ihrem Weg in den Fortschritt die Arbeiterklasse opfert.

Weitere Artikel: Andreas Rossmann meldet einen sensationellen Fund: 165 verloren geglaubte Aquarelle von William Blake (hier ein Beispiel) sind bei einem Kunsthändler in Swindon in der Grafschaft Wiltshire wieder aufgetaucht. Ute Diehl resümiert die komplizierten Diskussionen um einen höheren privaten Anteil in der Finanzierung der italienischen Museen. Dirk Schümer beschreibt, wie die Leitung der Biennale di Venezia unter dem Einfluss der Berlusconi-Regierung bröckelt - und durch Manager ersetzt wird, die gleich bekennen, das neue Amt nur in Teilzeit wahrnehmen zu wollen. Mark Siemons beklagt im Aufmacher die Unfähigkeit des Westens, in den Anschlägen des 11. September "das Verlangen nicht zuerst nach politischer und ökonomischer, sondern nach kultureller und religiöser Anerkennung" zu erkennen. Katharina Mütter stellt "eine der beeindruckendsten Architekturen Münchens, vielleicht sogar den schönsten Verwaltungsbau Deutschlands", die Verwaltung der "Swiss Re" vor, die von der Hamburger Architektengruppe Bothe Richter Teherani konzipiert wurde.

Ferner berichtet Jörg Magenau von der Gedenkveranstaltung für Stefan Heym in der Berliner Akademie der Künste. In Carl Zuckmayers Geheimdienstkolumne geht's heute um den Pädagogen Martin Luserke. Jordan Mejias stellt das Ausweichquartier des New Yorker Museum of Modern Art in Queens vor - das Stammhaus wird bis mindestens 2005 renoviert. Und Tilman Spreckelsen berichtet von der ersten Poetik-Vorlesung Patrick Roths in Frankfurt.

Auf der Medienseite erzählt Michael Martens, wie der amerikanische Reporter Daniel Pearl (von dem er annimmt, dass er inzwischen tot ist) bei seiner Recherche in die Fänge der pakistanischen Islamisten geraten konnte: "Einige Beobachter in Pakistan bezeichnen die derzeitige Phase der Ruhe nach dem Sturm als Übergangszeit. Die Islamisten sammelten sich neu im Untergrund. Dorthin wagte sich Daniel Pearl." Jörg Thomann porträtiert den Fernseh-Professor Harald Lesch, der so ähnlich wie Marcel Reich-Ranicki heute Abend eine Fernsehsendung ganz für sich allein hat, wenn auch nur bei br-Alpha. Und Kerstin Holm meldet, dass das russische Fernsehen jetzt so ist wie früher, nachdem Putins Mannen die letzten freien Sender geschleift haben. Auf der Bücher-und-Themen-Seite legt Thomas Hettche einen Essay über die Krimiautorin Patricia Cornwell und ihre Hauptfigur Kay Scarpetta vor. "Sie, die Pathologin, ist Anwältin der Wunden und darin so unerbittlich wie der Tod selbst, der ihr seine Opfer bringt." Auf der letzten Seite denkt Edo Reents über Bono von der Grupp U2 nach. Paul Ingendaay porträtiert Alejandro Amenabar, den Regisseur von "The Others". Und Christoph Albrecht stellt uns das Free Radio Linux vor, wo aus Gründen, die uns nicht ganz nachvollziehbar sind, der Quellcode von Linux rezitiert wird.

Besprochen werden die Tango-Oper "Porque! Porque" von Johannes Wulff-Woesten in Dresden, die "spektakuläre" Ausstellung zum Thema "Nackt" im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe, das Ultraschall-Festival in Berlin, Schillers "Jungfrau" in Wien, eine Ausstellung des Fotografen William Eggleston (den Wilfried Wiegand als Bruder im Geiste von David Lynch vorstellt) in der Fondation Cartier und Rene Polleschs Stück "Sex nach Mae West" im Prater der Berliner Volksbühne.

TAZ, 05.02.2002

Ziemlich viel Sex heute in der taz. Am Explizitesten geht es im Interview zu, das Monika Goetsch in München mit Catherine Millet führte, der Autorin des Buchs "Das sexuelle Leben der Catherine M.". Catherine Millet legt Wert darauf, nicht Catherine M. zu sein: "Die Person, die ich bin, wird zerlegt. Eine lebt im Buch, eine hat das Buch geschrieben, eine sitzt hier ... und beantwortet jetzt Ihre Fragen". Auf den Vorwurf vieler Kritiker, sowohl ihre Person als auch ihre Bücher seien kalt und distanziert, antwortet sie: "Viele glauben, ich sei besessen von Sex. Das stimmt aber gar nicht. Ich bin besessen vom Sehen, vom Blick."

Absolute Lustlosigkeit
bzw. -freiheit attestiert Susanne Katzorke dagegen der Ausstellung zum Thema "Sex - Vom Wissen und Wünschen" im Dresdner Hygiene-Museum: "Die drei Ausstellungsräume vermitteln lediglich geballtes und steriles Wissen, die Wünsche sind auf dem Weg zwischen den etwa 600 Exponaten irgendwo verloren gegangen." Schade eigentlich.

Weitere Artikel: Tom Mustroph porträtiert den Theaterautor und Regisseur Rene Pollesch, dessen neues Stück "Sex" gerade im Berliner Prater aufgeführt wird. Ansonsten werden heute in der taz nur Bücher besprochen, darunter der Roman "Als Kind" des mexikanischen Schriftstellers Mario Gonzalez Suarez (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr). Auf der Seite politisches Buch stellt Claus Leggewie "Why the West Has Won" vor, das viel diskutierte Buch des in Kalifornien lehrenden Altertumswissenschaftlers Victor Davis Hanson.

Und hier TOM.

SZ, 05.02.2002

Holger Liebs setzt sich kritisch mit dem gestrigen Artikel von Martin Mosebach in der FAZ auseinander. Gegen den Bauhausstil argumentierend - und das falsch - lege Mosebach nahe, dass "schon um der Vermeidung von so etwas wie Gegenwartsarchitektur willen auf dem Schlossplatz nichts anderes denkbar (sei) als das anti-moderne, ästhetische Kontinuität garantierende, wiederaufgebaute Hohenzollernschloss". Liebs sieht damit "Architekturgeschichte auf den Kopf gestellt". Die Frage sei eben nicht: "Was repräsentierte das Stadtschloss einst?", sondern: "Was könnte es heute repräsentieren?"

Außerdem berichtet orz. über den Bücher-Preis, der auf der Leipziger Buchmesse erstmals in neun Kategorien vergeben wird. Christa Wolf erhält ihn für ihr Lebenswerk, den Publikums-Preis bestimmen die Leser per Stimmzettel oder Internet. Wie das neue Teil aussieht, das künftig an "literarisch besonders gute und erfolgreiche Werke" verliehen wird, erfahren wir auch: 62 Zentimeter hoch und in Buttform, griffig entworfen von Günter Grass.

Ulrich Raulff wiederum annonciert das Erscheinen von Grass' neuer Novelle "Im Krebsgang" heute in den Buchhandlungen. Das Buch erzählt von der Torpedierung des deutschen Flüchtlingsschiffes "Wilhelm Gustloff" kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs. "Grass ist ausgezogen, den Leidschatz des deutschen Opfergedächtnisses zu heben", spottet Raulff. Dafür und für nichts anderes werde er nun "an die Kritikerbrust" (Augsteins, nicht Raulffs) gedrückt. "Die Qualität seiner Novelle, die literarisch und ästhetisch dürftig ist, kann dafür nicht ausschlaggebend sein."

Weitere Artikel: Jens Bisky besuchte einen überfüllten Gedächtnisabend für Stefan Heym in der Berliner Akademie der Künste. Die Historikerin Ute Frevert ("Die kasernierte Nation") analysiert den Nutzwert der Hochschulreform. Ulrich Kühne erklärt, weshalb das geplante "Innovationszentrum für Bibliotheken", ein Netzwerk für Bibliotheken, vorerst doch nicht realisiert wird. Fritz Göttler hat für seine Rubrik über internationalen Journale den Merkur gelesen. Jörg Häntzschel besuchte bei Salt Lake City das "größte Grab der Welt im 3500 Meter hohen Berg Twin Peaks". Henning Klüver berichtet aus Venedig, das derzeit mit zahlreichen Kunst- und Bauprojekten aufwartet. Gleich zwei Texte resümieren die Münchner Zustände während der Sicherheitskonferenz: Rainer Stephan erinnert an die 813 Verhaftungen, während unter dem Kürzel "pst" die Münchner Shoppingvariante des Demonstrierens beschrieben wird.

Besprochen werden Schillers "Jungfrau von Orleans" in Wien, Rene Polleschs "Sex" in Berlin, der neue Film von David Mamet, "Heist", mit Gene Hackman und Danny DeVito, eine Retrospektive mit Entwürfen des Architekten Oscar Niemeyer im Pariser Jeu de Paume, ein Konzert mit James Levine in München, die Ausstellung "Malerei ohne Malerei" im Museum der bildenden Künste in Leipzig sowie eine Ausstellung über Kunst und Militanz in der Wiener Generali Foundation und schließlich noch ein Buch von Ulrich Sieg über "Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FR, 05.02.2002

Robin Celikates berichtet von einer Veranstaltung in New York, die Gelegenheit bot, mit Jean Baudrillard über seine "umstrittenen Thesen zum symbolischen Gehalt des 11. September" zu diskutieren ? dass die "monströsen" Türme "durch ihre Außergewöhnlichkeit würdig (wurden), zerstört oder gar geopfert zu werden". "Es ist nicht verwunderlich", schreibt der Rezensent enttäuscht, "dass diese Thesen vor allem bei den amerikanischen Teilnehmern auf dem Podium auf Unverständnis stießen. Überraschend war nur, wie einfallslos die Antworten ausfielen."

Thomas Medicus begrüßt "Im Krebsgang", das neue Buch von Günter Grass und prophezeit: "Anders als noch vor ein paar Jahren aber wird die Reaktion im Fall von Grass nicht mehr zwiespältig oder sogar ablehnend, sondern wohl einhellig positiv ausfallen. Was in den vergangenen Wochen bereits der TV-Geschichtslehrer der Nation, Guido Knopp, vorexerziert hat, darf der Literaturnobelpreisträger nun endgültig konfirmieren: dass es während des Zweiten Weltkriegs an deutscher Zivilbevölkerung begangenes Unrecht gab, dass wir über dieses Unrecht sprechen dürfen und dass solch ein Diskurs - wenn er denn geführt wird - mit der Relativierung eigener Kriegsschuld und eigener Verbrechen nicht das Geringste zu tun hat."

Elke Buhr hat in der Frankfurter Filiale der Werbeagentur Saatchi & Saatchi nach einer zeitgemäßen Werbekampagne für Edmund Stoiber nachgefragt. Hier die Antwort eines zuständigen Herrn namens Hubertus von Lobenstein: "Ich würde ... den Wahlkampf für Stoiber auf einen Satz verkürzen, und den dann auswalzen: 'Ich arbeite härter für Deutschland'". Toll.

Weitere Themen: Constantin von Barloewen interviewt den russisch-belgischen Chemie-Nobelpreisträger und Philosophen Ilya Prigogine (mehr hier und hier) über widerstreitende Lehrmeinungen, Paradigmenwechsel und Utopien für das dritte Jahrtausend. Ralf Grötker erläutert uns, wie die erklärte "Linksaristotelikerin" Martha Nussbaum auf Einladung der SPD in der Berliner Parteizentrale philosophische Beihilfe zum benötigten "normativen Minimalkonsens" (Wolfgang Thierse) leistete. Ulla Hanselmann beschreibt das neues Bürohaus von Bothe Richter Teherani als gelungene "Aufhellung" eines Stücks hässlichen Hamburger Stadtraums. Und Gunnar Lützow findet keine Frau in London.

Besprochen werden die Ausstellung "Nackt - Die Ästhetik der Blöße" im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe, eine Platte mit dem wohlklingenden Titel "Es liebt Dich und Deine Körperlichkeit ein Ausgeflippter" des Künstlers Kai Althoff, eine Inszenierung von Schillers "Jungfrau von Orleans" an der Wiener Burg und die Uraufführung von Katharina Schlenders (Kleist-Preisträgerin 2001) Stück "Trutz" in Mönchengladbach.