Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.07.2002. Die Zeit stellt klar: Die Nazis ließen nicht in erster Linie die Reichen, sondern den kleinen Mann von Zwangsarbeit und Arisierung profitieren. Die SZ eröffnet das Bayreuther Sommertheater mit Nachfolgefragen (Thielemann?) Die FR stellt islamische Reformdenker vor. Die FAZ porträtiert Moritz Hunziger als heiteren PR-Berater. Die taz feiert indisches Kino, die NZZ japanischen Pop.

Zeit, 25.07.2002

Hamburger mögen Sommerregen. Das Zeit-Feuilleton ist jedenfalls in bester Debattenlaune heute.

Jens Jessen greift in einer emphatischen Leitglosse eine Bemerkung der Berliner Grünen-Politikerin Alice Ströver auf, die die Kunstsammlung Christian Friedrich Flicks nur dann in Berlin haben will, wenn er sich auch für die "Topographie des Terrors" engagiert - denn an seiner Sammlung klebe "Zwangsarbeiterblut". Nein!, ruft Jessen. Es waren gar nicht die Reichen, die in der Nazi-Zeit profitierten. Im Gegenteil: Die Umverteilung durch Zwangsarbeit und Judenmord kam gerade der breiten Masse des deutschen Voks zugute. "Es verrät ein dubioses Ressentiment, allein die Industrie für etwas haftbar zu machen, von dem das deutsche Volk in seiner Gesamtheit, allen voran aber der kleine Mann profitierte. Wann ist je gefordert worden, die Bauern für eine Entschädigung ihrer Zwangsarbeiter zu verpflichten?" Jessen nimmt hier Bezug auf die Thesen des Historikers Götz Aly, die er außer in seinen Büchern auch im Perlentaucher publizierte. Vielleicht wird nun endlich mal darüber diskutiert.

Jörg Lau untersucht den "verstaubten Kulturbegriff" des Kandidaten Edmund Stoiber, der "sozialen Zusammenhalt" von "kultureller Stabilität" abhängig machen will: "Man kann hier - wie so oft bei Stoibers Kernsätzen - nur schwer ausmachen, was er eigentlich sagen will über die Beziehung zwischen Abendland, Nationalkultur und Sozialhilfe. Sollen wir uns Kultur denn nun als etwas gleichsam Organisches vorstellen ('gewachsen'), das seinen Wert in sich trägt? Warum aber muss dieser Wert dann zum Gegenstand eines 'neuen Konsens' werden? Einen neuen Konsens über den Wert von etwas Gewachsenem kann man zwar jeden Morgen auf dem Viktualienmarkt erzielen, über die abendländische Kultur wohl eher nicht."

Weiteres: Konrad Heidkamp misstraut all den jungen hübschen jungen Jazzsängerinnen wie Diana Krall oder Jane Monheit, die gerade Karriere machen: "Diese Mädchen sind alle weiß, scheinen direkt vom Pin-up-Kalender eines Plattenproduzenten abgerissen und erfüllen den uramerikanischen Traum eines Sängerinnentypus, der spätestens seit den weiblichen Rollenspielen einer Madonna anachronistisch geworden schien". Klaus Hartung schreibt (in Antwort auf einen Artikel von Jens Jessen) einen Kommentar zur traurigen Berliner Lage und findet dabei auch böse Worte sowohl für die Lokalpresse, "die sich nicht über die blamable Sprachlosigkeit der Politiker empören kann", als auch für die Überregionalen (FAZ, SZ, FR), die mit einem Schlag aus Berlin desertierten und ihrer Hauptstadt-Kompetenz ("Kult"!) fristlos kündigten: "Wie kaputt diese Stadt ist - das hat niemanden wirklich interessiert." Und schließlich noch eine Provokation des SPD-Politikers Richard Schröder, der bezweifelt, dass es in der deutschen Politik heute mehr Korruption gibt als früher: "Im übrigen lässt sich nachweisen, dass die Korruption von Politikern steigt, wenn sie schlecht bezahlt werden. Das sollte nicht vergessen werden, wenn wieder einmal die Empörung über Diätenerhöhungen ausbricht, während andere für eine Lohnerhöhung streiken."

Und dann sind da noch Richard Herzinger, der zum hundertsten Geburtstag von Karl Popper schreibt, Katja Nicodemus, die den Bollywood-Film "Lagaan" (mehr hier) vorstellt, Barbara Lehmann, die eine kulturelle Reise durch Sibirien unternimmt und Ilka und Anreas Ruby, die von der Retrospektive des niederländischen Architekturbüros UN Studio im Rotterdamer Architekturinstituts schwärmen (mehr hier): "Statt die bleierne Trias von Grundriss-Aufriss-Schnitt zu zeigen, überrascht sie ihre Besucher mit erlesenen Tuschezeichnungen, stimmungsvollen Aquarellen und makellos schönen Modellen."

Aufmacher des Literaturteils ist Evelyn Fingers Besprechung von Nikos Panajotopoulos' Roman "Die Erfindung des Zweifels" (mehr hier).

Hinzuweisen ist auch auf einen Essay von Dan Diner über Israels Selbstverständnis im politischen Teil, auf ein Porträt des Roboterbauer Rodney Brooks im Wissen-Teil und auf einen Essay über Friedrich Alfred Krupp und seine Liebe zu Capri von Dieter Richter in den Zeitläuften.

SZ, 25.07.2002

Sind die USA wirklich nur eine Großmacht? Oder schon eine Hypermacht? Oder gar - ein Imperium, wie das Washingtoner Magazin Wilson Quarterly fragt? Petra Steinberger greift die Debatte um den Rang der USA auf, die sie zwischen "puritanischem Missionseifer und vorsichtigem Rationalismus" changieren sieht: "In Amerika geht es den meisten bereits weniger darum, ob man Imperium ist oder nicht. Viele vor allem neokonservative Politiker und Politologen überlegen nurmehr, wie Amerika mit seiner privilegierten Macht umgehen soll... Soll es ein 'informelles Imperium' sein, wie es Arthur Schlesinger jr. nannte? Soll es weltweit direkt eingreifen? Demokratie global diktieren? Sich eines indirekten Stils bedienen? Oder sich doch allein um die eigenen Interessen kümmern? Nur eines scheint klar zu sein: Die Zeiten des selbstgewählten Isolationismus sind vorbei, selbst wenn man sich für Unilateralismus entscheidet."

Außerdem werden heute die Bayreuther Festspiele eröffnet, dazu gibt es jede Menge Artikel: Clemens Prokop porträtiert Christian Thielemann, der in diesem Jahr den "Thannhäuser" dirigiert ("Thielemann sagt Dinge, die man lange Zeit nicht einmal denken durfte, wenn man sich nicht als hoffnungsloser Spießbürger outen wollte, Sätze wie: 'Theater muss nicht weh tun.'") Reinhard M. Brembeck fragt sich, warum Thielemann überhaupt so viele Neuinszenierungen dirigieren darf und ob dies vielleicht etwas mit der Nachfolge von Wolfgang Wagner zu tun haben könnte. Kristina Maidt-Zinke hat mit dem Regisseur und Bühnenbildner Philippe Arlaud über seine "Thannhäuser"-Inszenierung gesprochen. Und schließlich gibt es noch eine Programm-Übersicht.

Weitere Artikel: Dominik Graf ("Der Felsen") beklagt im Gespräch, dass in Deutschland Filme in brav und böse eingeteilt werden. Fritz Göttler notiert, dass das Fantasy Filmfest in diesem Jahr seine Retrospektive dem Pariser Filmverleih Wild Bunch widmet. Dazu gestellt sind einige kurze Reflexionen über Filme wie "Demonlover", "Fulltime Killer" und "Arac Attack". Thomas Steinfeld schreibt einen Nachruf auf den schwedischen Autor Olof Lagercrantz.

Besprochen werden: Charles Herman-Wurmfelds Film "Kissing Jessica", Tschaikowskys Oper "Pique Dame" mit Placido Domingo in München und Bücher: Die Briefe einer erbarmungslosen Djuna Barnes an Emily Coleman "Im Dunkeln gehen", zwei neue Biografien über Karl Marx, der Sammelband "Nachkrieg in Deutschland" sowie Petra Nagekögels Roman "Dahinter der Osten" und ein Fotoband von Tina Modotti (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Auf der Medien-Seite stellt sich für Christopher Keil in der Causa Moritz Hunziger die Frage, warum "der großmäulige Kontakter erst jetzt entlarvt worden ist".

TAZ, 25.07.2002

Heute ist Donnerstag, also Kinotag in der taz: Anke Leweke berichtet vom Locarno Filmfestival, das seine Retrospektive ("Indian Summer") dem New Indian Cinema widmet, das mehr sei als indischer Autorenfilm oder grelles Bollywood. In der Retrospektive entstehe "das Bild eines Landes, das auf der Leinwand zerfällt, um sich erst in der Erinnerung wieder zusammenzusetzen, zu einem Subkontinent, der gleichzeitig in der Gegenwart und im Mythos existiert, in der urbanen Internetmoderne und in einer fast mittelalterlichen Agrargesellschaft, in einer aufgeklärten Bürgerkultur und im religiösen Fanatismus."

Thomas Girst berichtet aus New York, wie ground zero und Sommerloch die schwärzesten Fantasien der Amerikaner beflügeln.

Besprochen werden drei Filme - und zwar allesamt schlecht: Jake Kasdans Film "Nix wie raus aus Orange County", Charles Herman-Wurmfelds lesbische Beziehungskomödie "Kissing Jessica" und Walt Beckers Klamotte "Party Animals". Und eine Hamburger Ausstellung zu zwanzig Jahren Modefotografie "Archeology of Elegance" in den Hamburger Deichtorhallen.

Schließlich Tom.

FR, 25.07.2002

Andrea Nüsse berichtet von einer Tagung islamischer Reformdenker in Beirut. Es saßen sich gegenüber die Tunesierin Amel Grami und der der Moslembruderschaft Ägyptens nahestehende Abu Ala al-Madi. "Dies war umso wichtiger, als die Kommunikation zwischen den verschiedenen Denkrichtungen nicht gerade als eingespielt beschrieben werden kann. Die konservativeren ägyptischen Wissenschaftler kannten das Werk des tunesischen Reformdenkers Muhammed Talbi überhaupt nicht, das sein Kollege Moncef Ben Abdeljelil von der Soussan-Universität in Tunesien vortrug. Talbi plädiert für eine 'vektorielle Lesart' des Koran, bei der die übergeordneten Ziele und weniger die detaillierte Handlungsanweisung im Vordergrund stehen. 'Dabei ist Talbi in Iran und Indonesien ein Star', wundert sich Amel Grami. Ihr eigener Vortrag über Apostasie wurde von den konservativeren Wissenschaftlers mit Schweigen gestraft."

Der Historiker Klaus Naumann überlegt, ob Verteidigungsminister überhaupt glücklich sein können. Die Berliner Schriftstellerin Rita Kuczynski erinnert sich daran, was der Palast der Republik im Laufe der Zeit für sie bedeutet hat. Helmut Höge erzählt die kleine Kulturgeschichte der Industrial Music unter "besonderer Berücksichtigung des "künstlerischen Einsatzes von Schwergeräten". Ina Hartwig liefert den Nachruf auf den schwedischen Schriftsteller Olof Lagercrantz.

Besprochen werden Dominik Grafs Film "Der Felsen", das indische Filmepos "Lagaan", eine Ausstellung der Schweizer Künstlerin Hannah Villiger in der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst Berlin. und Bücher, darunter Ulla Berkewiczs Überlegungen zum Fanatismus "Vielleicht werden wir ja alle verrückt" und Anna Enquists Erzählband "Die Verletzung" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 25.07.2002

Im "Kleinen Glossar des Verschwindens" erinnert sich der Schriftsteller Bora Cosic an den hölzernen Stopfpilz seiner Großmutter: "Dass diese Art hölzerner Pilze einst wie nach einem Regen in den Bereichen des weiblichen Strümpfestopfens spross, ist sicher ebenso ein botanisches Wunder, wie die echten Steinpilze und die anderen essbaren Sporengewächse der Wälder ein göttliches Wunder und fast ein surrealer Überfall des Himmels sind."

In einer längeren Reportage stellt Holger In't Veld die höchst lebendige japanische Popszene vor: "Die Zeit des Alphaville-Hits 'Big in Japan', als jede noch so abgetakelte Stadion-Rockband im popkulturell unterversorgten Fernen Osten ihr hysterisch kreischendes Publikum antraf, ist längst vorbei. Spätestens seit dem Ende des japanischen Wirtschaftswunders und der Vollbeschäftigung ist aus dem reinen einseitigen Importverhältnis ein reger Austausch geworden, und aus Tausenden von Coverbands sind lebendige Pop-&-Kunst-Szenen entstanden, in denen eine von ihren kulturellen und geschichtlichen Einbindungen befreite Pop-Weiterverarbeitung vielfältige Blüten treibt." Unter anderem empfiehlt In't Veld die CD "Point" des Tokyoter Stars Cornelius (hier gibt's ein Stück zu hören).

Weiteres: Knut Henkel porträtiert die kolumbianische Theatertruppe Cali. Christine Holliger schreibt zum Tod von Olof Lagercrantz. Thomas Leuchtenmüller schreibt zum Tod von Chaim Potok. Besprochen werden eine Miro-Ausstellung im Düsseldorfer Museum Kunst Palast und einige Bücher, darunter Nedim Gürsels Roman "Turbane in Venedig" und Bogdan Bogdanovichs Abhandlung "Vom Glück in den Städten". (Siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr.)

FAZ, 25.07.2002

Peter Lückemeier porträtiert in einem heiteren Artikel den heiteren PR-Berater Moritz Hunzinger, der Minister Scharping zum Verhängnis wurde. Darin auch ein kleiner Abschnitt über Frankfurt, der deutlich macht, warum sich die FAZ nach Berliner Seiten sehnte: "Diese noch immer temporeichste kleine deutsche Großstadt passt zu Hunzinger, zu seiner Rapidität des Sprechens und Handelns. Frankfurt hat kaum eine Schicki-Micki-Szene, die Klatsch-Reporter von Bild tun sich anders als in München, Hamburg oder sogar noch Düsseldorf schwer, ihre Rubrik zu füllen. Sie müssen sich mit semiprominenten Friseuren und den Jacob-Sisters herumplagen, weil in Frankfurt gearbeitet und nicht so viel gefeiert wird; die 'Decision Makers' speisen in den Separees der Banken, fahren abends heim nach Kronberg oder Bad Soden und sitzen am nächsten Morgen wieder im Flieger." Ist das nicht aufregend?

Weiteres: Achim Bahnen begrüßt die Entscheidung des Europäischen Patentamts, menschliche Gene nicht in Patentverfahren aufzunehmen, warnt aber, dass die Embryos dadurch noch nicht geschützt seien. Sonja Margolina liest russische Literaturzeitschriften. Kerstin Holm erzählt, wie die "Stiftung offene Gesellschaft" des Milliardärs George Soros mittels eines nachträglich gefälschten Mietvertrags aus ihrem Moskauer Domizil vertrieben wurde - Holm nimmt an, dass man sich so für Soros' mangelnde Bereitschaft zur Korruption rächte. rtg. schreibt zum Tod des schwedischen Autors Olof Lagercrantz. Nachgedruckt wird ein Brief der Komponistengattin Yvonne Loriod-Messiaen an die Deutsche Oper Berlin, die sich über Daniel Libeskind szenische Umsetzung von Messiaens Oper "Saint Francois d'Assise" beschwert. Für eine neue Folge der Wahlkampfserie "Im Milieu" begleitet Eberhard Rathgeb den Kanzlerkandidaten Edmund Stoiber an Ost- und Nordsee.

Auf der letzten Seite erinnert Hussain als-Mozany an den 1945 verstorbenen irakischen Dichter und Aufklärer Maruf Ar-Rasafi, dessen wichtigstes Buch "Die mohammedanische Persönlichkeit" von einem arabischen Exilverlag in Deutschland wieder herausgebracht wird. Thomas Rietzschel freut sich über die Renovierung der Gartenstadt Atlantic, eines vorbildlichen Ensembles aus den zwanziger Jahren im Berliner Wedding. Oliver Jungen resümiert den Habilitationsvortrag des Historikers Daniel Schäfer, der sich mit der Krankheitsmetaphorik bei den Nazis auseinandersetzte. Auf der Filmseite bringt die Redaktion einen Vorabdruck aus einem posthumen Band der Filmessayistin Frieda Grafe über Hitchcock und die Farben. Auf der Medienseite setzt Karl-Peter Schwarz die Berichterstattung über das gescheiterte Mordkomplott gegen die Prager Journalistin Sonja Slonkova fort. Und Jörg Thomann stellt die neue Internetadresse von Gerhard Schröder vor.

Besprochen werden eine Ausstellung der Kuckei-Sammlung mit Majliken (Bild) aus dem 15. bis 18. Jahrhundert in Berlin, Christine Lahtis Film "My first Mister", eine Ausstellung der Rainer-Kreissl-Sammlung mit afrikanischer Kunst auf dem Hradschin, bei der Heinrich Schweizer allerdings die Echtheit mancher Stücke bezweifelt ("Eine große Figur im Tintam-Stil hebt beide Arme kraftlos über ihren unrhythmischen Körper und zeigt dabei kaum Altersspuren, was merkwürdig ist für eine Skulptur, die stilistisch dem sechzehnten Jahrhundert entstammen müsste"), ein Auftritt Antonio Canales' und seiner Tanztruppe in Köln und eine Ausstellung über Helmut Striffler in Frankfurt.