Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.12.2002. In der SZ geißelt Bernard-Henri Levy den grünen Faschismus in Pakistan. Claus Leggewie schildert in der FR die Gemütslage in den USA. Die taz untersucht den Zusammenhang zwischen Tourismus und Krieg. Die NZZ berichtet über Fettsucht in den USA. In der FAZ schickt Reiner Merkel, Ex-Pixelparker, einen Notruf aus der Generation der Verlierer.

SZ, 06.12.2002

Gerade aus Pakistan zurückgekehrt, spricht der französische Philosoph Bernhard-Henri Levy (mehr hier) im Interview über den "grünen Faschismus" dort: "Das ist der Faschismus mit muslimischem Antlitz. Das heißt nicht, dass der Islam per se faschistisch sei. Ebenso entschieden widerspreche ich der Ansicht, dass der Islam sich nicht mit dem Respekt vor den Menschenrechten oder der Demokratie vereinbaren ließe. Es gibt eine Chance für einen islamischen Laizismus, wie das Beispiel Bosnien beweist, wo dies sehr lange funktionierte und wofür es selbst heute, nach einem entsetzlichen Bürgerkrieg, wieder Ansätze gibt. Doch man kann auch einen modernen Faschismus beobachten, der sich der Sprache des Islam bedient und den Diskurs der Reinheit pflegt. Und es ist eben im Namen dieser vorgeblichen 'Reinheit', dass man zur Jagd auf Ausländer, auf angebliche Parasiten, auf moralisch schlechte Menschen bläst. In Pakistan ist diese Jagd längst im Gange. Dazu kommt ein virulenter Antisemitismus, der in allen Schichten der Bevölkerung aufgeflammt ist."

Die mannigfaltigen Differenzen der Beitrittskandidaten mit der EU haben durchaus auch ihr Gutes, frohlockt die Politikwissenschaftlerin Christine Landfried. "Welch ein Energiespeicher an Unterschieden ist Europa! Reisen wir von Osten nach Westen oder von Westen nach Osten, dann erleben wir einen immensen Reichtum an Verschiedenartigkeit auf einer im Vergleich zu den USA insgesamt kleinen Fläche mit einer hohen Siedlungsdichte. Es ist die Verschiedenartigkeit der Sprachen, der Musik, der großen und kleinen Theater, der Malerei, der Literatur, der Architektur, der Landschaften, der politischen Kulturen und Institutionen, der Lebensformen bis hin zu den Unterschieden von Bieren und Weinen, die uns in Europa faszinieren."

Weiteres: Thomas Steinfeld schreibt über das "Unbehagen des Romanciers an sich selbst" und prophezeit Peter Handke, der heute sechzig wird, in den nächsten Jahren keine große Leserschaft mehr zu finden. Sonja Zekri schildert die Probleme Rostocks mit Ernst Heinkel, (mehr hier, alle Flugzeuge hier) der die Stadt wie wenige andere prägte, sich aber nicht nur im Bomberbau, sondern auch in der Beschäftigung von KZ-Häftlingen als "Pionier" hervorgetan hatte. Jürgen Berger lässt uns wissen, dass im Streit um Moritz Rinkes Nibelungen-Inszenierung zwischen Freiburg und Worms jetzt die Richter entscheiden müssen. Eva Karcher meldet sich von der Kunstmesse Art Basel, die gerade zum ersten Mal in Florida abgehalten wird. Tim B. Müller fand Friedensforscher Johan Galtung (mehr hier) bei der Karlsruher Tagung "Krieg und Frieden" zuweilen wahnwitzig.

"ff" freut sich, dass die Zeitschrift Brigitte dem ohne Unterlass die angeborene Stillosigkeit der Deutschen monierenden Karl Heinz Bohrer Paroli bietet. Fritz Göttler blickt auf die europäischen Oscars, die an diesem Samstag in Rom vergeben werden. Und "Imue" vermeldet die erste Jahrespressekonferenz des Goethe-Instituts unter Jutta Limbach. Jörg Häntzschel verabschiedet den großen italienischen Designer Achille Castiglioni (einige seiner Arbeiten hier) der am Montag in Mailand verstorben ist. Und Hansjörg Graf schreibt zum Tod des Germanisten und Weltbürgers Wolfgang Leppmann.

Auf der Literaturseite verbreitet Ijoma Mangold Neuigkeiten aus dem Eichborn Verlag, etwa den Weggang von Erfolgsautor Walter Moers. Antje Weber hat sich mit der Verlegerin des Jahres unterhalten, Monika Thaler von Frederking & Thaler. Jens Bisky gratuliert der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft zum Fünfzigsten. Schließlich druckt die SZ zwei Gedichte des gebürtigen Iraners und Wahlmünchners Said, namens morgens und der tod.

Besprechungen widmen sich Henner Wincklers mutigem Film "Klassenfahrt", der fabelhaften Schau italienischer Stillleben in der Hypo-Kunsthalle München, Tim Fischers Kreisler-Liederabend "Adam Schaf hat Angst" am Berliner Ensemble, einem Klavierabend mit Alfredo Perl im Münchner Herkulessaal, dem dreiteiligen Tanzstück "Porträt Jiri Kylian" am Bayerischen Staatsballett und Büchern, nämlich Martina Eberspächers Untersuchung der Bildtradition des Weihnachtsmannes sowie Hans-Dieter Gelferts Analyse der Amerikaner (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FR, 06.12.2002

American Blues: Die FR widmet sich heute dem großen Bruder USA und seiner Seelenlage "zwischen Terrorprävention und Touristenflaute": Von den konservativen Think Tanks in Washington bis den liberalen Professoren in Stanford - es gibt wenige, die Claus Leggewie auf seiner großen USA-Reise nicht besucht hätte. Dementsprechend seriös und informiert liest sich sein langer Report über den derzeitigen Gemütszustand von God's own country. "Mehrmals sind Zigtausende auf die Straßen gegangen, es formiert sich die größte Anti-Kriegs-Bewegung seit Vietnam. Daniel Ellsberg hat die seinerzeit berüchtigten Pentagon-Papiere (mehr hier und hier) neu herausgebracht, Noam Chomsky meldet sich mit immer gnadenloseren Pamphleten zu Wort, der Filmemacher Michael Moore lässt in seinem Dokumentarfilm "Bowling for Columbine" dem Populismus freien Lauf." Und doch, befürchtet Leggewie, wird der "konservative Durchmarsch" weder durch "Jasagerei" aufgehalten werden, "wie die demokratische Opposition in den Zwischenwahlen erfahren musste, noch durch außerparlamentarische Aktion, die vom Campus und von den Randbezirken des Showbusiness ausgeht, wo man derzeit gern Bertolt Brechts Arturo Ui gibt."

Eva Schweitzer schüttelt den Kopf ob des Orwellschen Sicherheitsapparates, der im Schatten von Al-Quaida und Patriot Act (mehr hier und hier) jenseits des Atlantiks gerade aufgebaut wird. "Inzwischen geht es nicht mehr um die Rechtsgrundlage, sondern um die technische Vervollkommnung der Überwachung, und die beschränkt sich nicht mehr nur auf Amerika: ?Wir wollen eine Verbindung zwischen einem Namen in den USA, einem Bild, das in Malaysia aufgenommen wurde, einem Handyanruf in Deutschland und einer Banküberweisung von Pakistan nach Chicago herstellen können?, meinte ein Washington-Offizieller."

Weiteres: Rene Aguigah berichtet von einer Tagung in Karlsruhe, wo Kulturwissenschaftler mit dem bekannten Friedensforscher Johan Galtung (mehr hier) die neue Weltlage analysiert haben. Anneke Bokern stellt uns in Times mager einige Blüten des Pim-Fortuyn-Kultes vor, der gerade in den Niederlanden grassiert. Ursula März gratuliert Peter Handke zu seiner Konstitution und zum Sechzigsten. Marion Victor spricht anlässlich des 14. Frankfurter Autorenforums für Kinder- und Jugendtheater die Krise der Branche an. Ulrich Clewing bringt uns in der Causa Flick und Berlin auf den neuesten Stand. Ralf Grötker war zugegen, als der Pariser Historiker Roger Chartier und der Schweizer Kulturgeschichtler Valentin Groebner in Berlin über The Cultures of Cultural History sprachen. Gemeldet wird kurz, dass es unter Jutta Limbach wieder aufwärts geht mit dem Goethe-Institut.

Besprochen werden der Puppentrickfilm "Prop & Berta" und zwei Ausstellungen über und von Vincent van Gogh in Bremen (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

TAZ, 06.12.2002

Djerba, Bali und Mombasa: Mark Terkessidis untersucht, warum Urlauber zu den bevorzugten Zielen der Terroristen geworden sind. Die Verbindung von Tourismus und Krieg sei keineswegs neu, schon in Vietnam benahmen sich manche Soldaten wie Abenteuerreisende, erinnert Terkessidis. Die Erinnerungsbilder, die sie schossen, hatten immer die gleichen Motive: "das ‘Schnippfeuerzeugfoto‘ (mit einem Zippo-Feuerzeug wird ein vietnamesisches Dorf angezündet), das ‚‘Kopf-ab-Foto‘, Bilder von sehr jungen toten Vietcong und von toten Vietcong-Mädchen sowie Bilder von US-Soldaten, welche zwei Ohren oder eine ganze Halskette aus Ohren in die Kamera hielten. Das Sammeln von ‘Souvenirs‘ war ebenfalls an der Tagesordnung."

Weiteres: Jan Engelmann meldet sich vom Friedensstrukturen-Workshop in Berlin, auf dem Filmemacher und Politiker über Nahost diskutierten. Kolja Mensing weist auf die Arte-Sendung zu "Jesus" Handkes Sechzigsten hin. Andreas Merkel hat in London einen Abend mit Toni Mitchell und ihren orchestral inszenierten Klassikern verbracht. Unterm Strich wird Neues aus der Literatur- und Designszene vermeldet.

Auf der Medienseite hat sich Peer Schrader von DSF-Mann Stefan Ziffzer aufklären lassen, dass die Sportrechte teuer bleiben und die Putzfrau deshalb eben nur noch alle zwei Tage kommt.

Besprochen werden Justin Timberlakes Solo-Debüt "Justified" sowie Steve Reichs und Beryl Korots Videooper "Three Tales" am Berliner Hebbel-Theater (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Schließlich TOM.

NZZ, 06.12.2002

Die USA (und vielleicht nicht nur die?) haben ein ernstes Problem, berichtet Andrea Köhler: "64,5 Prozent der Erwachsenen und 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen zwischen 6 und 19 sind übergewichtig - mit massiv zunehmender Tendenz ... In den nächsten zwanzig Jahren soll die Zahl der Übergewichtigen auf 75 Prozent steigen." Zwei Teenager aus Brooklyn haben jetzt McDonald's verklagt, weil die Firma es "versäumt habe, über die Gefahren der Big Meals zu informieren." Doch liegt die Schuld wohl nicht nur bei den Fast Food Konzernen, sondern auch daran, dass es praktisch keine Alternativen gibt, meint Köhler. "Man versuche einmal in einer mittleren amerikanischen Stadt jenseits der großen Einkaufszentren eine Grapefruit zu kaufen."

Weitere Artikel: Roman Bucheli wirft einen Blick in deutsche Literaturzeitschriften. Und Andrea Eschbach schreibt den Nachruf auf den italienischen Designer Achille Castiglioni (mehr hier und hier). Besprochen werden eine Ausstellung der "minimalistische Spiritualkunst" Wolfgang Laibs im Münchner Haus der Kunst, eine Ausstellung zum hundertsten Todestag Emile Zolas in der Pariser Bibliotheque Nationale und Philipp Eglis "Schneewittchen"-Choreografie am Theater St. Gallen.

Auf den Filmseiten stellt Elsbeth Gut Bozzetti die Fondazione Federico Fellini in Rimini vor. J.Ng. meldet, dass die Zeitschriften "film-dienst" und "Funkkorrespondenz" eingestellt werden. Besprochen werden Mark Romaneks Debütfilm "One Hour Photo" mit Robin Williams als Amokläufer, ein Dokumentarfilm über das Wiener Bellaria-Kino: "Bellaria - Solange wir leben".

FAZ, 06.12.2002

Rainer Merkel, früher bei Pixelpark, heute freier Autor (mehr hier), schickt einen "Notruf aus der Generation der Verlierer". Damit meint er diejenigen, die noch vor ein paar Jahren im Jugendwahn der New Economy fröhlich die Milliarden in den Sand gesetzt haben und sich heute zwei Mal überlegen müssen, ob sie am Automaten Geld ziehen können - und zum Rentenberater müssen. "Allein die Idee der Vorsorge und überhaupt der Gedanke an die Prozesse des Alterns spielten in dem Sex-Design-Kapital-Kloster Pixelpark keine Rolle. Man verdrängte die Vorstellung eines zwanghaften Kontinuums, an dessen Ende die Gesellschaft einen mit der Rente für alles belohnt, gleichzeitig aber auch systematisch ausschließt und aussortiert. Wie sich jetzt zeigt, ein geradezu verschwenderischer Utopismus. Und weil die New Economy so jugendfixiert war, kehrt die Angst jetzt um so stärker zurück."

Peter Handke wird heute sechzig, und Hubert Spiegel überlegt, was wohl gewesen wäre, wenn es den Krieg im ehemaligen Jugoslawien nicht gegeben hätte, wenn Handke all seine "abenteuerlichen, infamen, irrwitzigen, rührenden, naiven und schamlosen Äußrungen nicht gemacht hätte. Vieles spricht dafür, dass Handke als Autor gälte, der sich zwar mit Romanen wie "Mein Jahr in der Niemandsbucht (1994) und zuletzt "Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos" (2002) beharrlich ins privatmystagogische Abseits geschrieben hat, aber als Urvater der mediengewandten Popliteraten gefeiert werden dürfte. Denn der sich gern mönchisch-weltabgewandt gebende Schriftsteller ist der Prototyp jener Autoren, die keine Mühe scheuen, sich im Rampenlicht der Medienöffentlichkeit zu verweigern.

Weiteres: Felicitas von Lovenberg fragt sich, wie es bei Eichborn nun weitergeht, da Programmchef Wolfgang Ferchl und der gewinnbringende Walter Moers den Verlag verlassen haben. Christian Schwägerl widmet sich dem "neuartigen und irritierenden" Engagement der Grünen für den Konsum. Jordan Majias berichtet von einer Tagung in New York, auf der jüdische Intellektuelle aus den USA und Israel über den Nahen Osten, die USA und den neuen Antieuropäismus diskutierten. Eleonore Büning erzählt begeistert vom nordischen Musikfestival "Magma", das erstmals in Berlin stattfand.

Patrick Bahners ergießt seine Häme über den Islamwissenschaftler Bassam Tibi, der verbreitet hatte, er wisse, wo Bin Laden steckt. Katja Gelinsky meldet aus den USA, dass zum ersten Mal seit fünfundzwanzig Jahren der Supreme Court wieder über affirmative actions an den Universitäten entscheiden will. Dieter Bartetzko betrachtet die Frankfurter Pläne, die zerstörte Stadtbibliothek von Architekt Christoph Mäckler (mehr hier) neu aufbauen zu lassen. Als hübsche Beigabe ist außerdem Astrid Lindgrens wiederentdeckte Geschichte "Pipi feiert Weihnachten" zu lesen.

Auf der Medien-Seite nimmt Tilman Spreckelsen Peter Hamms Handke-Porträt "Der schwermütige Spieler" auseinander, das heute abend bei arte zu sehen ist. Und Ingolf Kern ätzt über die Zweitschrift Max, die sich vom seriösen Geschäft trennt und künftig wieder nur noch monatlich erscheint.

Besprochen werden Georg Kreislers Uraufführung "Adam Schaf" im Berliner Ensemble und Bücher, darunter Michael Kimballs Roman "Eine Familie verschwindet" und Banana Yoshimotos Roman "Sly" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).