Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.02.2003. Die Zeit sieht den Pop auf dem Weg zum Friedenskitsch. Die NZZ findet aber: "Pop-Balladen spenden Trost in schwierigen Zeiten." In der FAZ bekennt sich György Konrad zum Krieg. In der SZ fragt Navid Kermani, wie Iraks Zukunft ohne Krieg aussähe - hoffentlich nicht wie Wien nach dem Opernball. Die taz pflanzt den karnevalistischen Samen in Las Vegas.

Zeit, 27.02.2003

Wegen der humanen Arbeitszeiten des führenden Hamburger Instituts ist die Internetredaktion noch nicht in Aktion getreten, um die Zeitung auch im Netz zu aktualisieren. Wir können also noch keine Links setzen. Später hier nachsehen.

Thomas Groß sieht die einst so ironische Popkultur auf dem Rückweg zur Friedensbewegung - von Madonna bis Sheryl Crow. Allerdings sehnt er sich noch nach einer eindeutigen von Herbert Grönemeyer, denn "kein anderer als er bringt es derzeit fertig, von der Showbühne herab ein 'Jahrhundert der Menschlichkeit' auszurufen und dafür nicht Gelächter, sondern Tränen der Rührung zu ernten."

Vor 50 Jahren ist der Diktator, dessen Schnurrbart wie eine Kakerlake lachte, gestorben. Die Zeit bringt dazu in allen Ressorts eine Reihe von Artikeln. In der Kultur schreibt Boris Groys, der an die Seelenverwandtschaft von politischen und künstlerischen Avantgarden erinnert: "Der avantgardistische Wunsch nach Abschaffung aller Grenzen, welche die gestaltende Initiative der Kunst behindern, ist dem Wunsch des modernen Politikers nach absoluter politischer Freiheit und Verfügungsgewalt über die ökonomischen und sozialen Bedingungen seines Wirkens zutiefst verwandt. Der moderne Totalitarismus ist nur die radikale Verwirklichung dieses Wunsches: Das politisch-künstlerische Subjekt gewinnt seine absolute Freiheit, indem es alle überkommenen moralischen, ökonomischen, institutionellen, rechtlichen oder ästhetischen Grenzen abschafft, die seine Initiative begrenzen." Weitere Artikel des Stalin-Dossiers: Christian Schmidt-Häuer schildert auf der Zeitläufte-Seite die letzten Tage des Diktators. Johannes Winkel stellt die Organisation Memorial vor, den sich auf die Suche der Spuren der Opfer begibt. Und Michael Allmaier erinnert sich an die Zeit, als Eisenhüttenstadt noch Stalinstadt hieß.

Weitere Artikel: Heinz Peter Schwerfel unterhält sich mit dem Designer Philipp Starck, der einen Satz sagen kann, um den ihn alle Künstler beneiden: "Ich bin ein poulärer Designer, mein Museum ist das Zuhause der Leute" - nun wird ihm aber auch eine Ausstellung im Centre Pompidou gewidmet. Evelyn Finger kritisiert in der Leitglosse die Tanzkritik, die noch gar nicht gemerkt hat, "dass wegweisende Choreografen für die Popindustrie arbeiten". Thomas Assheuer schreibt zum Tod von Maurice Blanchot. Die Anwälte Peter Raue und Jan Hegemann preisen das GmbH-Modell, das sie für das Weimarer Nationaltheater gefunden haben und das die Theater aus der Zwangsjacke des Öffentlichen Dienstes befreit. Frank Sawatzki stellt anlässlich einer Tournee die Band Calexico vor.

Rezensionen widmen sich dem Film "About Schmidt" (mehr hier) nach Begley mit Nicholson, Ulrich Köhlers Debütfilm "Bungalow" (mehr hier), einer Ausstellung des Künstlers Gregor Schneider in Hamburg, einer Ausstellung des Videokünstlers Stan Douglas in Hannover und Christoph Marthalers viel gefeiertem Spektakel "Groundings" in Zürich.

Aufmacher des Literaturteils ist ein Selbstgespräch Ulrich Greiners über die Frage, ob man Leon de Winters Roman "Malibu" lesen soll, obwohl er ein Bestseller ist. Und Elisabeth von Thadden gratuliert dem Philosophen Paul Ricoeur zum Neunzigsten. Im Politikteil findet sich ein Essay von Richard Weizsäcker über "Politik als Berufung". Und Jan Ross findet, dass Folter gegen Menschenrechte verstößt.

SZ, 27.02.2003

"Gegen den Krieg zu sein, beantwortet nicht die Frage, wie denn Iraks Zukunft ohne Krieg aussähe", schreibt der Islamwissenschaftler Navid Kermani (mehr hier), "Soll es einfach so weitergehen wie in den vergangenen zwölf Jahren? .... ein Frieden, der aus Saddam Husseins und einem mörderischeren Embargo besteht, ist nichts anderes als die Fortsetzung von Tyrannei und von der UN in Kauf genommenem Massensterben." Dennoch findet Kermani es wichtig, auch jetzt noch Alternativen zum Krieg zu formulieren. Doch die "Kriegsgegner sollten sich nicht auf das Nein beschränken, sondern über Perspektiven nachdenken, wie der Irak mittelfristig Embargo und Diktatur abschütteln kann. Dafür liegen keine Lösungen parat? Richtig, also hätte man längst anfangen sollen, sie zu suchen. Die Gegenwart des Landes ist für die Bevölkerung so schlecht, dass selbst Europas Diplomatie imstande gewesen sein sollte, Pläne für ihre Verbesserung auszuarbeiten."

"Egal, welche Krisen uns gerade schütteln - der Wiener hat alljährlich, meistens im Februar, eine Krise mehr: den Opernball." Helmut Schödel gibt für Wien die Devise "Ballalarm" aus: "Dieser Aufmarsch der Gesellschaft in Frack und Abendkleid, irgendwo zwischen Ufo und Ufa, entzieht sich als Ritual eigentlich der Diskutierbarkeit.... Oh schwere Prüfung!"

Weitere Artikel: Für Armin Adam deuten die letzten Äußerungen der Bush-Administration darauf hin, dass wir es nicht mehr mit der Außenpolitik souveräner Staaten zu tun haben, sondern mit der Weltinnenpolitik eines Hegemon. Fritz Göttler präsentiert Deutschlands neuen Superstar: "good old Lenin" nämlich, und gibt außerdem Daniel Taradash, "einem der souveränen, psychologisch wie politisch versierten Autoren von Hollywood" (u.a. des oscargekrönten Drehbuchs des Films "Verdammt in alle Ewigkeit") das letzte Geleit, der jetzt in Los Angeles gestorben ist. Adrian Kreye berichtet, wie in Amerika Stimmmung gegen den Hip Hop gemacht und die Rap-Musikindustrie zum Staatsfeind erklärt wird. Alexander Kissler meditiert über therapeutisches Klonen und Stammzellen aus Israel. "ff" sieht durch den Ticker stündlich neue Meldungen aus der Friedenskulisse einlaufen und die schon müde geglaubten deutschen Intellektuellen wieder in Führung liegen. Außerdem gibt es einen Bericht von der Tagung "Gesicht und Maske", die das Forschungskolleg für Medien und kulturelle Kommunikation in Köln veranstaltet hat. Und "flow" lobt die Eröffnungsrede des Freiburger Historikers Ulrich Herbert zur neukonzipierten Ausstellung "Verbrechen der Wehrmacht", die in der Zeitschrift Mittelweg 36 (6/2002) abgedruckt ist: "Nach der Lektüre weiß man genau Bescheid."

Besprochen werden: Vibeke Idsoes Zeichentrickfilm nach Astrid Lindgrens Kinderroman "Karlsson vom Dach", in dem für Fritz Göttler stärker als in den Büchern die Verwandtschaft zwischen dem skandinavischen und dem amerikanischen Superman deutlich wird. Eine Ausstellung der Bilder von Hans-Peter Feldmanns im Kölner Museum Ludwig, John Pasquis Film "Joe Somebody" ("eine subtile, liebenswerte Komödie über die Midlife-Krise, über den Blues von vereinsamten amerikanischen Männern mittleren Alters"), Rob Marshalls Filmmusical "Chicago" ("und der Film wird sich keine Sekunde bewusst, dass er seine Heldinnen ... nicht zu mysteriös-erotischen Powerfrauen macht, sondern bloß zu dummen Kühen"). Hier gibt es ein Interview mit Regisseur Rob Marshall, und Bücher, darunter Rainer Maria Rilkes Briefwechsel mit Rolf von Ungern-Sternberg (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 27.02.2003

Pascal Beucker hat sich aus gegebenem Anlass für die Tagesthemenseiten mit dem Kölner Kabarettisten Didi Jünemann (mehr hier) unterhalten, der mit seinem Kollegen Jürger Becker kürzlich als "Missionswerk Rheinischer Frohsinn" in den USA unterwegs war, um dort die kölsche Friedensbotschaft zu verbreiten: "Aber das Problem war, dass wir den karnevalistischen Samen erst mal in Las Vegas gepflanzt haben, der Spielhalle der Amerikaner. Bis sich der von dort verbreitet, dauert es - ist ja ein großes Land. Vielleicht fahren wir das nächste Mal direkt nach Washington. Da gibt es ein paar Kandidaten, die ein bisschen Frohsinn gut gebrauchen könnten, gerade in der Bush-Administration. So ein Rumsfeld zum Beispiel. Dem merkt man doch sehr stark an, dass er leider norddeutsche und keine rheinischen Vorfahren hat."

Weitere Artikel: ein Interview mit der israelischen Popsängerin Noa über ihre schwierige Rolle als Symbolfigur der Friedensbewegung ihres Landes. Besprochen werden die große Tizian-Schau in der Londoner National Gallery, Alexander Paynes Verfilmung des Louis-Begley-Romans "About Schmidt" und der nach einer MTV-Show (in der Männer sich freiwillig verletzten, weil, wie wir lesen, "der eigene Körper eine Extremform von Party ist") entstandene Film "Jackass" von Johnny Knoxville - für Kritiker Andreas Busche "antiautoritäres Kino in seiner regressivsten Form".

Und TOM.

FR, 27.02.2003

Im Gespräch mit Harry Nutt unterscheidet der Frankfurter Soziologe Sighard Neckel heutige Friedensdemonstranten deutlich von der Friedensbewegung der achtziger Jahre, weil die Millionen, die zuletzt in ganz Europa auf der Straße waren, seiner Ansicht nach weniger durch Angst mobilisiert wurden als durch eine viel genauere Sorge. "Im Zeitalter der neuen Kriege haben wir es nunmehr mit einer vagabundierenden Gewalt zu tun, die nicht mehr von organisierten Staatenblöcken ausgeht, sondern von fundamentalistischen Warlords und politischen Kriegsunternehmern. Auf der anderen Seite steht eine amerikanische Regierung, die sich in eine neue Form eines internationalen Kontrollregimes nicht mehr einbinden lassen möchte. Daraus erwächst die begründete Sorge, überall auf unvorhersehbare Weise von Gewalteskalationen heimgesucht werden zu können."

Rolf Paasch diskutiert Gedankenspiele über einen demokratisierten Irak nach dem Krieg und bemerkt eine "Unsicherheit über die Ziele des Krieges und eine konzeptionelle Kurzsichtigkeit bei der Berücksichtigung seines historischen und kulturellen Kontextes. Natürlich erfordert jede Demokratisierung, ob in Bosnien oder in Bagdad, im konkreten Fall Kompromisse. Und natürlich lässt sich mit einer zerstrittenen Exil-Opposition und der Abhaltung von Wahlen in einem Land ohne jede zivilgesellschaftliche Erfahrung keine tragfähige Demokratie errichten. Doch scheint es das Charakteristikum neo-konservativer Außenpolitik zu sein, dass sie mit ihrer missionarischen Rhetorik bei den Betroffenen demokratische Ansprüche weckt, die sie anschließend durch ihre Weltmachtreflexe wieder zerstört."

Weiter Artikel: Ernst Piper erinnert an den Reichtstagsbrand vor siebzig Jahren. Martina Meister gratuliert dem Philosophen Paul Riceur zum neunzigsten Geburtstag, und in der Kolumne Times Mager sinniert Hannelore Schlaffer anhand ausgewählter Beispiele über die Umwandlung von Theatern in Gymnasiksäle.

Besprochen werden in bewährt viruoser Schrulligkeit von Hans-Klaus Jungheinrich eine sich anbahnende erstklassige Aufführung von Richard Strauss' Oper "Arabella" an der Opera du Rhin in Straßburg, die dann "in eine beklommene Einmaligkeit jenseits aller Theaterwirklichkeit" abgeschwenkt ist: ein Erdbeben erschütterte die Oper derart, dass die Vorstellung abgebrochen werden musste. Weiter die Uraufführung von Pascal Dusapins Oper "Perela - uomo di fumo" an der Bastilleoper in Paris, Alexander Paynes Tragikomödie "About Schmidt", in der Kritikerin Heike Kühn Jack Nicholson als Pensionär und Witwer brillieren sah, und ein Band mit den politischen Chansons von Charles Eugene Gille (siehe unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 27.02.2003

Noch ein Artikel über Pop und den Krieg, allerdings wesentlich pragmatischer angelegt: "Pop-Balladen spenden Trost in schwierigen Zeiten", meldet Michael Kerkmann. Er findet, dass es im Moment eine Menge guter Balladen gibt, zählt allerdings auch "I'm just a Dreamer" von Ozzy Osbourne dazu, und schreibt, dass die Band Coldplay nur durch ihre Balladen groß wurde. "Was aber macht eine gute Ballade aus? - Eins ist sicher, sie muss etwas irgendwie Echtes, Wahrhaftiges zum Ausdruck bringen, ein ewiges Thema berühren, das über Pop hinausreicht. Balladen erschöpfen sich dabei freilich nicht in ehrlicher Expression." Vertrackt.

Weitere Artikel: Peter Niklas Wilson stellt das Erstwhile-Labnel von Jon Abbey vor, das improvisierte Musik mit neuesten elektronischen Technologien koppelt. Roman Hollenstein schreibt zum 70. Geburtstag des Tessiner Architekten Livio Vacchini. Besprochen werden eine Ausstellung mit den Fotos, die Pierre Bourdieu in seiner algerischen Zeit Ende der fünfziger Jahre schoss, und eine Menge Bücher, darunter Paula Fox' Erinnerungsband "In fremden Kleidern" und Ulrich Becks Abhandlung "Macht und Gegenmacht im globalen Zeitalter" (mehr hier). (Siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr.)

FAZ, 27.02.2003

Die neuste Meldung zuerst: Daniel Libeskind baut das neue World Trade Center in New York, meldet das FAZ.Net ganz groß. Mehr hier. Und hier die New York Times zum Thema.

Und hier die Zeitung:

Eine halbe Seite hat die FAZ freigeräumt, um György Konrad (mehr hier) erklären zu lassen, warum er für einen Irak-Krieg ist: "Habe ich nicht die Absicht, mich selbst zu täuschen, dann kann ich weder an eine Unschuld der amerikanischen noch der deutschen, weder der britischen noch der französischen, weder der russischen noch der chinesischen Seite glauben. Ich nehme zur Kenntnis, dass sie alle ihre Interessen haben. Wir, ehemalige Dissidenten Mitteleuropas, sind daran interessiert, dass es weniger Diktaturen auf der Erde gibt. Deshalb ist uns die aufgefrischte antiimperialistische Propaganda, deren Wortführer wie in den Zeiten des Kalten Krieges groteskes Verständnis für todbringende Diktaturen bezeigen, nicht sympathisch. Deshalb bringen wir dem irakischen Despoten in seinem Vorgehen gegen das eigene Land und die Völker an der Peripherie keine demonstrative Toleranz entgegen."

Weitere Artikel: Gina Thomas schreibt einen Nachruf auf den britischen Historiker Christopher Hill, der so problemlos seine marxistischen Überzeugungen mit seiner Leidenschaft für den Puritanismus des 17.Jahrhunderts verbinden konnte. Glückwünsche gehen an den Verleger KD Wolf zum Sechzigsten und an den Philosophen Paul Ricoeur (mehr hier) zum Neunzigsten. Dieter Bartetzko porträtiert die Stimmungskanone des Wirtschaftswunders, Grethe Weiser. Und Martin Otto schließlich widmet sich der Prophetie des englischen Jugendbuchautors David Macaulay, der bereits 1980 New Yorker Hochhäuser in Parkanlagen verwandeln wollte.

Die Filmseite widmet sich Rob Marshalls Musical "Chicago". Claudius Seidls Kritik an Rob Marshalls Film lässt sich auf die Formel bringen: zu wenig Rhythmus, zu viel kritisches Bewusstsein. Andreas Kilb plaudert etwas gezwungen mit Richard Gere über Tanzstunden, Coolness und natürlich den Dalai Lama.

Auf der Medien-Seite betrachtet Alexander Bartl die Dauerfehde zwischen Deutschem Wetterdienst und Jörg Kachelmann. Nach eigenem Bekunden ist Kachelmann jetzt, da der Wetterdienst angekündigt hat, sich aus dem Mediengeschäft herauszuziehen, "sehr unentspannt". Joseph Hanimann kommentiert den Wirbel um "Le Monde", den ein angebliches Enthüllungsbuch verursacht hat, mit einem Schulterzucken: "Die Bibel ist auch nicht mehr, was sie mal war.

Besprochen werden eine Magritte-Retrospektive im Pariser Jeu de Paume, Thomas Langhoffs Inszenierung von Hauptmanns "Michael Kramer", die beiden Produktionen, "Lucio Silaa" und "Giustiono" bei den Karlsruher Händel-Festspielen, neue DVDs, auf denen der junge Jack Nicholson in B-Western glänzt, sowie "Die Fahrt der Argonauten" in neuer Übersetzung.