Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.06.2003. In der SZ stellt Wolf Lepenies fest, dass George Orwell kein Engel war. Die FR konstatiert: "Wo sich der Deutsche heimatlich fühlt, denkt er an Bayern." Die NZZ betont, dass keineswegs alle irakischen Kulturschätze gerettet worden sind. Die FAZ verliebt sich in den pubertierenden Harry Potter.

SZ, 24.06.2003

Wolf Lepenies erzählt die "filmreife" Geschichte der erst jetzt veröffentlichten "Denunziationsliste" von George Orwell, auf der er mit dem Kommunismus sympathisierende, verdächtige Personen notierte, und die er an den britischen Geheimdienst weitergab. Unter den 38 Namen findet sich etwa auch der von Charlie Chaplin. Lepenies Fazit: "Orwells Liste stimmt uns traurig, aber sie ist keine Sensation. Sie muss nur denen als ein Skandal vorkommen, die Orwell auf die Höhe moralischer Unantastbarkeit heben wollten. (...) Im Rückblick macht Orwells Liste vor allem eines deutlich: wie sehr der Patriotismus auch diesen Autor auf einen Irrweg führte."

Weitere Artikel: Alexander Kissler informiert über eine neue interne Beschlussvorlage der EU-Kommission, wonach die Tötung von Embryonen zu Forschungszwecken ab 2004 statthaft sein soll. Alex Rühle weist nach, dass gerade die Verhaftung des Globalisierungsgegners Jose Bove diesem wieder jede Menge Öffentlichkeit bringt. Robert Jütte, Vorsitzender eines gleichnamigen Arbeitskreises, erläutert die "Stuttgarter Empfehlungen" zum würdevollen Umgang mit Präparaten menschlicher Herkunft.

Helmut Mauro bedauert das allmähliche Verblühen des Orchideenfachs Musikwissenschaft, "mss" informiert über eine angekündigte Fusion zweier Orchester aus Mainz und Ludwigshafen, und Martin Z. Schröder besuchte die zweiten Berliner Hörfestspiele. Willi Winkler beklagt die Unfähigkeit deutscher Staatsmänner zu ordentlichen (Sex-)Skandalen. Schließlich erklärt "pst" noch, warum die Amerikaner im Irak jetzt Geld mit Saddams Konterfei drucken müssen. Gratuliert wird heute gleich zweimal: Der Architekt und Olympia-Planer Fritz Auer wird heute 70 Jahre (hier), der Poet und Kritiker Yves Bonnefoy 80 Jahre alt (hier). Ein Nachruf würdigt den weißrussischen Schriftsteller Wassil Bykau. In der Serie über große Journalisten wird auf der Medienseite der "Kaffeehausliterat" Anton Kuh porträtiert.

Besprochen werden zwei Inszenierungen am Berliner Gorki-Theater, die das Programm und das Publikum verjüngen sollen: "Schtschi (Krautsuppe, tiefgefroren)" von Wladimir Sorokin und Henning Mankells "Zeit im Dunkeln", eine Inszenierung der Ligeti-Oper "Le grand Macabre" an der Komischen Oper Berlin, die Ausstellung der fotografischen Sammlung der Wiener Albertina, "Das Auge und der Apparat", im Münchner Stadtmuseum und Claude Lanzmanns Film "Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr". Und in der Kolumne Zwischenzeit schwärmt Joachim Kaiser von den Homer-Leseabenden mit Rolf Boysen.

Rezensiert werden schließlich zwei Publikationen über das Byzantinische Reich, Machado de Assis? "nachträgliche Memoiren des Bras Cubas" (hier) und James Kelmans "erfolgreich erfolgloses" Buch "Busschaffner Hines" (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr)

TAZ, 24.06.2003

Thomas Fitzel porträtiert den libanesischen Architekten Bernard Khoury (mehr hier), der in seiner Heimatstadt Beirut Discotheken und Restaurants baut und darin - per Standortwahl, Materialien und Ausstattung - "die Strukturen einer Mahnmals- und Erinnerungsarchitektur mit dem Profitinteresse der Unterhaltungsindustrie" verbinde. Auf einer Berliner Podiumsdiskussion sagte er selbst dazu: "Nicht ich bin zynisch, sondern die Gesellschaft, in der ich lebe, und ich bin ein Teil von ihr. Ihr seid glücklich, ihr könnt hier über Erinnerung debattieren. In Beirut könnte ich niemals einen Vortrag darüber halten, kein Mensch würde mir je zuhören, also dont give me a fuck!"

Weitere Artikel: Frieder Reinighaus hat sich in Brüssel, Antwerpen, Aachen und Bielefeld Premieren neuer Opern angesehen und -gehört, die sich den großen Mythen der Antike widmen. Gerrit Bartels kommentiert den Vorabdruck aus Florina Illies' Fortsetzung von "Generation Golf" in der in der Zeitschrift Brigitte ("Hat da etwa ein Paradigmenwechsel in Richtung ewiger Jugend stattgefunden? Schreibt Illies Frauenzeitschriftenbücher?") Und auf der Medienseite verabschiedet Heiko Dilk den "letzten Vertreter des Frontstadt-Journalismus", Georg Gafron, der als Chefredakteur der Berliner Springer-Postille B.Z. abgelöst wird.

Besprochen werden der Film "Der Sohn" von Jean-Pierre und Luc Dardenne und Bücher, darunter Patricia Dunckers Roman "Der tödliche Zwischenraum", ein Band über das Leben der Käfer, eine Studie über "Kennedy in Berlin. Politik, Kultur und Emotionen im Kalten Krieg" und eine "Verteidigung der kritischen Vernunft" des Journalisten Christopher Hitchens (hier) (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Schließlich Tom.

FR, 24.06.2003

Hannlore Schlaffer denk im Aufmacher über den Begriff Heimat nach, und weiß ihn - zumindest für die Deutschen - eindeutig zu lokalisieren: in Bayern nämlich. Was sie noch einigermaßen maßvoll und einsichtig an der Überregionalisierung der Biergartenkultur zeigt, steigert sich zu der These: "Wo sich der Deutsche, der freilich sonst wesentlich Kosmopolit ist, heimatlich fühlt, denkt er an Bayern. In der Heimat ist der Himmel weiß und blau, die Tischdecke kariert, die Bank holzgeschnitzt und der Senftopf geblümt. Zum Heim wird das deutsche Reihenhaus erst, wenn der Besitzer Signale seiner Verbundenheit mit dem südlichen Land anbringt: eine Haustür, die durch ein paar Schnörkel mit schwächlichem Schwung an ein schönes, barockes Tor im Alpenland erinnert, Geranien vor den Fenstern, ein Wagenrad im Garten, ein Bierfass als Blumenkübel, als Brunnen ein Mühlstein (...) und rohes Holz so viel, wie es der Beutel trägt und wo immer es geht." Wenn das mal gut geht!

Weitere Artikel: Frank Nullmeier analysiert die Legitimationskrise des Sozialstaats und plädiert für "regulierte Wohlfahrtsmärkte statt Sozialstaatabbau". Roman Luckscheiter resümiert eine Zürcher Tagung über Nationalliteraturen. In seinem Kindheitstagebuch aus der Zone gesteht Michael Teztlaff, dass er einmal beinahe seine gesamte Familie vergiftet hat, und in Times mager erklärt Petra Kohse, warum man die Söhne Mannheims vergessen und stattdessen auf die Töchter Mannheims schauen soll. Auf der Medienseite wird von der Abschaltung des Senders TWS berichtet, was "die Epoche des staatsunabhängigen Fernsehens in Russland" beende.

Besprochen werden die Ausstellung von Georg Baselitz' Afrika-Sammlung im K20 in Düsseldorf, die Ligeti-Oper "Le grand Macabre" an der Komischen Oper Berlin, die deutschsprachige Erstaufführung von Abi Morgans "Zärtlich" am Essener Schauspiel und Bücher, darunter Margaret Atwoods Roman "Oryx and Crake" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 24.06.2003

Cristina Erck beschreibt den Stand der Dinge bei den gestohlenen Kulturgütern im Irak. Hier sei scheinbar "viel Lärm um nichts" betrieben worden, stelle sich doch nach und nach raus, das kaum etwas fehlt. Dies treffe so jedoch nur auf das irakische Nationalmuseum in Baghdad zu. Die Verluste an den archäologischen Stätten wie Umma, Isin oder auch Nimrud seien dagegen hoch. Ein Problem gibt es daher nach wie vor, so Erck: "Was den internationalen Kunstmarkt betrifft, werden strengere Gesetze immer wieder verhindert. Der 'American Council for Cultural Policy' (NZZ vom 22.4.03) ist da nur einer der Vorreiter. Schon werden Stimmen laut, die das in der Schweiz momentan diskutierte Gesetz zum Kulturgütertransfer in Abstimmung mit der Unesco- Konvention als überflüssig und 'sammlerfeindlich' brandmarken. Am gleichen Ort werden die irakischen Verluste zwar als immer noch hoch, letztlich jedoch 'vernachlässigbar' dargestellt (Finanz und Wirtschaft vom 4.6.03)." (Einen Protestbrief verschiedener archäologischer Institutionen gegen die Pläne des ACCP finden Sie im Guardian.)

Weitere Artikel: Ulrich Kronauer erinnert an den "estnischen Zeitungsvater" Carl Gustav Jochmann (1789-1830): "Es ist ein faszinierender Gedanke, dass Jochmann durch seine von dem in der Schweiz wirkenden Schriftsteller Zschokke etwas feierlich "Reliquien" genannten Schriften einen Einfluss auf einen der Begründer der periodischen Presse in Estland ausgeübt haben könnte." Desweiteren heute zwei Nachrufe, so schreibt Beatrice von Matt zum Tode von Hans Boesch: "Hans Boesch (mehr: hier) war und ist der große Unbekannte in der Schweizer Literatur. Seine Bücher sind anspruchsvoll, die geistigen Konzepte ganz eigen und in jedem Buch neu erarbeitet." Und eine Agenturmeldung gibt den Tod von Wassil Bykow bekannt.

Besprochen werden die Aufführung von Mozarts "Entführung aus dem Serail" im Opernhaus Zürich und Bücher, darunter Yade Karas Roman "Selam Berlin" (mehr: hier), Khalid Boudous Roman "Lehrjahre im Schnitzelparadies" (mehr: hier) und Antonio Lobo Antunes' Roman "Einblick in die Hölle" (mehr: hier) (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 24.06.2003

Hier die ersten, sehnsüchtig erwarteten Informationen über Band 5, übermittelt von einer begeisterten Felicitas von Lovenberg: "Harry ist dünnhäutiger denn je und reagiert abwechselnd gereizt, ausfallend oder wütend. Er pubertiert, er ist ein bisschen verliebt, er schläft schlecht. Vor allem fühlt er sich vom Kampf gegen Voldemort ausgeschlossen. Und er ist aufgebracht, weil nicht nur Zauberminister Fudge, sondern auch die meisten seiner Mitschüler nicht glauben wollen, dass Voldemort tatsächlich zurückgekehrt ist - auch das eine von vielen Parallelen zur historisch-politischen Realität." Gleich zu Anfang ihres Artikels hatte Lovenberg festgestellt: "J. K. Rowling hat ihre Leser noch nie enttäuscht. Auch in 'Harry Potter and the Order of the Phoenix' gibt es keine Anzeichen einer Ermüdung der Autorin, anders als Band vier, der stellenweise ein bisschen bemüht wirkte. Das neue Buch strotzt nur so von Einfällen, von liebevoll erdachten und gewohnt geschickt platzierten Details. Fäden, die in den früheren Bänden raffiniert ausgelegt wurden, werden hier wieder aufgenommen..." Und wir haben schon wieder Lust, uns in die Lektüre zu stürzen! Auf der Bücher-und-Themen-Seite gibt es weitere Artikel zu Harry Potter. Joachim Kalka stellt das Genre der Schulromane vor. Und der Hobby-Zauberer Peter Rawert liest einige klassische und neuere Bücher übers Zaubern. Und hier präsentieren wir die ersten 766 Rezensionen von HP 5.

Zwar genießen Staatsoberhäupter und Regierungschefs überall Immunität, schreibt Dirk Schümer, aber die "Lex Berlusconi" hat eine Besonderheit: "Hier drängt sich nämlich der Eindruck auf, als habe der amtierende Premierminister seine politische Laufbahn geradezu geplant und weiterverfolgt, um sich eine drohende Strafverfolgung vom Halse zu halten - 'um nicht auf der Galeere zu enden', wie man in Italien volkstümlich sagt. Silvio Berlusconi hat das in seinen zahlreichen Tiraden gegen eine 'verbrecherische Justiz' sogar eingeräumt: Nur der Gang in die Politik - nachdem sein früherer Protektor Craxi sich ins unrühmliche Exil abgesetzt hatte - gebe ihm die Möglichkeit, sich gegen die lästigen Staatsanwälte zu wehren."

Weitere Artikel: Der Volkswirtschaftler Joachim Starbatty widerspricht Jürgen Habermas' "Kerneuropa"-Initiative aus ökonomischer Sicht "Zur Zeit sind Frankreich und Deutschland so sehr mit ihren wirtschafts- und sozialpolitischen Ausbesserungen beschäftigt, dass die ökonomische Kraft, der politische Wille und auch das internationale Ansehen fehlen, um die Rolle eines Antihegemons zu spielen." Gina Thomas verweist auf einen Artikel von Timothy Garton Ash im Guardian, der aus Anlass des hundertsten Geburtstag des Autors noch einmal die Frage aufwirft, ob sich Orwell als antikommunistischer Spitzel betätigt habe - er hatte dem britischen Geheimdienst eine Liste mit den Namen vermuteter Kommunisten zukommen lassen (Ashs Artikel ist leider nicht online). Wolfgang Sandner meldet, dass Staatsminister Jürgen Zöllner jetzt ein Reformkonzept für die Orchester- und Theaterlandschaft Rheinland-Pfalz vorgestellt hat. Richard Kämmerlings resümiert eine Zürcher Tagung über "das Phantom der Schweizer Literatur". Brita Sachs fasst eine Münchner Tagung zur Ästhetik von künstlerischen Restaurierungen zusammen, die vom deutschen Komitee des internationalen Rats für Denkmalpflege Icomos gemeinsam mit dem Bayerischen Nationalmuseum organisiert wurde. Kerstin Holm schreibt zum Tod des Autors Wassili Bykow.

Auf der letzten Seite besucht Ilona Lehnart die Berliner Museumsinsel und erfährt: "Jetzt endlich soll auch Friedrich Stülers Neues Museum wiedererstehen." Dietmar Dath stellt die Krautrockgruppe Faust vor. Und Michael Grill fragt, was aus dem Münchner Alten Hof, einer Keimzelle der Stadt, werden soll. Auf der Medienseite stellt Mark Siemons die neue Zeitschrft Voss vor (der angeblich der Ehrgeiz nachgesagt wird, ein New Yorker für Berlin werden zu wollen).

Besprochen werden eine Ausstellung über die Samurai in Köln, letzte Opernproduktionen vor der Sommerpause - nämlich Ligetis "Gran Macabre" und Paul Abrahams Operette "Die Blume von Hawaii" - an der Komischen und der Staatsoper Berlin, John Neumeiers Tanzstück "Preludes CV" in Hamburg, eine Ausstellung mit Bildern, die sonst in der Wohnung von Marcel Reich-Ranicki hängen, in Lübeck und Ingrid Lausunds Stück "Das Leben - ein Hobby" in Köln.