Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.10.2003. Im Tagesspiegel kündigt Martin Walser seinen Weggang von Suhrkamp an. Oder doch nicht? Bei der SZ spaltet Uma Thurman die Persönlichkeiten. Die FAZ weint beim "Wunder von Bern". In der Welt verrät Michel Friedman, was er beim Aufbau-Verlag vorhat. In der FR verteidigt Wilhelm von Sternburg die 68er. Die NZZ entdeckt eine heimliche Nationalgalerie für Schweizer Kunst.

Tagesspiegel, 15.10.2003

In einem Interview kündigt Martin Walser seinen Weggang vom Suhrkamp Verlag an. Oder doch nicht? "Durch die - seismologisch gesagt - Erschütterungen des vergangenen Jahres hat sich in mir ein Gefühl angenehmer Ortlosigkeit ausgebreitet, was das Daheimsein in einem Verlag angeht. Ich habe diese Illusion nicht mehr, die bei einem Autor entstehen kann. Der Verleger sagt: Das ist mein Autor. Der Autor sagt: Das ist mein Verleger. Mit solchen pseudo-besitzanzeigenden Fürwörtern bezeichnen sie einander, und das sind die Wärme verbreitenden, angenehmen Lügen des Alltags." Ob die Ortlosigkeit durch den Tod Siegfried Unselds entstanden sei, fragt Interviewer Roman Pliske. "Das ist richtig. Dieser Tod wurde nur benutzt", antwortet Walser.

Was meint er damit? Wir erfahren es nicht, denn mit diesem Satz endet das Interview. Angeblich kursieren laut Tagesspiegel schon seit längerem Gerüchte, dass Walser den Suhrkamp Verlag verlassen will. Er habe auch die Gedenkveranstaltung für Siegfried Unseld nicht besucht, obwohl er in Frankfurt war. (Der aktuelle Tagesspiegel ist noch nicht online. Versuchen Sie es später hier.)

SZ, 15.10.2003

Ein bemerkenswertes Erlebnis hat Quentin Tarantino mit seinem Film "Kill Bill" Susan Vahabzadeh beschert: "Ein Hieb von Uma Thurman, und man hockt als gespaltene Persönlichkeit auf dem Kinositz. Der eine Teil balanciert auf dem Rand des Sessels, reckt den Hals zur Leinwand und krallt sich an den Armlehnen fest vor Faszination. Der andere hat die Beine übereinander geschlagen, sich im Sessel zurückgelehnt und raunt ins Halbdunkel: Werd' endlich erwachsen."

Weitere Artikel: In der Debatte um die Legitimität der Euthanasie plädiert der Kulturhistoriker Wolfgang Schivelbusch für eine neu-alte Kultur des süßen Sterbens. Thomas Urban berichtet, dass sich nun auch Günter Grass für ein internationales Bruno-Schulz-Zentrum im ukrainischen Drohobycz einsetzt. Der Schriftsteller und Maler war dort 1942 von einem SS-Offizier erschossen worden, dem er vorher die Villa mit Fresken ausstatten musste. Henning Klüver hat eine unterhaltsame italienische Opernwoche hinter sich: "Diadochenkampf an der Mailänder Scala, Publikumsschlacht am Opernhaus von Genua, Proben für ein Sakrileg in Rom." Ralf Dombrowski stellt ein wenig widerwillig einen neuen Troubadour aus der französischen Provinz vor: Didier Squiban aus Ploudalmezeau, der mit bretonischer Musik durch die Lande tingelt. Volker Breidecker hat sich in Frankfurt neue Lieder über Lenin von Slavoj Zizek und Boris Groys anhören müssen.

Joachim Riedl hofft auf den baldigen Fall eines Lieblingsfeindes: des österreichischen Finanzministers Karl-Heinz Grasser. Ihm wird vorgeworfen, gewisse Summen am Finanzamt vorbei geschleust zu haben. Wolf Lepenies verabschiedet den Kölner Soziologen Erwin K. Scheuch. Mit Genugtuung bemerkt Franziska Meier, dass der italienische Erzähler Vitaliano Brancati in die Reihe "I Meridiani" aufgenommen und damit zum Klassiker erhoben wird. "abra" meldet, dass Marion Ackermann vom Münchner Lenbachhaus zur Galerie der Stadt Stuttgart wechselt.

Besprochen werden die Uraufführung von Bernhard Langs "Theater der Wiederholungen" in Graz, neue Stücke von Falk Richter und Roland Schimmelpfennig in Zürich und Bücher, darunter Annette Pehnts Roman "Insel 34", Helene Hanffs Reisetagebücher "Die Herzogin von Bloomsbury Street" und "Don Quijote" als Hörspiel mit Willy Birgel und Walter Richter (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

TAZ, 15.10.2003

Detlef Kuhlbrodt gratuliert dem Schweizer Chemiker Albert Hofmann zu seiner Entdeckung des LSD als potenter Droge vor sechzig Jahren. Dietrich Kuhlbrodt nimmt Sönke Wortmann übel, dass er auf das "Wunder von Bern" nicht auch ein Filmwunder folgen lässt und ihn mit seiner katholischen Heimkehrergeschichte ständig aus der klasse Fußballstimmung reißt. Steffen Grimberg stöhnt über die Ankündigung der NRW-Landesregierung, ein Fünftel ihrer Fördermittel für das Grimme-Institut zu streichen - satte 514.000 Euro pro Jahr.

Besprochen werden die Ausstellung von Corinne Wasmuth in der Kunsthalle Baden-Baden sowie der Fotoprachtband "100 Sonnen", der Aufnahmen von oberirdischen Atomtests zeigt und damit auch, wie Dirk Knipphals schreibt, "wie ein Höchstmaß menschlicher Brutalität mit einem Höchstmaß an schönem Schein zusammentreffen kann".

Und schließlich Tom.

Welt, 15.10.2003

Im Interview mit Ayhan Bakirdögen verrät Michel Friedman einiges über seine Pläne als Herausgeber beim Aufbau-Verlag: "Ich werde mit einem wunderbaren Team des Verlages über 60 Bücher im Jahr zu verantworten haben. Sechs Bücher werde ich unmittelbar herausgeben. Wir werden eine neue Reihe starten. Zwei Interviewbücher werde ich im Jahr selber verfassen. Die Gespräche werde ich mit Persönlichkeiten aus der Politik, Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft führen."

FR, 15.10.2003

Der Historiker Wilhelm von Sternburg (mehr hier) verteidigt die 68er gegen Richard Wagner (mehr hier), der im Zusammenhang mit Günter Wallraffs Stasi-Verstrickungen eine Revision des deutsch-deutschen Geschichtsbildes gefordert hatte. " Die zeitgeistige Vergangenheitsbewältigung in Sachen 68er arbeitet mit einem altbekannten Trick. Sie versammelt alle bösen Buben und radikal-sozialistischen Chaoten, deren Beitrag zu Zeitgeschichte allenfalls in ihrer damaligen Medienwirksamkeit bestand, unter der Rubrik 68er. Die ominösen K-Gruppen, die DKP, die Westberliner SED, die barbusigen Studentinnen, die Adorno aus dem Hörsaal vertrieben - daran sollen wir Heutigen denken, wenn wir lesen, welch tiefe Irrtümer in den sechziger und siebziger Jahre die Westdeutschen heimsuchten."

Weiteres: Joachim Sartorius erklärt im Gespräch mit Thomas Medicus, wie er mit den Berliner Festspielen sein "verwöhntes, man kann auch sagen, abgebrühtes" Berliner Publikum zufrieden zu stellen gedenkt. Ernst Piper erinnert daran, dass heute vor siebzig Jahren in München der Grundstein für das Haus der Deutschen Kunst gelegt wurde. Auch fünf Jahre nach der Eröffnung von Jean Nouvels Kultur- und Kongresszentrum in Luzern ist Peter Neitzke immer noch beeindruckt von der an ein Fallbeil erinnernden Dachkonstruktion. Rudolf Walther schreibt zum Tod des Kölner Soziologen Erwin K. Scheuch. In Times mager erklärt Burkhard Müller-Ullrich die Liebe der Italiener zu kleinen Scheinen.

Besprochen werden zwei neue Papst-Biografien von Martin Posselt ("Der Fels") und Andreas Englisch ("Johannes Paul II. Das Geheimnis"), James Kelmans Roman "Busschaffner Hines" und Mayumi Lake seltsamer Fotoband "Poo-Chis" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 15.10.2003

Roman Hollenstein wandert ergriffen durch das Aargauer Kunsthaus, das nach aufwendigem Um- und Anbau mit seiner umfangreichen Sammlung zu einer "heimlichen Nationalgalerie für Schweizer Kunst" geworden ist. Marc Zitzmann hat in Paris zum Saisonauftakt bei einigen Inszenierungen noch die Ausläufer des unruhigen französischen Kultursommers wahrgenommen. Gesehen hat er "Der Meister und Margarita" von Michail Bulgakow im "Theatre de l'Odeon" und "Variationen auf den Tod" von Jon Fosse in einer Koproduktion des Festival d'Automne a Paris und des Theatre national de la Colline. Uwe Justus Wenzel würdigt den verstorbenen Kölner Soziologen Erwin K. Scheuch.

Besprochen werden die Inszenierungen von Hector Berlioz' "Les Troyens", einmal im Pariser Chatelet und in der Niederländischen Oper im Amsterdamer Muziektheater, und Bücher, darunter die Abhandlung über die Geschichte des Stalinismus "Der rote Terror" von Jörg Baberowski.

FAZ, 15.10.2003

Nicht ganz ohne Einschränkungen bespricht Michael Althen Sönke Wortmanns Film "Das Wunder von Bern" über den deutschen Sieg in der Fußballmeisterschaft von 1954, aber immerhin: "Was die fußballerische Seite angeht, ist 'Das Wunder von Bern' .. durchweg gelungen, auch weil es den Spielern gelingt, die etwas behäbigere Spielweise der fünfziger Jahre präzise nachzuahmen. Und wenn Sascha Göpel als Helmut Rahn das entscheidende Tor schießt, kann man sich genausowenig der Tränen erwehren, wie das vor fünfzig Jahren gewesen sein mag."

Weitere Artikel: Paul Nolte befürwortet die von Roman Herzog vorgeschlagene "Kopfpauschale" in der Sozialversicherung. Jürgen Kaube freut sich, dass bei hessischer Sparpolitik sogar Beamtenprivilegien verloren gehen, wie etwa der halbe freie Tag in hessischen Orten, der zur Teilnahme an Vertriebenenwallfahrten gewährt wurde. I. Schaarschmidt-Richter schreibt zum Tod des japanischen Künstlers Isamu Wakabayashi. Jürgen Kaube schreibt zum Tod des Soziologen Erwin K. Scheuch. Gina Thomas schreibt zum Tod der Bühnenbildnerin Julia Trevelyan Oman.

Auf der letzten Seite berichtet Christoph Albrecht von einer im Goethe-Institut von Accra abgehaltenen Konferenz über die Konkurrenz der Religionen in Ghana und die Möglichkeit von Toleranz. Dieter Bartetzko schreibt zum vierzigsten Geburtstag von Hans Scharouns Philharmonie in Berlin. Und Hannes Hintermeier porträtiert Thomas Goppel, den neuen bayerischen Staatsminister für Wissenschaft, Forschung und Kunst. Auf der Medienseite besucht Michael Hanfeld den Neubau von Arte in Straßburg, der vom deutschen Architekten Hans Struhk entworfen wurde.

Besprechungen gelten Luigi Rossis Oper "Orfeo" von 1647 in Wuppertal, die nur ein Ereignis in einer ganzen Reihe von Orpheus-Spektakeln in der Stadt bildet, Juri Ljubimows "Faust" bei den siebzehnten Dresdner Tagen für Zeitgenössische Musik, Theater aus dem Maghreb in Mülheim, den Leipziger Jazztagen, einer Hubertus-Giebe-Retrospektive im Landesmuseum Oldenburg.