Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
31.10.2003. Die FR schildert, wie sehr sich die Iranerinnen über den Nobelpreis für Shirin Ebadi freuen. Richard Wagner beobachtet in der NZZ, wie sich "Mitteleuropa" immer weiter nach Osten frisst. Die SZ weiß, warum Don DeLillo den Kaliforniern den Untergang gönnt. Die FAZ lernt aus einem Deutschland-Bericht Carl Zuckmayers, was die Amerikaner im Irak falsch machen.

FR, 31.10.2003

Friedensnobelpreisträgerin Shirin Ebadi ist nach Teheran zurückgekehrt. Dorothea Marcus hat sich dort umgehört und schildert beglückte Reaktionen der iranischen Frauen. Nur die Frage nach dem Schleier können sie nicht mehr hören. "'Ich spreche öffentlich nicht mehr über den Hijab', sagt Lahiji, 'er ist wirklich nicht das Zentrum unserer Probleme. Trotzdem lehne ich ab, was dahinter steckt: Frauen müssen sich bedecken, weil sie als Symbol sexueller Sünde gelten und nicht in erster Linie als Menschen wahrgenommen werden. Aber ich halte mich an die Gesetze des Landes.' Ähnlich hat auch Shirin Ebadi auf ihrer ersten Pressekonferenz in Teheran argumentiert, als sie gefragt wurde, warum sie als gläubige Muslimin in Paris nicht das Kopftuch getragen habe. 'Ich trage es in Iran, wo es Gesetz ist. Woanders gilt dieses Gesetz nicht', sagte sie, und jedes ihrer Worte wurde genauestens vermerkt.

Harry Nutt kommentiert den Streit um den Graffitischutz für das Holocaust-Mahnmal, den die Firma Degussa bereitstellen soll: Eisenman wollte eigentlich gar keinen Schutz für die Stelen, durchgesetzt hat ihn dann die Mahnmalsinitiatorin Lea Rosh. Ein böse Ironie, meint Nutt: "Was als Abwehrstoff für unliebsame Zeichen gedacht war, kehrt im Namen der Degussa und ihrer Geschichte auf symbolisch vertrackte Weise zurück. Im übertragenen Sinne muss man daraus wohl den Schluss ziehen, dass es keinen Imprägnierschutz gegen eine immer wieder neu und aus unerwarteten Anlässen aufflammende Debatte geben kann."

Weitere Artikel: In Times Mager widmet sich Stephan Hilpold der Suche nach einem neuen Direktor des Wiener Volkstheaters. Christian Broecking schreibt zum Tod des Musikers und Wissenschaftlers Peter Niklas Wilson.

Besprochen werden ein Konzert des vietnamesisch-amerikanischen Trompeters Cuong Vu und seines Trio beim Enjoy Jazz-Festival in Ludwigshafen, die "Bruce Nauman"-Ausstellung in Berlin und die Aufführung von Yehoshua Sobols neuem Stück "Der Augenzeuge" Stück im Cameri-Theater in Tel Aviv.

SZ, 31.10.2003

In der schon heute beiliegenden SZ am Wochenende liefert Benjamin Henrichs ein Herbststück über den wunderlichen Hans Eichel, die nackte Wahrheit und den schönen Schwindel: Einer seiner Gedanken: "Anders als in der Politik oder gar im Leben siegt in der dramatischen Kunst fast immer das Gute. Der Bösewicht wird von der Hölle verschlungen, wie Don Juan. Die Schwindler werden entlarvt, wie Goldonis Lügner, Molieres Tartuffe, Kleists Dorfrichter Adam. Am Ende gehört die Bühne der Wahrheit. Nur gut, dass gleich darauf der Vorhang fällt. Denn denkt man sich die Lügner und ihre Lügen aus den Stücken weg, bleibt vom Theater fast nichts übrig. Die Rechtschaffenen in unseren Dramen: Das ist eine seltsame, fast gespenstische Versammlung von untoten, leblosen, weitgehend geschlechtslosen Leuten."

Außerdem beschreibt Ingeborg Harms in der Reihe "Deutsche Landschaften" das Wendland, eine "schwungvolle Landschaft, die im Sommer vom hypnotischen Gelb der Rapsfelder und dem Goldgrün wogender Getreideähren überzogen ist" und in der das "Rohe, Vorsintflutliche und Giganteske" noch in den Hünengräbern haust. Willi Winkler schreibt über Iris Murdoch, deren Tagebücher demnächst veröffentlicht werden, und über Konrad Lorenz, der zwar nicht fliegen, aber Graugänsisch konnte ("Wiwiwiwiwi, Pfühp pfühp pfühp, Wirrrrrr..."). Gabriele Harpell stellt fest, dass sich die einen so kleiden, die anderen so.

Im Feuilleton kommentiert Petra Steinberger die Schadenfreude und Ideologiekritik, mit denen die Waldbrände in Kalifornien begleitet werden. Unübertroffen ist aber immer noch Don DeLillos ätzende Bemerkung: "Kalifornier haben die Idee des Lifestyle erfunden. Allein das rechtfertigt ihren Untergang." In der Debatte um Sterbehilfe erinnert Sonja Zekri daran, wie sich unser Umgang mit dem Tod im Zuge von Aids verändert hat. Patrick Illinger und Alexander Kissler diskutieren Pro und Contra zum Vorstoß von Justizministerin Zypries, den Embryonenschutz zu lockern. In der Reihe "Briefe aus dem 20. Jahrhundert" stellt Jürgen Busche einen Brief von Martin Heidegger an Carl Schmitt vor, in dem Heidegger im August 1933 versucht, Schmitt nach Freiburg zu holen, um die "geistigen Kräfte" zu sammeln, "die das Kommende heraufführen sollen". Hans-Peter Kunisch berichtet von einer Karlsruher Tagung zur Philosophie von Gilles Deleuze. Siggi Weidemann meldet, dass Amsterdams Rijksmuseum generalüberholt wird.

Zum hundertsten Todestag erinnert Stefan Rebenich an den Historiker Theodor Mommsen und sieht ihm jegliche Parteilichkeit in seiner "Römischen Geschichte" nach, denn "es war die Parteilichkeit eines mitstreitenden Agitators und nicht die eines abseitig nörgelnden Pfaffen", wie er Friedrich Gundolf zitiert. Jens Malte Fischer gratuliert der spanischen Sopranistin Victoria de los Angeles zum Achtzigsten und schreibt zum Tod des grandiosen, aber doch wohl auch biestigen Heldentenors Franco Corelli.

Besprochen werden Stefan Krohmers Achtziger-Film "Sie haben Knut", Jackie Chans neuer Film "The Medaillon", Steve Hacketts Konzert in London, der in den Augen von Jürgen Berger missglückte Saison-Auftakt des Theaters Freiburg und Friedrich Anis' Roman "Gottes Tochter" (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

TAZ, 31.10.2003

"Der beste Sound around tendiert zum Mischmasch", weiß Harald Fricke, weswegen sich Terry Hall für sein neues Album "The Hour of Two Lights" mit Mushtaq "ein echtes Mixmonster" als Partner ausgesucht habe. Daniel Bax berichtet von der Leistungsshow der Weltmusik, der Womex, die in diesem Jahr in Sevilla stattfand und deshalb dem Flamenco nicht mehr entgehen konnte. Cristina Nord resümiert das Wiener Filmfest Viennale, auf dem viele Experimente, Raritäten, B-, C- und D-Pictures zu sehen waren.

Und schließlich Tom.

NZZ, 31.10.2003

Richard Wagner widmet sich ausführlich dem einen stetigen Bedeutungswandel unterzogenen Begriff Mitteleuropa. "Mitteleuropa ist immer dort, wo Europa noch nicht ist. Wo der Westen noch nicht ist." Zuerst wurde er von Tschechen, Ungarn und Polen aufgebracht, die so dem Sowjetimperium klar machen wollten, dass man mit Russland grundsätzlich nichts gemeinsam habe. Jetzt sind es die Länder, "die vorerst außerhalb der EU geblieben sind" wie Rumänien, die Ukraine und Serbien, die sich als Mitteleuropäer bezeichnen. "Der Mitteleuropa-Begriff ist damit ein Stück weiter nach Osten gewandert. Er frisst weiter am Territorium Osteuropas, und seine Kraft als Metapher scheint auch in seinem neuen Wirkungsbereich Bestand zu haben."

Weitere Artikel: Marta Kijowski führt uns in die Hintergründe des derzeit in Polen tobenden musikalischen Unwetters ein, bei dem sich die "beiden Anführer der polnischen Musikavantgarde", die Komponisten Krzysztof Penderecki und Henryk Mikolaj Gorecki, permanent in den Schlagzeilen widerfinden. Kurt Malisch schreibt einen Nachruf auf den Tenor Franco Corelli. Besprechungen widmen sich heute der "sehr gelungenen" Ausstellung "Der lange Weg der Türken" (mehr hier) im Stuttgarter Linden-Museum, sowie der Schau zum "Intimisten" Edouard Vuillard (hier) im Pariser Grand Palais.

Auf der Filmseite fragen sich Bettina Schiel und Stefanie Görtz, ob das entstehende Filmwesen in Afghanistan hilfreich für die Demokratisierung des Landes ist, und lassen daran keinen Zweifel. Robert Richter ist mit dem neuen Film "Fünf Uhr nachmittags" der iranischen Filmautorin Samira Machmalbaf nicht recht zufrieden. Thematisiert wird die "Stunde null in der afghanischen Gesellschaft: der Moment, in dem sich die Menschen entscheiden müssen, ob sie den Weg der traditionellen muslimischen Ordnung und Moral gehen wollen oder jenen eines aufgeschlossenen Islams". Christoph Egger hat eine "stimmungsvoll anregende Viennale" erlebt, was er vor allem auf den Verzicht auf einen Wettbewerb zurückführt. Desweiteren stellt Alexandra Stäheli zwei israelische Filme auf der Suche nach Normalität vor: "Broken Wings" und "Yossi & Jagger".

FAZ, 31.10.2003

Der Literaturwissenschaftler Gunther Nickel zitiert auf der letzten Seite ausführlich aus einem Deutschlandbericht, den Carl Zuckmayer unmittelbar nach dem Krieg für das amerikanische Kriegsministerium verfasste und in dem er die Besatzungspolitik kritisierte. Diese Schrift und auch Briefe Zuckmayers bringen Nickel auch auf aktuelle Parallelen, "weil die vermutlich nur wegen des ökonomischen Erfolgs gelungene Installierung einer parlamentarischen Demokratie in Deutschland gegenwärtig manchen als Beweis dafür gilt, dass in einem Land wie dem Irak sich über kurz oder lang eine Demokratisierung mit Hilfe einer Besatzungsarmee auf ähnliche Weise bewerkstelligen lasse. Dort werden jedoch manche Maßnahmen ergriffen, die Zuckmayer schon damals mit guten Gründen im Falle Deutschlands für falsch gehalten hat." Nickel eröffnet heute in Marbach ein Symposion über "Literarische und politische Deutschlandkonzepte 1938-1949".

Weitere Artikel: Lorenz Jäger beklagt, dass der Nachlass Walter Benjamins von Frankfurt nach Berlin geht: "Für Frankfurt als Kulturstadt ist dieser Abgang ein weiterer herber Verlust." Hans-Peter Riese stellt die größte Sammlung deutscher Gegenwartskunst in den USA vor, die vom Saint Louis Art Museum beherbergt wird. Christian Geyer zeigt sich von der Rede der Bundesjustizministerin Zypries über den Status von in vitro gezeugten Embryos in seiner Zuversicht unerschüttert ("Der Bundestag hat den Würdeschutz des Embryos ausdrücklich zur Grundlage seines Stammzellgesetzes gemacht. Um sich jetzt in ihrem Beschluss erschüttern zu lassen, hätten die im biopolitischen Gelände erfahrenen Parlamentarier eine andere Rede gebraucht.")

Gustav Falke resümiert den Tag der Geisteswissenschaften an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Andreas Platthaus berichtet über einen Rechtsstreit um die Lizenzeinnahmen aus "Pu der Pär". Alexandra Kemmerer porträtiert den renommierten Europarechtler Joseph H. H. Weiler, der mit einer schmalen Schrift über die christlichen Grundlagen einer europäischen Verfassung für Befremden bei Kollegen sorgt - sie erscheint dieser Tage in Italien, Polen, Spanien und Portugal, aber nicht in Deutschland (leider hat Kemmerer ncht die Nettigkeit, Titel und Verlag des Buchs zu nennen, eine italienische Website zum Buch vermuten wir aber hier). Jürgen Kesting schreibt zum Tod des Tenors Franco Corelli.

Auf der letzten Seite stellt Andreas Platthaus den streitbaren Comicverleger Abraham Melzer vor, der nun in seinem wiedergegründeten Melzer-Verlag Ted Honderichs von Suhrkamp ausgespuckte Schrift "Nach dem Terror" herausbringt. (Melzer hat für das Buch sogar eine kleine Website inklusive Gästebuch gebastelt). Felicitas von Lovenberg schreibt eine kleine Hommage auf Sting, der eine neue Platte und eine Autobiografie (hier ein Auszug) herausbringt.

Besprochen werden ein von Peter Brook in Paris dramatisierter Briefwechsel zwischen Anton Tschechow und Olga Knipper mit Michel Piccoli und Natasha Parry, der Joseph Hanimann in Verzückung versetzte ("Darstellungskunst höchster Perfektion"), Ernest Chaussons Oper "Le Roi Arthus" am Ort der Uraufführung, nämlich dem Theatre de la Monnaie in Brüssel, eine Ausstellung des Nachlasses von Theodor Mommsen im Akademischen Kunstmuseum der Universität Bonn, neue Choreografien in Mainz, eine Ausstellung des Kunstvideopioniers Peter Campus in der Kunsthalle Bremen, Martin Brests Film "Gigli - Liebe mit Risiko", eine Ausstellung von Architekturstudenten im Deutschen Architekturmuseum, die kundgeben, welche Bauten sie gern abreißen und wiederaufbauen würden.

Zwei Seiten geben einen Überblick über Ausstellungen und Veranstaltungen im November.