Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.11.2003. In der SZ denkt der Philosoph Otfried Höffe über soziale Gerechtigkeit nach. Die FR analysiert Schlüsselromane. Die NZZ gratuliert einem Mythos von der rive gauche: der Paris Review. Die FAZ eröffnet eine neue Debatte: Sind wir überhaupt schuldfähig?

Tagesspiegel, 04.11.2003

Ein höchst amüsantes Stück über den Suhrkamp Verlag liefert Harald Martenstein, wenn er auch nicht wirklich dicht an die Beteiligten herangekommen ist. Wir zitieren den Anfang: "Der Suhrkamp-Verlag hat sechs Pressedamen. Da ruft man einfach an. 'Guten Tag. Sie haben ja jetzt eine neue Geschäftsführerin, die Frau Berkewicz. Da dachte ich...' Die Pressedame: 'Frau Berkewicz redet zurzeit mit niemandem.' Ihr Ton klingt, als hätte man im Weißen Haus angerufen und mit arabischem Akzent George W. Bush verlangt. 'Wissen Sie, ich soll ein Porträt ihres Verlages schreiben. Mit wem könnte ich mich denn da unterhalten?' 'Sie dürfen, wenn Sie möchten, schriftliches Informationsmaterial abholen.' Ich denke: Das ist wieder genau wie damals, als ich diese Geschichte über Scientology machen musste. Ich sage: 'Danke, das hilft mir sicher sehr.' 'Kommen Sie nächste Woche, Mittwoch, 14 Uhr.' Ich denke: Um mir ein paar Prospekte in die Hand zu drücken, brauchen sie eine Woche Vorlauf. Das ist ja ein extrem schräger Laden."

SZ, 04.11.2003

Der Tübinger Philosoph Otfried Höffe überlegt, was heute eigentlich soziale Gerechtigkeit heißt. Hier seine Definition, die er dann auf konkrete Beispiele wie den Generationenvertrag anwendet: "Die Gerechtigkeit bedeutet innerhalb der Sozialmoral nur jenen elementaren Teil, deren Anerkennung die Menschen sich gegenseitig moralisch schulden. Beide Momente sind unverzichtbar. Die Gegenseitigkeit folgt aus dem Kerngedanken, der Gleichheit; die Gerechtigkeit ist eine Sache von Rechten und Pflichten, von Gabe und Gegengabe zugleich. Wer nur Rechte und nur Gaben in Anspruch nimmt, hat sich von ihr verabschiedet."

Nach den Tabak- geht's jetzt den Fastfoodkonzernen an den Kragen: Auf Grund von Klagen, berichtet Alex Rühle, krieche McDonald's derzeit wegen zwei angeblich durch Burger und Co. stoffwechselverwirrten New Yorker Schülerinnen "zu Kreuze" und bemühe sich "panisch um einen Imagewandel". Das Interessante an diesen Prozessen sei, "wie sehr der Dienstleistungsgedanke inzwischen pervertiert ist: Meine Kinder sind schlecht in der Schule? Verklag? ich doch die Lehrer. Ich bin krank? Mein Arzt wird von meinen Anwälten hören; oder eben McDonald's."

Weitere Artikel: "Feines Knirschen auf leichtem Kies" machte Volker Breidecker mit Peter Nadas bei den Römerberggesprächen zum Thema "Europa und die Macht der Gefühle" aus. Alexander Kissler resümiert die Bedenken, die der ehemalige Verfassungsrichter und jetzige Rektor des Wissenschaftskollegs Berlin, Dieter Grimm, auf einem Münchner Vortrag gegen die geplante EU-Verfassung formulierte. Arnd Wesemann berichtet über die Eröffnung des Fusionstheaters Hebbel am Ufer in Berlin, und Harald Eggebrecht huldigt in der "Zwischenzeit" genüsslich der Dramatik des Angelsports.

Besprochen werden Takeshi Kitanos Film "Dolls", Thomas Ostermeiers Inszenierung von Karst Woudstras Stück "Der Würgeengel" an der Schaubühne Berlin, Georg Friedrich Händels Oratorium "Alexanderfest" im Münchner Prinzregententheater, zwei Ausstellungen über die "boomende indische Kunst und Kultur" im Berliner Haus der Kulturen der Welt und eine Ausstellung über Tizian und die Erotik in der Kunst des 16. Jahrhunderts am Herzog Anton Ulrich-Museum in Braunschweig. Zwei Schauen würdigen den Historiker Theodor Mommsen: eine "kleine, gelungene" Ausstellung im Münchner Historicum über Mommsen als Feuerwehrmann, der 1880 in Berlin wertvolle Teile seiner Bibliothek aus den Flammen rettete, und eine Schau im Museum des Ortes Kalkriese, in dessen Umgebung Mommsen zufolge die "Varusschlacht" stattgefunden haben soll. Anlässlich eines Operngastspiels aus St. Petersburg mit Schostakowitschs "Lady Macbeth von Mzensk" werden außerdem die Berliner Festwochen bilanziert. Sonja Zekri kommentiert schließlich eine Einspielung von Prokovfjews "Peter und der Wolf" mit Bill Clinton, Michail Gorbatschow und Sophia Loren.

Rezensiert werden unter anderem Katja Oskamps glänzendes Debüt "Halbschwimmer", Tonino Benacquistas Roman "Die Melancholie der Männer", eine Untersuchung der arabisch-palästinensischen Bevölkerung in Israel und eine Studie über die polnische Besatzung im Emsland 1945-1948 (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FR, 04.11.2003

"Es kommt nicht nur darauf an, wie weit ein Roman geht, sondern wie er weit geht", endet Ursula März' Kommentar der jüngsten gerichtlichen Bücherverbote, welche die Romane "Esra" von Maxim Biller und "Meer" von Alban Nicolai Herbst trafen. "Die ästhetische Klemme, in der Schlüsselromane dieses Kalibers stecken, besteht nicht darin, dass sie sich im Einzelnen nicht gut genug verschlüsseln, sondern dass sie als Ganzes den Charakter von Entschlüsselungsprojekten einnehmen. In ihrem ganzen Gestus rechnen sie eine detektivische Rezeption mit ein. Sie wollen durchschaut werden. Und unterlaufen so ihre eigene künstlerische Gestalt mit einer Aufdeckungslogik, die ihrem Wesen nach nichts anderes ist als Abwehr von Kunst. Sie drängen diese in die Rolle des Alibis."

Weiteres: Ralf Grötker berichtet von einer Veranstaltung des Kulturforums der Berliner SPD, auf der diese den Polit-Theoretiker und ehemaligen Clinton-Berater Benjamin Barber (hier) für sich "nach Grundwerten suchen ließ". Als "prekär" beurteilt Oliver Herwig nicht nur wegen eines "gekippten" Kunstprojekts des Aktionskünstlers Santiago Serra die Münchner Kunstszene, deren Stadtrat wegen "15 Metern Trottoir" Angst vor einem "Skandal" zeigte. Besser scheint es dagegen in Berlin auszusehen: hier sieht Petra Kohse mit der Eröffnung des neuen "Kombinats" Hebbel am Ufer, bei dem es sich eher um ein "Theatergefüge" handele, "den theatralischen Diskurs" in den Berliner Westen zurückgekehrt. Und in Times mager macht sich irgendwer unter dem Pseudonym "Prinzessin Elisabeth XXIII. " über das "Manieren"-Buch des äthiopischen Prinzen Asfa-Wossen Asserate lustig, das bei Eichborn erschienen ist.

Besprochen werden die Uraufführung von Olga Neuwirths David-Lynch-Oper "Lost Highway" in Graz und zwei Konzertabende mit dem Ensemble Modern, das im Berliner Haus der Kulturen der Welt mit indischer Musik experimentierte.

NZZ, 04.11.2003

Andrea Köhler feiert mit der "Paris Review", die vor fünfzig Jahren gegründet wurde: "Es waren die inspirierten fünfziger Jahre, als der Mythos von der rive gauche sich auflud mit den Zweifeln der existenzialistischen Philosophie und die gleichwohl überbordende Lebenslust dem euphorisierenden Gefühl entsprang, den Krieg überlebt und die Zukunft vor sich zu haben... Damals, Ende Oktober 1953, schlug in einem kleinen Studio über den Gleisen der Gare Montparnasse die Geburtsstunde der 'Paris Review'. Ihre Begründer, die Schriftsteller Peter Matthiessen und Harold L. Humes, wollten der Literatur einen besonderen Platz einräumen, mit einem Magazin, das die Kritik auf die letzten Seiten verwies."

Ansonsten belässt es die NZZ heute bei Rezensionen. Besprochen werden Martin y Solers Oper "Una cosa rara" in Stuttgart (die seinerzeit der größte Erfolg des Librettisten Lorenzo Da Ponte gewesen sein soll), eine Ausstellung zur Thurgauer Baukunst in der Kartause Ittingen und Bücher, darunter Martina Zöllners Roman "Bleibtreu", Ror Wolfs Siebenundvierzig Ausschweifungen "Zwei oder drei Jahre später" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

TAZ, 04.11.2003

Ulis Hannemann, Taxifahrer und Autor, ärgert sich über Bachmann-Preisträgerin Inka Parei, die in einem taz-Interview zugegeben hatte, neben dem Schreiben keinen anderen Beruf ausüben zu können. Besprochen werden Karst Woudstras Stück "Der Würgeengel" an der Schaubühne Berlin, ein "zweifelhaftes" Album mit Rio-Reiser-Coverversionen und ansonsten Bücher, darunter eine Studie von Ernst Vollrath zur Frage "Was ist das Politische? Eine Theorie des Politischen und seiner Wahrnehmung", der Roman "Die Romantiker" von Barbara Gowdy und der neue Roman "11 Minuten" von Paul Coelho (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

Auf der nach wie vor gewöhnungsbedürftigen und nur schwer einsichtigen Seite tazzwei erklärt der Bielefelder Soziologe Jörg Hüttermann im Interview, warum es gar nicht so schlimm sei, wenn sich Leute in einer ostwestfälischen Kleinstadt über den Bau einer Moschee in ihrer Nachbarschaft aufregen. Erst durch ein hartes Aufeinanderprallen von Kulturen entstünde ein "fruchtbarer Austausch". Und auf der Medienseite gratuliert Julia Gerlach dem arabischen Nachrichtensender al-Dschasira zum siebten Geburtstag.

Und hier TOM.

FAZ, 04.11.2003

Nach dem Streit um die Bioethik scheint uns eine neue Debatte zu drohen: Sind wir die bloßen Marionetten unseres Gehirns? Der Strafprozessrechtler Klaus Lüderssen greift eine These der Hirnforscher Gerhard Roth und Wolf Singer auf, wonach bei Verbrechen nicht von Schuld gesprochen werden könne, weil der Verbrecher neuronal bedingt gar nicht anders hätte handeln können. Lüderssen scheint dieser These in seinem mit Habermas-Zitaten getrüffelten Text zwar nicht folgen zu wollen, schreibt ihr aber große Verdienste zu: "Es ist nicht zuletzt den neuen Impulsen jener Hirnforscher zu verdanken, dass sich die Diskussion jetzt wieder auf diese zentrale Frage konzentriert, und für Strafrechtswissenschaft und -praxis liegt darin eine große, seit langem vermisste Chance, der Lösung des quälenden Problems der Schuld näher zu kommen."

Joseph Hanimann stellt den Bildband "Goulag" des polnischen Fotografen Tomasz Kizny vor, der private Fotos aus dem Gulag sammelte und selbst in den ehemaligen Lagern fotografierte. "Vergilbter Girlandenschmuck auf der Operettenbühne, Fronarbeit in horizontlosen Landschaften, in der Tundra verrottende Dampflokomotiven von Zügen, die nie fuhren - das sind Bilder, die totalitären Wahnsinn anschaulich machen." In Frankreich, wo man sich intensiver mit der Geschichte des Gulag auseinandersetzt als in Deutschland, wurde der Band zum Ereignis. Hier ein Artikel aus Le Monde zum Buch.

Weitere Artikel: Durch die drängendere Frage nach unserer gehirnmäßigen Determinierung ist die Debatte um die Frauen und die Macht auf Seite 5 des Feuilletons verdrängt, wo der Afrikahistoriker Andreas Eckert leider keine historisch verbürgten Beispiele von matriarchalischen Gesellschaften findet. Andreas Platthaus kommt in der Leitglosse auf Gerüchte zu sprechen, wonach Woody Allen bereit sei, für zehn Millionen Dollar seine Memoiren zu schreiben, die Verlage aber nicht genug geboten hätten. Dirk Schümer hat eine Tagung über deutschrömische Kultureinrichtungen in einer derselben beigewohnt. Renate Schostak gratuliert dem Germanisten Paul Michael Lützeler zum Sechzigsten. Gina Thomas schreibt zum Tod der britisch-deutschen Journalistin und Schriftstellerin Christabel Bielenberg, die den Widerständlern des 20. Juli nahe stand. Gerhard R. Koch schreibt zum Tod von Bernd Plagemann von der Deutschen Grammophon. Sabine B. Vogel schreibt zur Eröffnung des Kunsthauses Graz mit der Ausstellung "Einbildung - Das Wahrnehmen in der Kunst". Matthias Grünzig beklagt den Verfall des "Großen Schlosses" in Blankenburg, einer Kleinstadt am Nordrand des Harzes.

Auf der letzten Seite besucht Jordan Mejias für eine hübsche Reportage das letzte Wohnhaus Louis Armstrongs in Queens, New York, 34-56 107th Street. Robert von Lucius porträtiert Anders Hellström, den neuen künstlerischen Leiter des Nederlands Dans Theaters. Und Andreas Platthaus fragt, ob sich der Asterixzeichner Albert Uderzo neuerdings von einem Zeichnerteam unterstützen lässt.

Auf der Medienseite meldet Michael Hanfeld die Rückkehr Michel Friedmans in das ihm einzig angemessene Rampenlicht bei der politisch so verdienstvollen Sabine Christiansen. Hanfeld stellt auch das neue Programmschema des Kultursenders 3sat vor, das ab März nächsten Jahres gelten soll. Und Paul Ingendaay erzählt wie die monarchistische spanische Zeitung ABC auf die Nachricht von der bevorstehenden Heirat des Kronprinzen Felipe mit der Fernsehjournalistin Letizia Ortiz reagierte: Die Titelseite wurde freigeräumt - und im Innenteil die Seiten 10 bis 30!

Besprochen werden Martin Y Solers Oper "Una cosa rara" in Stuttgart, ein Konzert Indischer Virtuosen und des Ensemble Modern im Berliner Haus der Kulturen der Welt, Lutz Hübners Jugendtheaterstück "Nellie Goodbye" in Hagen (wo entgegen allen Trends gerade eine neue Bühne für die Jugend eingerichtet wurde) und die Ausstellung "Ferdinand I. - Herrscher zwischen Blutgericht und Türkenkriegen" im Stadtmuseum Wiener Neustadt.

Außerdem präsentiert die FAZ heute ihre zweite Literaturbeilage: 16 Seiten, den Aufmacher widmet Richard Kämmerlings zwei Autoren, die "in der Provinz das Erzählen entdecken": Marcus Braun ("Hochzeitsvorbereitungen") und Garrison Keillor ("Das letzte Heimspiel").