Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.12.2003. In der Zeit prangert Leon de Winter den europäischen Antisemitismus an. Außerdem will die Zeit den Buchmarkt mit einem Spargelschäler reparieren. In der taz outet Michael Rutschky den Negativisten Theodor W. Adorno als Philosophen des Glücks. In der FR beruhigt sich die Frankfurter Büergermeisterin Petra Roth über die Mindestgröße ihrer Stadt. Die FAZ fand J. M. Coetzee bei den Nobel-Feierlichkeiten recht umgänglich.

Zeit, 11.12.2003

"Israel ist die größte Gefahr für den Weltfrieden", lautet das Ergebnis einer Umfrage der EU. Für den niederländischen Schriftsteller Leon de Winter ist das schlichter europäischer Antisemitismus, der sehr gut zum derzeit grassierenden Antiamerikanismus passt. "Die amerikanische Außenpolitik wird aufgrund der Präsenz von als Juden identifizierbaren Politikern wie Richard Perle und Paul Wolfowitz sowohl in populären Komplott-Theorien als auch in seriösen Medien als Ausfluss israelischer, also jüdischer Interessen bezeichnet." Europa, das während des Zweiten Weltkriegs gleichgültig der Vernichtung der europäischen Juden zugesehen hat, sei heute froh, Juden als Täter brandmarken zu können. Das entlastet und praktisch ist es auch, höhnt de Winter: "Am 11. September 2001 erklärten bin Laden und seine Islamisten dem Westen, dem Land von Kreuzrittern und Juden, den Krieg. Es scheint, als habe sich Europa seither schon fast panisch darum bemüht, ihm pazifizierend zu verdeutlichen, dass nicht Europa das Haus der Kreuzritter sei, sondern Amerika, und dass man auch in Europa die wahre, böse Natur der Juden kenne."

Im Interview erklärt der neue Leiter der Documenta Roger M. Buergel, welche Pläne er für 2007 hat. Auf keinen Fall will er eine "voll gestopfte unverdauliche" Ausstellung machen: "Viele Kuratoren nehmen die Besucher nicht wirklich ernst, sie halten Sitzbänke für überflüssig, sie muten den Leuten zehnstündige Filme zu und muffige Videokammern. Für mich sind das kuratorische Katastrophen. Man muss darauf achten, dass sich die Kunstwerke nicht überstrahlen."

Weitere Artikel: Im Aufmacher skizziert Christof Siemes die Krise des Buchhandels - das Geschäft ist auch in diesem Jahr wieder zurückgegangen - und beschreibt Vorschläge zur Belebung der Branche: "zum Spargelbuch den Spargelschäler". Simon Rattle macht Ernst mit einen angekündigten Reformen, berichtet Claus Spahn anlässlich der Amerika-Tournee der Philharmoniker. Statt Brahms, Beethoven, Bruckner und Mahler spielten die Philharmoniker in der Carnegie Hall Haydn, Debussy, Ligeti, Bartok und Heiner Goebbels. In der Leitglosse "verdrießt es" Michael Naumann, dass Walter Jens, der "so schneidend zu urteilen wusste", zu einer "ganz klaren Auskunft" über seine Vielleicht-Mitgliedschaft in der NSDAP nicht bereit ist. Ulrich Greiner hat genug vom Gerede über den Suhrkamp Verlag und will jetzt sehen, wie Ulla Berkewicz den Verlag leitet. Peter Kümmel schreibt den Nachruf auf Will Quadflieg. Volker Hagedorn schreibt zum 200. Geburtstag Hector Berlioz'. Claudia Herstatt schildert die Versteigerung der mittelalterlichen Handschriften aus dem Nachlass des Antiquars Hans P. Kraus in New York.

Besprochen werden John Neumeiers Ballett "Tod in Venedig" und Rudolf Thomes Film "Rot und Blau" mit Hannelore Elsner und Hanns Zischler als Bürger aus dem Westberliner Charlottenburg ("Der Charlottenburger ist bei Thome ein sozusagen philosophisch rundum erschlossenes Wesen", schreibt Katja Nicocemus über das Filmpersonal.). Den Aufmacher der letzten Literaturbeilage des Jahres widmet Iris Radisch einem Gedichtband von Lars Gustafsson: "Auszug aus Xanadu".

SZ, 11.12.2003

"Dies ist, man kann es nicht anders sagen, eine Zeit des Scheiterns. Gewaltige Kräfte werden mobilisiert, Millionen bewegt, hehre Ziele beschworen - und klägliche Ergebnisse präsentiert: Die Jagd auf Osama bin Laden, der Krieg im Irak, der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit, selbst Toll Collect - wo Hybris war, herrscht Heulen und Zähneklappern. ..... Kein Wunder also, dass die Welt am Mittwoch besorgt nach Berlin blickte: Dort zog, eine Woche vor dem eigentlichen Kinostart, der 'Herr der Ringe' in seinen dritten und letzten Kampf - und als die Lichter im Saal der Europapremiere ausgingen, flog manches stille Stoßgebet zum Himmel: Bitte, ihr tapferen Neuseeländer, ihr Wahnsinnigen vom anderen Ende der Welt! Enttäuscht uns nicht! Beweist, dass so etwas überhaupt noch möglich ist, wenigstens im Reich der Fiktion: Ein großes Werk auch groß und in Würde zu Ende zu bringen.....Und ja, sie haben es geschafft", schreibt begeistert Tobias Kniebe über Peter Jacksons Film "Die Rückkehr des Königs", den dritten (und besten) Teil des "Herrn der Ringe".

Weitere Themen: Gustav Seibt hat sich noch einmal mit der Debatte um die NSDAP-Mitgliedschaft von Walter Jens befasst, und zu diesem Zweck dessen 1977, zur Hochzeit des Radikalenerlasses erschiene Geschichte der Tübinger Universität gelesen, in die Seibt auch Jens' Lehrer Wolfgang Schadewaldt aufgenommen fand, der ein "fachweit bekannter Anhänger des nationalsozialistischen Regimes" gewesen sei. Christine Dössel schreibt über die anhaltende Lust deutscher Theater auf Gegenwartsdramatik. Katharina Mütter beschreibt, wie in Birmingham der umstrittene Neubau des Kaufhauses Selfridges der Architekten Jan Kaplicky und Amanda Levete als "Zyklopenauge" nicht nur zum neuen Wahrzeichen der Stadt avancierte, sondern sogar als Motor stadträumlicher Erneuerung dient. "hera" bedauert ein wenig, dass die Wissenschaft gerade dabei ist, Edvard Munchs Bild "Der Schrei" den Mythos vom Künstler im Drogenrausch zu nehmen.

Besprochen werden Jim Sheridans neuer Film "In America" (hier noch ein Gespräch zwischen den Filmemachern Jim Sheridan und Hans-Christian Schmid), Rithy Panhs Film "S-21" über Todeslager der Roten Khmer in Kambodscha, Wim Vandekeybus neues Tanzstück "Sonic Boom", das er mit Schauspielern der Toneelgroep Amsterdam und Tänzern von Ultima Vez entwickelt hat, eine Werkschau des Barockmalers Guercino im Mailänder Palazzo Reale und Bücher, darunter Grischa Meyers Buch über die Brecht-Geliebte Ruth Berlau und Flann O'Briens Roman "Aus Dalkeys Papieren"(mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

FR, 11.12.2003

Die Frankfurter Oberbürgermeisterin und Präsidentin des Deutschen Städtetages, Petra Roth, macht sich Gedanken über die Funktion der Stadt im Zuge der Globalisierung. "Eine Stadt benötigt eine Mindestgröße, um weltweit wettbewerbsfähig zu sein... Nur eine kraftvolle Stadt kann Nährboden für die Humanitas bilden. Nur in ihr kann eine liberale Urbanität gedeihen, können soziale Absicherung und Daseinsvorsorge erarbeitet werden. In ihr werden Schlagwörter wie Solidarität oder Subsidiarität gelebt; sie benötigt dafür aber die Bewahrung einer sozialen Marktwirtschaft und die Berücksichtigung des Konnexitätsprinzips."

Weitere Artikel: Frank Keil untersucht Strategien der Körperpolitik bei Ole von Beust ("latente Steifheit"), Ronald Barnabas Schill ("durch und durch derangiert") und Thomas Mirow ("blässlich und bebrillt"). Petra Kohse schreibt über die Ankunft sozialer Unsicherheit im Bewusstsein. Ulrich Clewing war auf einer deutsch-iranischen Tagung in Berlin. In der Kolumne Times Mager befürchtet Jürgen Roth, dass Robbie Williams, entgegen sämtlicher Hymnen, in Wahrheit vielleicht auch bloß ein mediokres Medienei ist.

Besprochen werden John Neumeiers Choreografie zu Thomas Manns Novelle "Tod in Venedig" an der Hamburger Staatsoper.

TAZ, 11.12.2003

Das Jahr ist fast um, das Adorno-Jahr mithin auch. Höchste Zeit, dass auch die taz-Geburtstagsserie "Teddy-Der Inkommensurable" zu Ende geht. Zum Abschied kommt Michael Rutschky zu Wort: "Er war ja ein Philosoph des Glücks, und seine Theorie handelt in aller Schwärze von nichts anderem als von dessen Abwesenheit, wie sie die gesellschaftliche Verfassung bedinge. Glück dachte er sich ohne Abstriche nach dem Vorbild des Geschlechtsverkehrs - hier folgte er neben Freud vor allem Karl Kraus und dem Jugendstil und den Bemühungen um Lebensreform, wie sie seit 1900 in seinen Kreisen angesagt waren. Das Leben, wie es in der repressiven Gesellschaft nicht lebt, im Geschlechtsverkehr - worin auch immer er bestehe - macht es die emphatische Erfahrung dessen, was Leben sein könnte... Jedenfalls ließ sich der Student, der ich einst war, dies alles gern gesagt sein. Er hatte sein eigenes Geschlechtsleben eben erst richtig begonnen, und dass jeder Nachmittag im Bett (statt Seminar) den höchsten Anforderungen der Kritischen Theorie entsprach: Au fein! Famos!"

Weitere Themen: Anne Kraume hat Rudolf Thome zu seinem neuen Film "Rot und Blau" befragt. Angesichts der Sottisen von Harald Schmidt über die "angeblich drohende Arbeitslosigkeit" seiner Mitarbeiter klärt uns Arno Frank über den Unterschied zwischen Zynismus und Zynismus auf.

Besprochen werden: Jim Sheridans neuer Film "In America", die Pubertätskomödie "Freaky Friday" und Elmar Fischers Film "Fremder Freund".

Remember TOM.

NZZ, 11.12.2003

Aram Lintzel hat nach Jahren der exzessiven Spezialisierung in der Musik einen neuen Trend aufgespürt: dass nämlich über das "Prinzip Radiosendung das Spartendenken der Electro-DJs aufweicht". Dies findet Lintzel insofern verblüffend, ist dorch das Radio "dem wahren Musikliebhaber heutzutage suspekt. Es gilt ihm als der Inbegriff des gleichgeschalteten Mainstreams mit seiner falschen Formatierung der unendlichen Vielfalt des Musikalischen. Das Radio sucht den gemeinsamen musikalischen Nenner der Massen. Das Radio, so scheint es, ist das Medium des Banalen, konsumiert von den Blöden. In letzter Zeit allerdings häufen sich die Anzeichen, dass das Radio gerade in freien und fortschrittlichen Szenen wie der Elektro-Bewegung neue Attraktivität gewinnt, mit anderen Ohren gehört wird. Genauer gesagt: die Idee des Radios als ästhetisches Modell."

Weitere Artikel: Stephan Templ beschreibt, wie der kommende EU-Beitritt Sloweniens die österreichische Steiermark und der slowenische Landesteil Stajerska wieder einander näherbringt. Franz Haas berichtet von der Messe der italienischen Kleinverlage in Rom. Gemeldet wird zudem, dass der Schriftsteller Harald Hartung mit dem Würth-Preis ausgezeichnet wird. Besprochen werden die leider nicht wirklich groovende Gruppenschau "One Planet under a Groove" in der Münchner Villa Stuck, in der die "Einflüsse der Hip-Hop-Kultur auf die zeitgenössische Kunst" beleuchtet werden, eine Ausstellung über "eines der schillerndsten Büros der Architekturszene", des Rotterdamer Duos Neutelings Riedijk, im Niederländischen Architektur-Institut in Rotterdam.

Und selbstverständlich Bücher: Jaques Roubauds schmaler Roman "55 555 Bälle", Vincent Humberts Buch "Je vous demande le droit de mourir", ein "Testament, Geständnis und politisches Mainfest" zugleich, das in Frankreich eine lebhafte Debatte über die Sterbehilfe ausgelöst hat, und Patrice Nganangs Roman "Hundezeiten" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 11.12.2003

Jürg Altwegg erzählt das tragische Schicksal Valery Giscard d'Estaings, der als einziger französischer Präsident sein Amt überlebte, der sich dann zur Gaudi der Kritiker aufs Schreiben verlegte ("Zu den Höhepunkten des Werks gehört die Beschreibung der Beine seiner Universitätsministerin") und dem Mitglieder der Academie francaise nun auch noch den für heute vorgesehenen Eintritt in die ehrwürdige Institution versagen wollen.

Robert von Lucius hat J. M. Coetzee bei den Nobelfeierlichkeiten beobachtet und fand den großen Schweiger einigermaßen umgänglich: "Beim Abendessen mit den achtzehn Mitgliedern der Schwedischen Akademie ging es vergnügt zu. Coetzee war bester Laune, obwohl er wie stets dem Alkohol entsagte." Sogar Bücher hat er sgniert: "Mitarbeiter berichteten anschließend, Coetzee habe mit vier Büchern in der Minute die Rekorde der meisten geschlagen, nur Monika Lewinsky habe noch rascher unterzeichnet. Es müssen nicht Bücher sein; er signiert auch Zeitungsausrisse und unterschrieb sogar auf einem Unterarm. Und schaute dabei jedem in die Augen und sagte: 'Danke.'"

Weitere Artikel: Christian Schwägerl wendet sich in der Glosse gegen das "Gewerkschaftsmärchen" vom Sozialabbau als Ursache für den Bildungsabbau. Gerhard Rohde hat sich verschiedene Inszenierungen der "Trojaner" zum 200. Geburtstag Hector Berlioz' angesehen. Andreas Rossmann meldet den bedeutsamen Fund einer Teststrecke für eine Schwebebahn in einer Kölner Industrieruine. Christian Schwägerl erläutert das Experiment George Daleys von der Harvard Medical School, der erstmals mit künstlichen Spermien Mäuse-Embryonen erzeugte. Andreas Platthaus hat einer Leipziger Diskussion über den Reichstagsbrand zugehört. Marta Kijowska berichtet, dass der berühmte Reporter Ryszard Kapuscinski in Polen zwei autobiografische Bücher vorlegt. Stefan Klöckner, Professor für Gregorianik und Liturgie in Essen, lauschte einem Vortrag Kardinal Ratzingers zum 40. Jahrestag des Zweiten Vatikanischen Konzils ("was der Kardinal über die theologische und spirituelle Dimension der Liturgie sagte, war von solcher Brillanz, Klarheit und Tiefe, dass sich keiner der Faszination zu entziehen vermochte" - eine solche Verehrung schlägt im, FAZ-Feuilleton allenfalls noch Harald Schmidt entgegen!) Wolfgang Sandner gratuliert dem Komponisten Elliott Carter zum Fünfundneunzigsten.

Auf der Kinoseite bespricht Andreas Kilb die Berliner Ausstellung über "Engel im Film". Joseph Hanimann stellt Alain Resnais' (bisher nur in Frankreich laufenden) Operettenfilm "Pas sur la bouche" vor. Bert Rebhandl sieht sich DVDs an, die zu Yasujiro Ozus hundertstem Geburtstag erschienen.

Die Medienseite setzt die intensive Harald-Schmidt-Berichterstattung mit neuen Zitaten bedeutender Zeitgenossen, einem großen Artikel von Michael Hanfeld über die schlimmen Zustände bei Sat.1 und einem Interview Reinhold Beckmanns mit Schmidt aus dem letzten Jahr fort.

Die letzte Seite bringt die Dankrede Walter Hincks für den Preis der Frankfurter Anthologie. Oliver Tolmein greift den Fall einer Abtreibung in Großbritannien auf, die noch nach dem sechsten Monat vorgenommen wurde, weil das Kind eine Hasenscharte hatte. Und Jürgen Kaube stellt den Demographen James W. Vaupel vor, der den heute Dreißigährigen prophezeit, dass sie im Schnitt mit hundert Jahren sterben werden.

Besprochen werden eine Ausstellung über Ernst Ludwig Kirchners frühe Davoser Jahre im Kunstmuseum Basel, ein Handlungsballett nach "Lulu" von Christian Spuck in Stuttgart, eine Hermann-Glöckner-Ausstellung in Dresden und Rudolf Thomes Film "Rot und Blau" mit Hannelore Elsner.