Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.01.2004. Die NZZ hat mexikanische Banditen singen hören: "'Sie kamen von San Isidro / wohnhaft in Tijuana / die Reifen des Wagens / gefüllt mit Marihuana." Die FR träumt mit Bremen von der Überseestadt. Die FAZ erklärt, wie Vladimir Putin in der tschetschenischen Bevökerung einen Rückhalt von 96 Prozent erreichte. Die SZ glaubt: Wir Deutschen sind an Bildung gar nicht interessiert. Sehr gemocht wird Sofia Coppolas Film "Lost in Translation".

SZ, 07.01.2004

Thomas Steinfeld hat noch einige Fragen an die SPD-Politiker, die nach einer Allez-hopp-Elite rufen: "Wie kommen sie nur auf den Gedanken, man könne einer Gesellschaft eine höhere Bildung dekretieren, per Verordnung und Stiftungsurkunde - eine Bildung, die diese Gesellschaft offensichtlich weder besitzt noch haben will? Seit wann kann man 'Eliten' schaffen, indem man sie gründet wie einen Verein, mit den 'nächsten zwei Jahren' als Frist, wie Hessens Kultusministerin Karin Wolff meint? Und wie geschichtsvergessen, wie erfahrungsresistent, ja ungebildet muss man sein, um sich nicht daran zu erinnern, wie viele Versuche es in den vergangenen dreißig Jahren gegeben hat, eben Bildungsstätten einer neuen 'Elite' einzurichten."

Der Verfassungsrechtler Dieter Grimm (mehr) fragt, ob wir über das Scheitern der europäischen Verfassung hätten erschrocken sein müssen - und antwortet mit einem klaren Jein: "Die Europäische Union ist ohne diesen Verfassungsvertrag für ihre neue Dimension und ihre Aufgaben in der Weltpolitik rechtlich schlecht gerüstet. Auf der symbolischen Ebene fällt es dagegen schwer, einen Verlust festzustellen, weil der Entwurf weit hinter einer wirklichen Verfassung zurückbleibt und weil die Aussichten, dass er die Skepsis der Unionsbürger gegenüber der Union überwunden und ihnen ein europäisches Identitätsbewusstsein vermittelt hätte, gering sind."

Susan Vahabzadeh zeigt sich ganz und gar hingerissen von Sofia Coppolas Film "Lost in Translation": "Das Wesentliche in dieser Geschichte ist sinnlich, kommt aber ohne Sex aus. Das gibt es im Kino gar nicht mehr oft. Im richtigen Leben aber schon. Nur erzählt das Kino nicht gern von den Beschränkungen, die einem die Wirklichkeit auferlegt. Sofia Coppola hat es aber geschafft, diesen Beschränkungen Magie abzugewinnen."

Weitere Artikel: Nicole Ruchlak unterhält sich mit dem rumänischen Philosophen und Architekten Augustin Ioan (mehr) über die Abschaffung des öffentlichen Raums im Kommunismus. Fritz Göttler berichtet von einem "zufälligen" Fund im italienischen Kulturministerium: ein Brief Alberto Moravias (mehr) an den Duce von 1938, in dem Moravia, Sohn eines jüdischen Vaters, seine katholische Reinheit mütterlicherseits betont. Wolfgang Jean Stock erinnert daran, dass vor fünfzig Jahren die finnische Modellstadt Tapiola in einem Landschaftspark gegründet wurde.

Auf der Musikseite erzählt Christoph Wagner, wie der New Yorker Avantgarde-Musiker Elliott Sharp nach Streichquartetten, Hardcore, Cyberpunk und Qawwali zum Blues gekommen ist. Franz Dobler berichtet von dem Rockabilly-Musiker Jerry J. Nixon und einem schweren Anfall von Fake Art Paranoia. Besprochen werden die "beglückende" CD-Box "Music from the ONCE Festival 1961 - 1966", Silje Neergards Album "At First Light" und zwei DeLuxe-Editionen zu den Allman Brothers.

Weitere Rezensionen widmen sich Marcus Nispels Neuverfilmung des "Texas Chainsaw Massacre", der Ausstellung "Un-built Cities" im Bonner Kunstverein und Büchern, darunter Jachym Topols neuem Roman "Nachtarbeit" und einem Band zur "Reformation in Europa" von Ulinka Rublack (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

NZZ, 07.01.2004

Andreas Essl hat in Mexiko Banditen singen hören: "Narcocorrido", das Lied der Drogen. "'Sie kamen von San Isidro / wohnhaft in Tijuana / die Reifen des Wagens / gefüllt mit Marihuana.' Die Anfangszeilen in 'Contrabando y Traicion' von Los Tigres del Norte (mehr), harmlos auf den ersten Blick, stellen eine Revolution im mexikanischen Musikgeschäft dar. Dem Corrido wird fortan ein 'Narco' vorangestellt, ein untrügliches Zeichen dafür, dass es sich um das Lied der Drogen handelt. ... Zwar sind die Corridos zuweilen eine abstruse Mischung aus anachronistischem Akkordeon-Geschramme und gangsta rap, doch lassen sie auch tiefe Einblicke in die Mysterien des narkotisierten Untergrunds zu. Der Stoff liegt auf der Straße. Der Narcocorrido ist kein schönes Genre, aber der Wahrheit oft sehr nahe - und eines, bei dem man vorsichtig sein muss. In einer Welt, in der der Tod eine gewichtige Rolle spielt, lebt man auch als Liedermacher gefährlich, wenn man die falschen Worte findet. Den Kartellen scheinen sie zu gefallen. So bieten sie Schutz für ihre Barden und lassen sich, oft für mehrere tausend Dollar, Lieder für die Ewigkeit schreiben." (Hier finden Sie zwei Videos der Los Tigres)

Besprochen werden Sofia Coppolas Film "Lost in Translation" ("eine wunderbare Gratwanderung zwischen dem Komischen und dem Erhabenen", meint Marli Feldvoss) und Bücher, darunter eine "nüchterne" Studie von Peter Feldbauer zur portugiesischen Expansion in Asien und Antal Szerbs "betörender" Roman "Reise im Mondlicht" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FR, 07.01.2004

Na bitte, Aufschwung auch in Deutschland. Allen voran: Bremen, erzählt Oliver Herwig. "Europas Metropolen drängen ans Wasser. Nun wollen auch die Bremer ihre alten Kais und Hafenanlagen aus dem Dornröschenschlaf der Postindustrialisierung wecken und als Überseestadt urbanisieren. Ein 'Glücksfall', jubelt das Deutsche Architektenblatt, und tatsächlich: Wen die Vision der Hansestadt am Wasser nicht packt, den beeindruckt zumindest ihre Größe. Auf sieben Metern Länge und beinahe zwei Meter Breite hat die Überseestadt Gestalt angenommen, und zwar in Form von Plastik, Kitt und Plexiglas. Illuminierte Häuserblocks säumen breite Boulevards, schimmernde Hochhäuser sorgen für Orientierung, und das türkise Wasser macht aus den neuen Wohngebieten eine kleine Attraktion." Angucken kann man sich die Überseestadt in den Kunstsammlungen Böttcherstraße.

Weitere Artikel: Harry Nutt liefert fünf Skizzen zur sozialen Befindlichkeit Deutschlands im Winter. In Times Mager sinniert Elke Buhr über den Charme des Scheiterns.

Besprochen werden Sofia Coppolas Film "Lost in Translation" ("Let's get lost", seufzt Daniel Kothenschulte ganz verzaubert), eine Malerei-Ausstellung über das Unheimliche in der Kunst in der Städtischen Galerie Delmenhorst, eine Ausstellung über die Erinnerung an Stalingrad im Deutsch-Russischen Museum in Berlin-Karlshorst und Bücher, darunter Frances Itanis Roman "Betäubend" und vier kleine Erzählungen von Meir Aron Goldschmidt (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 07.01.2004

Andreas Busche hat sich "Fear and Loathing on a Campaign Trail" angesehen. Denn im Rennen um die US-Präsidentschaft scheinen die Demokraten so verzweifelt, dass sie sich wieder der Grassroots-Initiativen erinnern und wie Howard Dean ihre Unterstützung suchen. Michael Braun paraphrasiert einen Artikel aus dem italienischen Espresso, in dem Jeremy Rifkin angesichts depressiver Schweine und Gorillas mit einem IQ von 70-90 eine Zeitenwende im Verhältnis von Mensch und Tier beschwört. Sebastian Handke bespricht die dem Medientheoretiker Friedrich Kittler gewidmete Festschrift "FAKTisch".

In der tazzwei stellt Jan Feddersen fest, dass dank der ARD-Dokumentation über Helmut Kohl auch den Letzten klar werden muss, warum sich dieser Mann sechzehn Jahre an der Macht halten konnte. Heute vor 25 Jahren endete die Terror-Herrschaft der Roten Khmer in Kambodscha, Klemens Ludwig berichtet.

Und noch TOM.

FAZ, 07.01.2004

Heute sind die Kulturkorrespondenten - die Krone der FAZ-Journalistenschaft - schwer aktiv. Kerstin Holm konstatiert auf der letzten Seite die Niederlage der russischen Intelligenz vor der "triumphierenden Machtvertikale". Zur Erklärung zitiert sie den Satiriker Viktor Schenderowitsch: "In seinem Jahresrückblick stellt Schenderowitsch fest, dass dank der Rechenkünste eifriger Verwaltungschefs der Rückhalt, den Präsident Putin genießt, in einigen russischen Regionen 108 bis 109 Prozent der Bevölkerung erzielte. Beeindruckend war auch das Ergebnis der Volksbefragung in der Krisenregion Tschetschenien im vergangenen Frühjahr, wo sich nach achtjährigem Daueraderlass sechsundneunzig Prozent für den Verbleib in der Russischen Föderation ausgesprochen haben sollen. Einen eigenen Rekord erzielten einige Zeltlager für tschetschenische Flüchtlinge in Inguschetien, wo eine Wahlbeteiligung von bis zu 190 Prozent gemessen wurde." Wir haben Freunde!

Aus London berichtet Gina Thomas über den bemerkenswerten Erfolg eines Buchs über die korrekte Zeichensetzung im Englischen - Lynn Truss' "Eats, Shoots and Leaves - The Zero Tolerance Approach to Punctuation" (hier ein schöner Artikel aus dem Economist zum Thema). Aus Genf meldet Jürg Altwegg, dass Jacques Chirac zum Jahrestag des D-Day am 6. Juni Gerhard Schröder in die Normandie einlädt, dem damit vergönnt ist, was Kohl vor zehn Jahren noch verwehrt wurde. Und aus China berichtet Zhou Derong über Verschwörungstheorien zum Thema Sars - verdächtigt werden die Amerikaner (wer sonst?), die den Erreger aus ihren Laboren gegen die Chinesen losgelassen haben sollen.

Weitere Artikel: Im Aufmacher will Jürgen Kaube nicht an den Sinn von Elite-Universitäten in Deutschland glauben, solange es den normalen Unis so schlecht geht: "Putz fällt von den Wänden, aber nicht mehr auf Bücher, denn die werden mancherorts gar nicht mehr angeschafft." Mark Siemons kommentiert noch einmal Johannes Raus Äußerungen zum Kopftuch und befürwortet kopftuchtragende Lehrerinnen. In der Leitglosse mokiert sich Christian Geyer über Britney Spears' in der Rekordzeit von 13 Stunden geschlossene und wieder annullierte Ehe. Andreas Platthaus freut sich über den Erfolg des deutschen Comic-Autors Jens Harder und seines Bandes "Leviathan" in Frankreich. Eduard Beaucamp schreibt zum Tod der Kunsthistorikerin Ursula Binder-Hagelstange.

Auf der letzten Seite werden einige Prosaminiaturen von Daniil Charms präsentiert, erstmals aus dem Russischen übersetzt von Peter Urban. Und Felicitas von Lovenberg bereitet uns auf geplanten Identitätskitsch schottischer Autonomisten (in Gegenwart des notorischen Sean Connery) zum 700. Todestag ihres Freiheitshelden William Wallace im nächsten Jahr vor.

Besprochen werden Sofia Coppolas "ganz schön herzerwärmender Film" (so Michael Althen) "Lost in Translation" und eine Ausstellung mit Zeichnungen von Patti Smith im Nünchner Haus der Kunst.