Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.02.2004. Die FAZ geht streng mit dem Rowohlt Verlag ins Gericht, der den bereits angekündigten Roman "Endstufe" von Thor Kunkel nun zurückzieht. In der SZ tritt Navid Kermani für eine westliche Leitkultur ein. Die NZZ besucht den Dichter Lutz Seiler zum Werkstattgespräch. Die taz verspeist einen Hamburger in Saudi Arabien und meditiert über die Krise des Islam.

SZ, 02.02.2004

Die SZ druckt die launige Dankesrede Navid Kermanis (mehr) für den Preises der Helga-und-Edzard-Reuter-Stiftung, in der Kermani für eine missionarische westliche Leitkultur eintritt, sich aber zunächst naheliegenderen Problemen zuwendet. " Was tue ich mit dem Geld? Und entschied: Ich kaufe ein altes Haus in Isfahan. Meine Familie stammt aus Isfahan, und wenn es Sie bis jetzt gestört hat, dass ich immerfort vom Geld rede, kann ich mich gut kulturalistisch verteidigen: Die Isfahanis gelten als die Schwaben Irans. Nun gut, nicht alle Schwaben sind so, verehrte Stifter. Aber alle Isfahanis. Ausnahmslos alle. Das sagen jedenfalls alle anderen Iraner über uns. Wir sind nach allgemeinem Dafürhalten extrem geizig, denken immer nur ans Geld und hauen jeden anderen Iraner übers Ohr, mit Vorliebe die türkischen Iraner, die Aserbaidschaner also."

Ein pralles Premieren-Wochenende hat Joachim Kaiser in Bochum erlebt. Während ihn Matthias Hartmanns überdreht revuehafter "Hauptmann von Köpenick" mit einem "ein wenig zu vornehm-souveränen" Otto Sander enttäuschte, brachte Ernst Stötzners Schauspiel-Inszenierung von Goethes "Wahlverwandtschaften" nicht weniger als ein "reines, poetisches Wunder": "Was in Bochum so bezauberte, war die Anmut, die Differenziertheit, das Melos der leibhaftig gewordenen Goethe-Sprache. Dabei wirkten die Dialoge hier keineswegs wie auf Pointen hin zugespitzt. Das hat der alte Goethe nicht nötig. Er gibt schwerelose Erfülltheit."

Weitere Artikel: Ijoma Mangold kolportiert das Gerücht, dass der äthiopische Prinz Asfa-Wossen Asserate seinen Bestseller "Manieren" mit etwas zu tatkräftiger Unterstützung von Martin Mosebach (mehr) geschrieben haben könnte. Wolf Lepenies weiß, warum Präsidentschaftsbewerber John Kerry gegen George W. Bush gewinnen kann. Weil er im Gegensatz zum Amtsinhaber schon mal selbst im Krieg war. Nach einer kontrastreichen Berliner Antisemitismus-Tagung bleibt bei Arno Orzessek nur die Gewissheit, dass es ihn gibt. Anlässlich Talleyrands (mehr) zweihundertfünfzigstem Geburtstag erinnert Hans Pleschinski an den chamäleonhaften Diplomaten und "Makler zwischen Epochen". Fritz Göttler erklärt, wie die UN sich mit Hilfe von Sean Penn entmystifizieren wollen. Christoph Bartmann sagt die Weltherrschaft der Dänen in Sachen Wagner voraus. Eine Meldung besagt außerdem, dass der Rowohlt Verlag den NS-Roman von Thor Kunkel (mehr) kurz vor dessen Erscheinen zurückzieht.

Fast die ganze Medienseite nutzt Hans-Jürgen Jakobs für ein Porträt des gewitzten Medienunternehmers Peter Schwarzkopff, der das mit Trash-Talkshows verdiente Geld jetzt in anspruchsvolle Projekte stecken will. Christiane Kögel resümiert eine Hamburger Tagung zur Zukunft der Talkshow. Interessant ist auch Tomas Avenarius' Reportage auf der dritten Seite über den größten Mann der Welt, mit dem der notorische Gunther von Hagens einen faustischen Vertrag abschließen wollte: medizinische Behandlung zu Lebzeiten für den Körper nach dem Tode.

Besprechungen widmen sich der deutschen Erstaufführung von Marina Carrs "Ariel" in Bonn, Frank Castorfs Umsetzung von Pitigrillis Roman "Kokain" an der Berliner Volksbühne, Lisa Cholodenkos Film "Laurel Canyon" mit Frances McDormand als Rocklady, Martin Gypkens? Erstling "Wir" und Büchern, darunter Douglas Adams' "Lachs im Zweifel", ein Sammelband mit nachgelassenen Texten von Douglas Adams, die Komplettausgabe der Gedichte von F. W. Bernstein sowie Richard Overys Untersuchung über "Russlands Krieg 1941-45", das neue "Standardwerk" zum Thema (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

NZZ, 02.02.2004

Roman Bucheli hat den Dichter Lutz Seiler besucht, der seit 1997 im Peter-Huchel-Haus in Wilhelmshorst lebt und dort die Gedenkstätte leitet. Seiler erinnert sich, wie er mit einem Pionierbataillon eine Scheinbrücke über einen Fluss legen sollte, "unter Gefechtsbedingungen notabene, was hiess, dass er drei Wochen lang hinter dem Steuerrad seines Lastwagens saß und drei Wochen lang durch den Novembernebel auf den Fluss und seine Kameraden schaute, wie sie sich mit der Attrappe - und zwar, wie es sich zuletzt erweisen sollte, vergeblich - abquälten. Abwechselnd sei er dabei in eine Art Totenstarre gefallen, 'oder ich las und sprach Huchel vor mich hin'. Und plötzlich habe sich die hinter einem Regen- und Nebelschleier allmählich ins Chimärische versinkende Welt mit den Gestalten und Schatten, dem Dämonischen und Geisterhaften aus Huchels Gedichten zu verbinden begonnen. 'Nach zwei Wochen, angefiebert vom Nichts und Kaffeelikör, begann ich den Versuch, mir eine gegenläufige, autarke Bedeutung der Dinge zu konstruieren, und schrieb mein erstes Gedicht.'"

Weitere Artikel: Barbara Spengler-Axiopoulos schildert die schwierige Situation der letzten Griechen in Istanbul: ihre Schulen werden geschlossen und das Patriarch abgeschafft, sobald sie weniger als 2000 werden. Die Tate Gallery hat ein prachtvolles Neujahrsgeschenk erhalten, berichtet George Waser und stellt kurz die Barry Joule Collection mit rund 1200 Objekten von Francis Bacon vor (mehr über Barry Joule hier).

Besprochen werden eine Ausstellung über "Gastarbajteri" in Wien, zwei Janacek-Opern - "Die Sache Makropoulos", inszeniert von Hans Neuenfels in Stuttgart und "Katja Kabanova", inszeniert von Anselm Weber in Frankfurt ("Bemerkenswert in beiden Häusern das sängerische Niveau", findet Peter Hagmann), "Der Hauptmann von Köpenick" in Bochum, "Kokain" von Pitigrilli in der Volksbühne Berlin, Schostakowitschs "Leningrader" Sinfonie im Opernhaus Zürich und eine Ausstellung mit bisher unveröffentlichten Fotografien, die Sam Shaw (Fotos) von Marilyn Monroe während ihrer New Yorker Jahre machte, in der Galerie des Cafe Einstein Unter den Linden.

FR, 02.02.2004

Stefan Keim hat sich den "Hauptmann von Köpenick" am Bochumer Schauspielhaus angesehen. Die Inszenierung sei nur mittelmäßig, winkt er ab, Otto Sander hingegen ein Erlebnis. "Er ist einfach da, dieser etwas gebeugte Herr mit zerfurchtem Gesicht und warm krächzender Stimme. In seinem schäbigen Anzug sieht er wie ein Wiedergänger des Tramps aus, den Charlie Chaplin oft verkörperte. Doch seine Mimik ist ruhig, fast phlegmatisch, unergründlich. Otto Sander erinnert an einen faltig gewordenen Buster Keaton, der schaut und denkt, langsam und gründlich, ein Spielball des Verwaltungswahnsinns, der sich irgendwann zu einer unglaublichen Tat entschließt."

Harry Nutt sieht die wenig demokratische Rechtschreibreform als weiteren Schritt auf unserem Weg zur Räterepublik. Burkhard Müller-Ulrich nutzt die Zeilen von Times mager, um die chinoiserie administrative der Franzosen zu würdigen. Gemeldet wird, dass der Rowohlt Verlag den für März geplanten Roman "Endstufe" des Autors Thor Kunkel über die NS-Pornoindustrie zurückgezogen hat und dass der Max-Ophüls-Preis an Marcus Mittermeier geht.

Auf der Medienseite zeigt sich Silke Hohmann von der ersten Sendung "popXport" (mehr) im Auslandsfernsehen der Deutschen Welle wenig überzeugt. Besprochen werden "Kokain" an der Berliner Volksbühne, "bedrängend und abgründig" inszeniert von Frank Castorf, und Bücher, darunter Wally Lambs Erfahrungsbericht über seinen Schreibkurs mit den Frauen des Hochsicherheitsgefängnisses York sowie Kevin Phillips' Attacke auf "Die amerikanische Geldaristokratie" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

TAZ, 02.02.2004

Der Islam ist in der Krise, diagnostiziert Daniel Bax in einem langen Aufmacher, besonders gut sehe man das an Saudi-Arabien, das zwischen Liberalisierung, Tradition und Extremen hin und herschwanke. Saudi-Arabien, das für "viele Muslime so etwas wie Gottes eigenes Land darstellt, ist sicher eines der widersprüchlichsten Staaten der Welt. Und diese Widersprüche spitzen sich zu. Das Bild der saudischen Städte wird von Shopping-Malls und amerikanischen Fast-Food-Ketten wie McDonalds und Kentucky Fried Chicken geprägt. Den Alltag aber bestimmen die Regeln eines puritanischen Islams, der nach dem geistigen Ahnherrn des saudischen Königshauses, Ibn Abd al-Wahhab, auch Wahhabbismus genannt wird. Seine enge Auslegung der Religion avancierte in Saudi-Arabien zur Staatsdoktrin: Dieben drohen harte Körperstrafen und Drogendealern die Hinrichtung. Eine freie Presse existiert nicht, und öffentlicher Protest ist verboten. Frauen dürfen nicht Auto fahren, weil der Schleier ihre Sicht behindern könnte, aber ablegen dürfen sie ihn erst recht nicht. Und die allgegenwärtige Religionspolizei vertreibt sich die Zeit damit, mit dem Filzstift die weiblichen Gesichter zu übermalen, die sie auf den Verpackungen ausländischer Produkte im Supermarkt entdeckt."

In der zweiten taz lesen wir Henning Kobers Reportage aus dem Aussteiger- und Kifferstaat Christiania, ein Stadtteil Kopenhagens, der nun wieder "normal" werden soll. Schön auch die Themen des Tages: Katharina Koufen fragt Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph E. Stiglitz (Porträt und mehr), warum der Staat mehr regulieren sollte, während Bernd Müllender spekuliert, was nun aus der ehemaligen Nazi-Ordensburg Vogelsang in der Eifel (Bild und mehr) werden soll. Und Jan Feddersen fragt sich einerseits, warum Tagesschausprecher Jens Riewa schon wieder "einen auf dicke Hose" macht, andererseits weiß er nach einer NDR-Tagung immer noch wenig über die Zukunft der Talkshow.

Besprochen werden "Fade Away", Philippe Parrenos Ausstellung über das Verschwinden im Münchner Kunstverein sowie Frank Castorfs überaus "rauschmimetische" Inszenierung von Pitigrillis Roman "Kokain" an der Berliner Volksbühne.

Schließlich Tom.

FAZ, 02.02.2004

Streng geht Hubert Spiegel mit dem Rowohlt Verlag ins Gericht, der den bereits annoncierten Roman "Endstufe" des Autors Thor Kunkel ("Das Schwarzlicht-Terrarium") nun zurückzieht. Die Ingredienzien des Romans scheinen in der Tat recht würzig zu sein: Es geht um Pornos, die von den späten Nazis gegen Waffen getauscht werden und eine allgemeine, furios ausgemalte Götterdämmerung. Spiegel hat den Roman gelesen: "Die Art und Weise, wie hier Massenvergewaltigungen in den Straßen Berlins dargestellt und kommentiert werden, lässt stark bezweifeln, dass Kunkel sein heikles Thema künstlerisch bewältigt hat." Spiegels Kritik aber gilt in erster Linie dem Verlag: "Man wusste.., dass dieser Autor provoziert und polarisiert. Deshalb, aber vor allem aufgrund des auf den ersten Blick erkennbar heiklen Stoffes, hätte Kunkel von seinem Verlag besondere Sorgfalt erwarten dürfen. Sie hätte etwa darin bestanden, den jetzt eingetretenen Fall vorherzusehen und das Buch erst nach seiner Fertigstellung anzukündigen."

Weitere Artikel: Dirk Schümer macht sich Sorgen um die Lesefähigkeiten der Italiener - 22 Millionen von ihnen haben nach übermäßigem Genuss des Berlusconi-Fernsehens offensichtliche Schwierigkeiten beim Entziffern von Texten. Gerhard Stadelmaier ist nicht zufrieden mit Frank Castorfs Dramatisierung von Pitigrillis Roman "Kokain": ("Drei Stunden lang wird völlig unverständlich durcheinander geschrieen.") Paul Ingendaay nimmt den Regisseur Julio Medem, der einen etwas sentimentalen Heimatfilm über das Baskenland gedreht zu haben scheint, in Schutz gegen die Proteste von Terroropfern. Michael Martens berichtet in der Serie über den Verfall der christlichen Werte im christlichen Abendland über einen Kirchenstreit in Mazedonien. Kerstin Holm berichtet über staatlich unterstützte Zensurbestrebungen durch die orthodoxe Kirche in Russland gegen unbotmäßige Kunst. Dieter Bartetzko stellt das von Gottfried Böhm entworfene Gebäude der Zentralbibliothek in Ulm (Bilder) vor. Andreas Rosenfelder besucht ein Supermarktmodellprojekt bei Duisburg, wo man die Waren mit dem Einkaufswagen einfach nur noch durch einen Chipleser schiebt, und schildert Bedenken von Datenschützern. Tilman Spreckelsen resümiert das Max-Ophüls-Festival in Saarbrücken. Und Matthias Grünzig stellt in einem interessanten, aber dummerweise völlig unillustrierten Artikel die vorbildliche Städtebaupolitik der ostdeutschen Kleinstadt Leinefelde vor, die äußerst phantasievoll mit ihrer Plattenbausubstanz umgeht und so den Bevölkerungsrückgang aufhält und sogar neue Arbeitsplätze geschaffen hat. Die Stadt ist für den Europäischen Städtebaupreis nominiert.

Auf der letzten Seite legt Lorenz Jäger eine Abhandlung über die Phantasien klassischer Science-Fiction-Autoren über den Planeten Mars vor. Erna Lackner ist sehr gerührt über die Wiederaufführung von Thomas Bernhards "Ritter, Dene, Voss" mit besagten Schauspielern nach 15 Jahren in Wien (wo man Regisseur und Intendant Claus Peymann intensiv nachtrauert). Und Wolfgang Sandner findet, dass Alfred Brendel den Siemens-Musikpreis redlich verdient hat.

Auf der Medienseite konstatiert Gina Thomas nach all den Dramen um die BBC, dass die britischen Bürger nach einer Umfrage der BBC immer noch mehr trauen als der vom Hutton-Bericht so in Schutz genommenen Blair-Regierung.

Besprochen werden außerdem "Schwanensee"-Variationen in Hannover, ein Bochumer "Hauptmann von Köpenick" mit Otto Sander und eine Andre-Thomkins-Ausstellung im Kunstmuseum Liechtenstein.