Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.05.2004. In der FAZ stellt Salman Rushdie fest: "Das Wohl der Massen missachtet man nicht ungestraft." In der Welt beschreibt Michael Ignatieff, wie eine Niederlage im Kampf gegen den Terror aussieht. Sein Kollege Michael Walzer will in der FR Rumsfeld zum Rücktritt zwingen. Die SZ möchte Europa ein 780.576 Quadratkilometer großes Kopftuch aufsetzen. Die NZZ besucht Paula Fox. Und die taz sucht vergeblich in der Berliner Ausstellung zum Ersten Weltkrieg die Kriegsgegner.

FAZ, 15.05.2004

Der Schriftsteller Salman Rushdie bezeichnet den überraschenden Sieg von Sonia Gandhis Kongresspartei als "Glanzpunkt" der indischen Demokratie. "Die armen Massen haben den Plänen der politischen und wirtschaftlichen Häuptlinge des Landes einen mächtigen Schlag versetzt, und diese Lektion sollten alle Parteien lernen: Das Wohl der Massen missachtet man nicht ungestraft."

Weitere Artikel: Joseph Croitoru betont, dass die Video-Hinrichtung Nick Bergs weder neuartig war noch von allen radikalen Islamisten begrüßt wird. Andreas Kilb taucht kurz aus den Kinosälen von Cannes auf, um von Emir Kosturicas Film "Das Leben ist ein Wunder " zu schwärmen. Henning Ritter gratuliert dem produktiven Soziologen Ulrich Beck zum Sechzigsten. "Aro" kündigt weitere Billigkunst bei den Discountern an. Lorenz Jäger überbringt dem Slawisten und Autobiografen Fritz Mierau Glückwünsche zum Siebzigsten. Auf der Medienseite vermutet Michael Hanfeld hinter dem Preis, den Regierungssprecher Bela Anda erhielt, eine durchsichtige PR-Aktion.

In den Überresten von Bilder und Zeiten streift Alexander Goerlach durch Kairos Al-Azhar-Universität und erfährt, wie der interkulturelle Dialog in Zukunft geführt werden soll. "Wenn die Europäer den Koran verstehen, wenn sie die Feinheit der arabischen Sprache sehen, müssen sie doch glauben, dass das Hinterfragen des Textes ohne Belang ist." Und FrancoVolpi porträtiert den kolumbianischen Philosophen Nicolas Gomez Davila.

Besprochen werden die Eröffnung der Münchner Musiktheater-Biennale mit "Berenice" von Johannes Maria Staud und "Versuchung" von Qu Xiao-song, eine Choreographie des New Yorkers Bill T. Jones in der Wolfsburger Autostadt, Thomas Langhoffs Version von Ibsens "Wildente" am Berliner Ensemble, ein Konzert mit Cassandra Wilson in der Alten Oper zu Frankfurt, das neue Album von Prince, und Bücher, darunter "Die gestundete Zeit" als Hörversion, gelesen von Ingeborg Bachmann höchstselbst, Eva Demskis Prosaband "Von Liebe, Reichtum, Tod und Schminke" sowie Nell Freudenbergers Erzählungen "Lucky Girls" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Welt, 15.05.2004

In der Literarischen Welt malt der Historiker und Philosoph Michael Ignatieff aus, wie die USA den Krieg gegen den Terror verlieren können. Nach einem zweiten verheerenden Anschlag in den USA etwa würden sich die USA, glaubt Ignatieff, "binnen kurzer Frist in einem nationalen Sicherheitsstaat in einem Zustand unaufhörlicher Wachsamkeit wieder finden, mit abgeriegelten Grenzen, ständigen Identitätsüberprüfungen und Dauerinternierungslagern für Abweichler und Fremde. Unsere verfassungsmäßigen Rechte könnten aus unseren Gerichtshöfen verschwinden, während die Folter in unseren Verhörzellen wieder auftauchen würde. Das Schlimmste daran ist, dass die Regierung ihre Tyrannei nicht einer geduckten Bevölkerung aufzwingen müsste. Wir würden diese Tyrannei zu unserem eigenen Schutz verlangen. So sieht die Niederlage in einem Krieg gegen den Terror aus."

TAZ, 15.05.2004

"Verzweifelt unangemessen" befindet Christian Semler im Kulturaufmacher, was die Macher der Ausstellung "Der Weltkrieg 1914-1918" im Deutschen Historischen Museum in Berlin zusammengetragen haben. Mit 650 Exponate aus 22 Ländern in "edlen Vitrinen" drücke sie sich um die "Wirklichkeit der Vernichtung herum". "Folgt man der Logik der Ausstellung, so hat es allerorten nur Kriegsbegeisterung gegeben, gefolgt von Ernüchterung und Apathie, nirgendwo aber Widerstand. Die Novemberrevolution, die Januarkämpfe, die mörderische Tätigkeit der Freikorps - alles nicht im Zusammenhang des Ersten Weltkriegs, nicht ausstellungswürdig?"

Weiteres: Im Setting "sperrig", aber nicht uninteressant findet Harald Fricke dagegen eine Schau von 30 Künstlern, die sich in der Kunsthalle Düsseldorf mit den Sounds des Elektronikduos Mouse on Mars auseinandersetzen - auch wenn "der künstlerische Eigensinn oft größer als die Auseinandersetzung mit der Musik" ausgefallen ist. Christina Nord entlarvt in Cannes Jonathan Nossiter als Möchtergern-Michael-Moore und Emir Kusturica als Möchtegern-Coppola. Andreas Busche stellt Marzieh Meshkinis Film "Der Tag, an dem ich zur Frau wurde" vor, der von Frauen im Iran erzählt.

Klare Worte findet Patrik Schwarz in seinem Kommentar auf der Meinungsseite zum Thema Folterdebatte: "Wer Folter verteidigt ist nicht dumm, sondern gefährlich." In tazzwei bereitet Stefan Kuzmany auf Anke Engelke vor, die ab Montag das Late-Night-Erbe von Harald Schmidt antritt. Und auf der Wahrheitseite polemisiert Wiglaf Droste - durchaus auch in eigener Sache - gegen Wolf Biermann beziehungsweise ein Interview, das dieser in der zweiten Ausgabe von Cicero gab ("Wer hört das Lied 'Fly like an Eagle' / Und übersetzt: 'Flieg wie ein Igel! / Steig, Ikarus, auf wie ein Ziegel!' / Wolf Biermann, der Poet vom Spiegel").

Und hier TOM.

NZZ, 15.05.2004

Zur "Vorsicht mit Sinnbildern" rät Joachim Güntner angesichts all der Folterbilder und Videos, die derzeit aus dem Irak gesendet werden. "Haben nicht die Fotos aus Abu Ghraib in der arabischen Welt das Stereotyp vom Westler als Inkarnation der Dekadenz, des imperatorischen Hochmuts und der Schamlosigkeit zementiert? Und bestätigt nicht umgekehrt das Video von der Hinschlachtung Bergs die Imago vom blutrünstigen Orientalen?... Das Video als Emblem eines politischen Kampfes - so wollen es ja die Mörder selber. Der Krieg der Bilder spielt ihr Spiel."

Weiteres: Jörg Restorff rechnet aus, dass Santiago Serra mit seiner 300-Tonnen-Skulptur das Kunsthaus Bregenz gehörig ins Wanken bringt.

In Literatur und Kunst erzählt Susanne Röckel von einer Begegnun mit der Autorin, die sie seit einigen Jahren übersetzt: Paula Fox: "'Wie unzivilisiert wir alle sein können!' Von ihren Erlebnissen als Mädchen und als junge Frau kommt Paula Fox auf die Grausamkeiten in der Geschichte, spricht vom 'Gift jeglicher Ideologie', dann springt sie zurück zum gestrigen Abend und scheut sich nicht, von ihrer Fassungslosigkeit beim Anblick der durch die Ölpest sterbenden Seevögel zu erzählen, die sie im Fernsehen sah. Ihre Stimme wird zart und brüchig in solchen Momenten, und ich komme mir mit meinen Fragen ungehobelt vor."

Besporchen werden Karl Amadeus Hartmann Oper "Simplicius Simplicissimus" in Stuttgart und eine ganze Menge Bücher, darunter solche Schwergewichte wie Ernst Cassirers kulturphilosophische Schriften, Peter Sloterdijks "Sphären"-Projekt und Jorge Luis Borges' Essays (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FR, 15.05.2004

Der amerikanische Philosoph Michael Walzer, Professor für Sozialwissenschaften in Princeton (mehr hier), macht deutlich, dass der Skandal um die Folterungen im Irak durch US-Militärs "symptomatisch für eine Regierung" ist, "die aufgehört hat, zwischen Sicherheit und Rechten abzuwägen". Ein Beispiel sei etwa die beschämende Verletzung der Genfer Konvention. "Der lockere Umgang mit der Konvention entspricht dem Stil dieser Regierung. Derselbe Stil zeigt sich darin, dass ihre Mitglieder weitaus weniger über die Verletzung der Rechte besorgt sind als über die Fotos, die diese Verletzung zeigen." Seine Folgerung: "Diejenigen, die das Klima der Achtlosigkeit, ja der Verachtung gegenüber internationalen Konventionen und Menschenrechten gefördert haben, müssen zum Rücktritt gezwungen oder bei den nächsten Wahlen besiegt werden. Was die Gerichte tun, ist sehr wichtig; doch was das Volk tut, ist noch viel wichtiger."

Daniel Kothenschulte war in Cannes beeindruckt von Abbas Kiarostamis Beitrag "10 in Ten" und hätte sich "die Axt fürs eigene Werk" auch für Emir Kusturicas Film "Life is a Miracle" gewünscht, der nichts anderes sei als ein "verspäteter Nachzügler" zu "Underground" und "Schwarze Katze, weißer Kater". In der Kolumne Zimt schlägt Renne Zucker ebenso mühelos wie überraschend den Bogen vom Maikäfer (beinahe ausgestorben) zu Angelika Beer "mit ihren besserwisserischen Strebersätzen, Herr Wolffsohn habe das Recht auf Lehre verwirkt und die Meinungsfreiheit höre da auf, wo sie die Grundsätze von Demokratie und Verfassung verlasse". Und auf der Medienseite lesen wir einen von dpa übernommenen Geburtstagsgruß an Friedrich Nowottny, der 75 wird.

Besprochen werden eine Inszenierung von Martin Heckmanns "Anrufung des Herrn" im Dresdner TIF, das sich nach Auffassung des Rezensenten damit "selbst die Abschiedsszene spielt". Als "Grabschändungen" werden - durchaus doppeldeutig - die ersten Uraufführungen der Müncher Biennale gedeutet: "Berenice" von Johannes Maria Staud (das Libretto schrieb Durs Grünbein) und "Versuchung" von Qu Xiao-song.

SZ, 15.05.2004

Im Aufmacher beschreibt Heribert Prantl die Türkei als ein "780 576 Quadratkilometer großes Kopftuch", dessen Adoption durch die EU ein "Projekt der europäischen Aufklärung" sei. Das Risiko, "dass die Türkei sich abwendet von Europa, dass ein aggressiver Islamismus Raum greift" und sich das Land "neu ausrichtet, Richtung arabische Welt" sei eine "Horrorvorstellung". Wie Angela Merkel zu glauben, man könne die Türkei "als Puffer zwischen Europa und den Nahen Osten schieben" sei "politisch naiv". "Es gibt für die Türkei den Weg nach Europa - oder den Weg von Europa weg. Tertium non datur. Der Weg weg von Europa ist für Deutschland und Europa der viel gefährlichere."

In einem historisch ausholenden Artikel beobachtet Christina Jostmann, wie derzeit Spanien sein Verhältnis zum Islam überdenkt. "Die Verachtung gegenüber den 'Moros', den Mauren ist uralt, nach den Anschlägen hat das Misstrauen noch zugenommen. Das ist schlecht, denn durch den ökonomischen Aufschwung der letzten Jahre ist Spanien von einer Nation von Emigranten zum Einwanderungsland geworden." Als Konsequenz aus den Attentaten werde der "Wildwuchs" der islamischen Gebetshäuser als Problem betrachtet, und ein neues Gesetz sieht künftig "ein obligatorisches Register der Moscheen und die Kontrolle der Imame " vor.

Aus Cannes berichtet Tobias Kniebe von Emir Kusrurica, Atiq Rahimi und Michael Moores Schatten. Jürgen Otten informiert über die Kündigungsdrohung des Generalmusikdirektors der Deutschen Oper Berlin Christian Thielemann, der es nicht mehr mit ansehen mag, dass sein Haus gegenüber der Staatsoper Unter den Linden finanziell benachteiligt bleibt. Joachim Sartorius stellt ein Gedicht von Wolfgang Kubin vor. Und auf der Medienseite eröffnet Klaus Harpprecht mit einem Appell an gesteigerte Ansprüche eine lose Textreihe zur aktuellen Lage des Journalismus, genauer des Qualitätsjournalismus in Zeiten "veränderter Erlösströme" ("Not lehrt beten, aber schreiben lehrt sie selten").

Besprochen werden eine Werkschau des Fotografen Henri Cartier-Bresson im Berliner Martin Gropius-Bau, eine Inszenierung von Lothar Trolles Stück "Hermes in der Stadt" an den Münchner Kammerspielen, die Uraufführung von von Ou Xiao-songs Oper "Versuchung" bei der Münchener Biennale, ein Berliner Konzert der Beastie Boys, dessen Besucher durchweg männlich und "alle ziemlich genau 33,3 Jahre alt" waren. Und in seiner Besprechung von "Troja" lässt Joachim Latacz, Professor für Griechische Philologie in Basel, Wolfgang Petersens "Neudeutung" der Geschichte außerordentlich gut wegkommen - das habe bereits Homer getan. Lediglich dass Petersen Agamemnon "schon vor Troja sterben lässt", findet er "schwer verzeihlich". Der hatte das in einem SZ-Interview von Dienstag(mehr hier) bereits befürchtet.

In der Wochenendbeilage wundert sich Tom Schimmeck über den analogen Retro-Soundtrend mit Röhren-Mikro, Hammondorgel und Hohner-Clavinet. In einem wunderbaren Text porträtiert Holger Liebs die Casa Malaparte auf Capri, die einem Haltung angesichts des Abgrunds lehre. Zu lesen sind schließlich das sechste und siebte russische Lesebuch von Wladimir Tutschkow ("Der Retter der Taiga") und ein Interview mit dem Yoga-Meister Anthony Lobo über Atmen. Und im "Fragebogen" erklärt Funny van Dannen (mehr hier) wie er sich die Hölle vorstellt: "Ich und Campino im Bayern-Fan-Block."

Rezensierte Bücher: Harold James' "Geschichte Europas im 20. Jahrhundert", ein Hörbuch von F.W. Bernstein, eine Auswahl von Elmar Kraushaars taz-Wahrheit-Kolumnen "Der homosexuelle Mann ..." und ausdrücklich gelobt wird Karsten Kredel für seine Übersetzung von DBC Pierres Roman "Jesus von Texas". (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).