Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.06.2004. Die NZZ begeistert sich für den australischen Autor Tim Winton. In der FAZ macht sich der Ökonom Joachim Starbatty Sorgen: Unsere Bevölkerungspyramide wird zur Urne. In der FR beklagt der israelische Historiker Reuven Moskovitz, dass die israelische Regierung den Holocaust für gegenwärtige Zwecke missbrauche. Die taz will keinen Intellektuellen fürs große Ganze mehr. Die SZ druckt Jorge Sempruns Preisrede auf Daniela Dahn, die auch eine auf Ludwig Börne war.

NZZ, 07.06.2004

Erstaunlich inhaltsreich für so einen routinemäßigen Montag präsentiert sich heute die NZZ. Udo Taubitz besucht den australischen Autor Tim Winton, der sich gerade in Deutschland auf Lesereise befindet, in einem Nürnberger Hotel, und er feiert Wintons Roman "Der singende Baum" (den noch keine der von uns ausgewerteten Zeitungen besprochen hat) als "Meisterwerk": "Tim Winton ist berühmt für seine Naturliebe; der eigentliche Held in fast all seinen Geschichten ist die australische Landschaft. Auch in seinem neuen Roman, 'Der singende Baum', macht er Land und Küste geradezu greifbar... 'Der singende Baum' ist vordergründig eine Liebesgeschichte zwischen einer Fischersfrau - internetsüchtig, versoffen, einsam - und einem Hummerwilderer, der scheinbar nichts mehr zu verlieren hat. An ihrer unwahrscheinlichen Liebe richten sich die beiden wieder auf. Aber dieses Buch ist auch ein Action-Roman a la Hemingway: tauchen am Great-Barrier-Riff, in Höhlen hausen, Hornhechte angeln, lange Fußmärsche durch roten Staub und Spinifexgras..." (Eine Leseprobe auf deutsch hier, und ein Auszug auf englisch hier.)

Weitere Artikel: Sieglinde Geisel konstatiert, dass die Gender Studies an der populären und populärwissenschaftlich unters Volk gestreuten Wahrnehmung spurlos vorübergingen - hier ist unser Einparkvermögen allein durch die Gene und unsere Prähistorie zu erklären. Peter W. Jansen erinnert an Ronald Reagan als Schauspieler. Nick Liebman schreibt zum Tod des Sopransaxofonisten Steve Lacy (mehr hier). Claudia Schwartz berichtet von der Eröffnung von Helmut Newtons Fotosammlung in Berlin. Außerdem schickt die Anthropologin Bettina von Lintig einen ganzseitigen Essay über die Aktualität der Hexerei in Kamerun.

Besprochen werden eine Dramatisierung von Houellebecqs "Elementarteilchen" in Zürich und ein Konzert des Balthasar-Neumann-Chors beim Feldkirch-Festival.

Die NZZ präsentiert heute auch ihre "Planen-Bauen-Wohnen"-Seite (das ist ja fast so hübsch wie Bothos Strauss' "Wohnen Dämmern Lügen"!) Hubertus Adam stellt hier neue Bauten von Souto de Moura in Braga und Porto vor. Roman Hollenstein berichtet von der Verleihung des Brick Awards für europäische Ziegelarchitektur, der vom weltgrößten Ziegelhersteller, der österreichischen Firma Wienerberger, gestiftet wurde. Der erste Preis ging an den Prager Architekten Josef Pleskot für seinen Fußgängertunnel, der beide Teile des Hirschgrabens auf der Prager Burg verbindet. In der Reihe "Junge Schweizer Architekten" widmet sich J. Christoph Bürkle neuen Bauten und Projekten der Gruppe GIM Architekten aus Bern. Und Olivier Aebischer besucht eine Klinik von Devanthery & Lamuniere in Yverdon.

FAZ, 07.06.2004

Unsere Bevölkerungspyramide verformt sich zur Urne, mahnt Joachim Starbatty (Professor für Ökonomie in Tübingen - hier zu seiner Homepage - und Vorsitzender der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft) und erklärt, welche finanzielle Schieflage sich in der Zukunft daraus ergeben wird. Wie also "sichern wir, dass der Staat über genügend Einkünfte verfügt, um die Ansprüche derjenigen zu erfüllen, die heute einzahlen und morgen auf die Einlösung ihrer Ansprüche pochen? Die ökonomische Antwort lautet: Je Arbeitsplatz müssen jetzt und in Zukunft genügend Überschüsse erwirtschaftet werden, um aus ihnen die Kosten für den Unterhalt einer älter werdenden Gesellschaft zu bestreiten; entscheidend sind also die Produktivität und die Zahl der Arbeitsplätze. Das Beruhigende ist also, dass die Lösung des Problems in unserer Hand liegt, das Beunruhigende, dass viele die Lösung für bedrohlicher als das Problem halten. Wenn es auf die Überschüsse und die Zahl der Arbeitsplätze ankommt, so ergeben sich daraus drei grundsätzliche Aktionsfelder: Wochen- und Lebensarbeitszeit, Geburtenrate und Zuwanderung."

Gerhard Stadelmaier wurde an der Garderobe Zeuge einer Unterhaltung - nach der Premiere von Kleists "Familie Schroffenstein" im Schauspiel Köln -, bei der sich die Beteiligten scheinbar erst einmal vergewissern mussten, was sie da gesehen hatten. "Der ältere Er: 'Im Schauspielführer steht, es gehe um zwei Zweige einer verfeindeten Familie, die gegenseitig ihre Kinder töten, Cousin und Cousine, die sich lieben und die Kleider tauschen, so dass der Bub wie ein Mädchen und das Mädchen wie ein Bub ausschaut und der eine Papa meint, er töte die Tochter des anderen, wobei er den eigenen Sohn, der sich ja als Mädchen verkleidet hatte, tötet, und dem anderen Papa geht's ähnlich, nur umgekehrt.' Die ältere Sie: 'Gute Güte! Was für ein Stoff! Toll! Hätte mich interessiert!' Der jüngere Er: 'Ja, komisch, hier lagen die beiden Kinder ja völlig unverkleidet und unermordet rum und haben auf dieser schrecklichen schrägen Holzfläche gepennt und mussten weiterleben, und die Alten trugen Ritterrüstungen zu Jeans und Stöckelschuhen und standen dumm rum.' "

Auf der Medienseite schließt sich Frank Kaspar denjenigen an, die der Ansicht sind, das neue Format des Berliner Kulturradios degradiere Kultur zum "Wellness-Faktor". Auch die Berliner Akademie der Künste habe auf die Programmreform mit scharfer Kritik reagiert und sich das Quoten-Argument verboten: "Die Sender müßten sich fragen lassen, ob sie 'Politik nach Umfragen' machten oder nach eigenen Zielen ausrichteten, 'damit sich Umfragen ändern', sagte der Künstler Klaus Staeck, einer der Initiatoren der Debatte."

Weitere Artikel: Im Politikteil nimmt Berthold Kohler Gerhard Schröders Äußerung ins Visier, die Nachkriegszeit sei mit seiner Einladung zu den D-Day-Feierlichkeiten nun endgültig vorbei ("Schließlich galt in Deutschland bislang, dass Geschichte niemals 'vorbei' sei, insbesondere die deutsche nicht"). In einer Art Nachruf auf den verstorbenen Ronald Reagan erklärt Jordan Mejias, dass George Bush Reagans konservatives Erbe verraten hat. Eleonore Büning fragt sich anlässlich des Rückziehers von Lars von Trier als diesjähriger "Ring"-Regisseur, ob der Bayreuther "Ring" sich nicht längst überlebt hat. Wie Tobias Döring weiß, veröffentlichte der indische Schriftsteller Dom Moraes schon mit 22 Jahren seine Memoiren, starb aber erst jetzt, mit 65. Andreas Rossmann freut sich über die Eröffnung des neuen und zugleich altehrwürdigen Baus der Essener Philharmonie. Und Volker Weidermann erzählt, wie Bundespräsident Rau Walter Kempowski besucht hat.

Außerdem wird gemeldet, dass die Zukunft des NS-Dokumentationszentrums "Topographie des Terrors" (hier) in Berlin auf einem öffentlichen Symposion geklärt werden soll, dass der Filmregisseur und Berlinale-Gewinner Fatih Akin ("Gegen die Wand") einen "medialen Rassismus" in deutschen Zeitungen beklagt, und dass der Schauspieler Rolf Moebius gestorben ist.

Besprochen werden die deutsche Erstaufführung von Giovanni Paisiellos Oper "Re Teodoro" bei den Schwetzinger Festspielen, Elmar Goerdens radikale Inszenierung von Goethes "Clavigo" im Münchner Haus der Kunst, die sächsische Landesaustellung "Glaube und Macht" in Torgau, die Ernst-Ludwig-Kirchner-Ausstellung im Berliner Kupferstichkabinett, John Junkermanns Film "Power and Terror: Noam Chomsky - Gespräche nach 9/11", das Gospelpop-Konzert der Cowboy Junkies in Frankfurt, und Bücher - die chinesische Großstadt-Anthologie "Das Leben ist jetzt", Jasper Ffordes irrwitziger Roman "Der Fall Jane Eyre", Georg Simmels kritische und hochgelobte "Schulpädagogik", Felix Hausdorffs "Philosophisches Werk" und verschiedene Bücher zum Massaker von Oradour.

FR, 07.06.2004

Der Holocaust wird von der israelischen Regierung dazu benutzt, sich gegen jede Kritik am gegenwärtigen Gebahren zu immunisieren, beklagt der israelische Historiker Reuven Moskovitz in einem Beitrag auf der Dokumentationsseite. Hierzulande wiederum entzieht man sich bereitwillig der kritischen Verantwortung: "Man kann sich in Deutschland die Hände in Unschuld waschen und das abgedroschene Mantra wiederholen: 'Was können wir schon tun - mit unserer Vergangenheit?' Die Bush/Sharon-Achse aber arbeitet, und das sehr wirksam: Der neue dreiste Coup heißt 'einseitiger Rückzug aus Gaza'. Er fegt alle UN-Beschlüsse samt der 'Roadmap' in den Papierkorb. Mehr als drei Millionen Palästinenser werden in einen riesigen Käfig eingesperrt, mit Sicherheit aber nicht der Terror."

Die Ära Christoph Marthalers in Zürich geht zu Ende, wie Peter Michalzik erst wieder klar wird, als er Johan Simons' ernste Aufführung der "Elementarteilchen" in Zürich verfolgt. Im Feuilleton riskiert er einen Blick zurück: "Hier fanden markante Schauspielerpersönlichkeiten, visionäre Regie und dramaturgische Intelligenz zueinander. Hier konnte man in einzigartiger Form erleben, was es ohnehin nur im Theater gibt: das gemeinsame Gedeihen schön-kreativer, traurig-fröhlicher Menschen, Elementarteilchen als Teil einer höheren Einheit."

Weiteres: Christoph Schröder würdigt die Publizistin Daniela Dahn (mehr), die in der Frankfurter Paulskirche mit dem Ludwig-Börne-Preis bedacht wurde. So schlecht war Ronald Reagan auch als und vor allem als Schauspieler nicht, behauptet Daniel Kothenschulte in Times mager. Und Karl Gobe stellt versteckt im Politikteil den merkwürdigen tschetschenischen Club Terek Grosny vor, der nie im eigenen Stadion antritt, aber russischer Fußball-Pokalsieger geworden ist, und zwar durch den Treffer eines Russen.

Besprochen werden die "seltsam ferne" Aufführung von Hans Werner Henzes "Elegie für junge Liebende" an der Berliner Staatsoper und politische Bücher, nämlich "Weiß auf Schwarz" die Lebensbericht des behinderten Schriftstellers Ruben Gonzalez Gallego, ein "brauchbares" Handbuch über "Sexualisierte Kriegsgewalt" von medica mondiale, sowie Ulrike Thimmes Erinnerung an ihren Sohn "Eine Bombe für die RAF".

TAZ, 07.06.2004

Dirk Knipphals versucht sich an einer Standortbestimmung des kritischen Intellektuellen. Universalgelehrte sterben aus. "Keine intellektuelle Karriere kann sich noch auf einen Einspruch gegen das große Ganze gründen; das öffentliche Bild vom kritischen Intellektuellen ist aber noch nicht mitgekommen und verlangt immer noch vor allem diesen Einspruch, und das seit dem Bush-Wahlsieg und seit dem Irakkrieg sogar wieder vermehrt."

In der zweiten taz veranlasst der behäbige Auftakt der Christopher-Street-Day-Saison in Hamburg Jan Feddersen originellerweise zu der Beobachtung, dass Homosexelle eben noch nicht gesellschaftsfähig sind. Auf der Medienseite berichten Adrienne Woltersdorf und Steffen Grimberg von der rechtsextremen Unterwanderung des DJV Berlin. Und Silke Burmester verabschiedet im Meinungsteil die heruntergewirtschaftete und jetzt eingestellte Frauenzeitschrift Allegra.

Ansonsten frönt die taz dem klassischen Rezensionsfeuilleton: Besprochen werden eine Schau junger russischer Spaßkunst in Baden-Baden, die beiden Ausstellungen "Us and Them" und "Sex and Landscapes", mit denen sich die Helmut-Newton-Stiftung in den neuen Räumlichkeiten in Berlin präsentiert, die theatrale Installation (oho!) der Theatergruppe Rimini Protokoll "Weil der Himmel uns braucht: Brunswick Airport" beim 7. Festival Theaterformen in Braunschweig sowie Richard Pearces Dokumentarfilm "The Road to Memphis", in dem Blues-Größen über die selige Vergangenheit berichten.

Schließlich Tom.

SZ, 07.06.2004

Die Publizistin Daniela Dahn erhält den Ludwig-Börne-Preis, und Laudator Jorge Semprun (mehr) nutzt seine - in der SZ komplett abgedruckte - Rede zu einer persönlichen Hymne an den großen Namensgeber. Dessen "Aktualität und Modernität ergeben sich aus einer existentiellen Haltung, sie sind gleichsam Begleitphänomene von Börnes Lebensmethode: Die bestand in der entschlossenen Respektlosigkeit, in der kreativen, kraftspendenden Respektlosigkeit gegenüber jeglichem Konformismus. In den 'Briefen aus Paris' schrieb Börne über den Zeitgenossen in Weimar: 'Seit ich fühle, habe ich Goethe gehasst, seit ich denke, weiß ich warum.'" Börnes Kollegin Franziska Augstein fasst im Gegenzug die Dankesrede Daniela Dahns zusammen, in der diese ganz aktuell den "asozialen Reichtum als Billionengrab" anprangerte. "So hat man sich in manchen Kreisen die diesjährige Börne-Preisträgerin vorgestellt, weshalb einige Friedhofsgärtner, die sonst in der Paulskirche anzutreffen sind, der Preisverleihung diesmal ferngeblieben waren."

Dem Schriftsteller Richard Powers fällt im Kurzinterview wenig Lobenswertes zu Ronald Reagan ein: "In seine Amtszeit fallen zahlreiche internationale Abenteuer, die alle geeignet waren, das internationale Vertrauen in die Vereinigten Staaten zu erschüttern. Er führte verborgene Kriege in El Salvador, gegen Nicaragua und Angola. Er ließ das Militär in Grenada einmarschieren - was man aus heutiger Sicht für ein Modell des Irakkriegs halten könnte."

Im Feuilletonaufmacher sieht Reinhard J. Brembeck den Verantwortlichen für Lars von Triers Bayreuth-Absage in Wolfgang Wagner mit seinen unausgereiften Entscheidungen. Willi Winkler begleitet Bundespräsident Rau bei seinem Geburtstagsbesuch des Schriftstellers Walter Kempowski. "Es gibt Hochzeitssuppe, bunte Fischplatten und zum Nachtisch Eis." Ira Mazzoni bewundert das restaurierte Pergamon-Fries auf der Berliner Museumsinsel. Zu "bürgerlich, durchsichtig" findet Michael Struck-Schloen die Eröffnung der Essener Philharmonie durch Stefan Soltesz und seine Philharmoniker. Fritz Göttler macht einen auf "Taxidriver" und entspannt beim Movieoke im New Yorker Two Boot Videoshop.

"Dürfen wir die Bücher wirklich alle lesen?" Henrik Bork bekommt die halbe dritte Seite, um von der Eröffnung der Bibliothek des Goethe-Instituts in Nordkorea zu berichten. Auf der Medienseite erfahren wir von Christiane Kögel und Lutz Hachmeister außerdem, dass sich Johannes Rau und Horst Köhler medientechnisch in Hörfunkfreund und Fernsehpräsident aufteilen lassen.

Besprochen werden John Junkermans Dokumentarfilm "Power and Terror - Noam Chomsky in our times", Elmar Goerdens Inszenierung des "Clavigo" im Münchner Haus der Kunst als "musikalisch flankiertes Sitzduell", und etliche Bücher, darunter der sechste Band der Jean-Amery-Werkausgabe mit den Aufsätzen zur Philosophie, Paul Raabes Erinnerungen an "Mein expressionistisches Jahrzehnt", und ein paar politische Bücher zur EU wie Andreas Wehrs Bilanz der Verfassungsdebatte "Europa ohne Demokratie" oder Thomas Meyers Diskussion über "Die Identität Europas" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).