Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.11.2004. Die FAZ bläst der Santa Muerte den Rauch einer Zigarettte ins Gesicht. Die NZZ findet Iranerinnen unter dem Kopftuch sexy. In der SZ fürchtet die ukrainische Autorin Oksana Sabuschko einen militärischen Eingriff Russlands in Kiew. Und in der FR fordert der Theologe Christian Engelbrecht, dass die Moslems in Deutschland Kirchensteuer abbekommen.

NZZ, 29.11.2004

Die islamische Kleiderordnung schützt die Werte der muslimischen Frauen, konnte Susanne Ostwald bei ihrer Ankunft am Flughafen von Teheran auf einem Schild lesen - finsterer Zynismus? Nicht ganz, denn die Frauen, die ihr in der iranischen Metropole begegnet sind, waren überraschend selbstbewusst, forsch und vor allem äußerst modisch gekleidet. "Zu sagen, dass die iranischen Frauen das Beste aus den ihnen auferlegten Kleiderregeln machen, wäre eine wenig schmeichelhafte Untertreibung. Die Natur hat sie großzügig mit Reizen bedacht, und sie verstehen sie zu zeigen. Das Kopftuch rutscht immer weiter nach hinten und der Saum des obligatorischen Mantels immer weiter nach oben - schon lange bedeckt er nicht mehr jedes Knie, wie es eigentlich Vorschrift wäre. Knackige Jeans unter hautengen Überkleidern sind keineswegs selten, zur Freude der Männer, die kein Hehl aus ihrer Schaulust machen."

In weiteren Artikeln wird wieder eifrig besprochen: Barbara Villiger Heilig hat Liz Taylor und Paul Newmann keine Sekunde lang vermisst, als sie am Wiener Burgtheater Andrea Breths "Die Katze auf dem heißen Blechdach" gesehen hat. Als "großen Theaterabend" hat Alfred Zimmerlin die Uraufführung der neuen Oper von Peter Eötvös in Paris erlebt. Ferner werden Ibsens "Gespenster" am Theater Basel, ein Gastspiel der Musica Antiqua Köln in Zürich und eine Ausstellung zur vielfältigen chinesischen Literatenkunst im Musee Rath in Genf rezensiert.

Schließlich schreibt Peter W. Jansen zum Tod des "Nouvelle Blague"-Regisseurs de Broca: "Man könnte sogar sagen, dass Philippe de Broca sein Talent dem Publikum geopfert hat. Was kann man Schöneres über einen Toten sagen?" Und dann wird noch gemeldet, dass der Schweizer Dachverband des professionellen Tanzes, "Danse Suisse", in einem Manifest eine Mindestentlohnung für seine Tanzenden festgelegt hat.

FAZ, 29.11.2004

Zwei große Städte stehen heute im Rampenlicht dieser Zeitung, Köln und Mexiko-Stadt.

Köln vergleicht sich als Kulturstadt mit London, Paris und New York und fällt dabei munter hinter Düsseldorf zurück, schreibt Andreas Rossmann im Aufmacher. Rossmann beschreibt die chaotische Lokalpolitik, wo die Parteien nicht mal wissen, mit welchen anderen Parteien sie Koalitionen bilden sollen, und fürchtet, dass man hier gar keinen neuen Kulturdezernenten finden kann: "Wer die hier erwarteten Fähigkeiten mitbringt, dürfte andere Möglichkeiten haben, als dass ihm die Aussicht, sich mit der cliquenreichen Kölner Kommunalpolitik herumschlagen zu müssen, attraktiv erscheint."

Mexiko-Stadt dagegen birst vor kulturellen Neuerungen. Zum Beispiel ist seit drei Jahren der schon länger praktizierte Kult der Santa Muerte auch öffentlich erlaubt. Dabei handelt es sich um eine Skelettfigur im Brautkleid (Bild), die alle möglichen Wunder vollbringt. Dominik Finkelde besucht einen ihr gewidmeten Schrein: "In Lebensgröße steht die Ikone der Santa Muerte hinter der großen Fensterscheibe. Sie trägt ein weißes Brautkleid, das vom Kopf bis zu den Füßen reicht. Eine knöcherne Hand streckt sich dem Besucher entgegen, und dichtes Haar umhüllt den Totenschädel, der unter dem Brautschleier herausragt wie eine Fratze. Der Brauch schreibt vor, den Rauch einer Zigarette der Heiligen direkt ins Gesicht zu blasen und die angesteckte Zigarette in Aschenbechern vor dem Schrein wie Aromastäbchen verglimmen zu lassen."

Weitere Artikel: Christian Schwägerl nutzt die Leitglosse, um in einer fiktiven Stellenausschreibung die missliche Lage des Berliner Naturkundemuseums darzustellen, eines der größten kulturellen Schätze der Stadt, der unbemerkt verfällt. Heinrich Wefing resümiert einen hochrangig besetzten Kongress in Berlin, der Europa durch Kultur eine Seele geben wollte. Andreas Kilb schreibt den Nachruf auf den französischen Filmregisseur Philippe de Broca. Caroline Neubaur berichtet über die die Herbsttagung der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung.

Auf der Medienseite resümiert Henrike Rossbach das Fernsehfestival von Baden-Baden. Und Heike Hupertz hat sich eine neue Nibelungen-Verfilmung auf Sat 1 angesehen.

Auf der letzten Seite berichtet Mark Siemons über eine Lesung Andreas Maiers in Potsdam, wo sich die Affäre um die Potsdamer Stadtschreiberehre des Autors in Gelächter auflöste. Und Gerhard Rohde schreibt eine Hommage auf den Komponisten und Klarinettisten Jörg Widmann, dem gerade der Schönberg-Preis zugesprochen wurde.

Besprochen werden ein Gastspiel des Kirow-Balletts aus Sankt Petersburg in Berlin, "Die Katze auf dem heißen Blechdach", Inszeniert von Andrea Breth in Wien, ein Auftritt der schwedischen Rockgruppe The Soundtrack of Our Lives in Heidelberg, "Hedda Gabler" in Stephan Kimmigs Inszenierung in Hamburg, neue Arbeiten des Malers Norbert Tadeusz im Koblenzer Ludwig Museum und einige Sachbücher (sieh unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

FR, 29.11.2004


"Beifall für alle Beteiligten" spendet Peter Iden nach Andrea Breths Inszenierung von Tennessee Williams' "Die Katze auf dem heißen Blechdach" am Wiener Burgtheater: "Das geduldige Interesse Andrea Breths an Menschen und daran, wie die Dichter von ihnen erzählen, verführt die Schauspieler, mit denen sie arbeitet, zu den erstaunlichsten Entdeckungen."

Weitere Artikel: Der Theologe Christian Engelbrecht fordert eine Reform des "antiquierten" Staatskirchenrechts um die Muslime besser zu integrieren. Daniel Kothenschulte schreibt zum Tod des französischen Regisseurs Philippe de Broca. Angelika Brecht-Levy verrät, dass die Schweizer Autorin Verena Wyss für ihren noch nicht veröffentlichten Roman "Die Gärtnerin" den Frauen-Krimi-Preis 2004 erhalten hat. Auf der Medienseite kann Bettina Schuler über Uli Edels Nibelungen-Zweiteiler nur müde lächeln. "Die Lacher erntet Edel nicht für die gut gesetzten Pointen, sondern für die Banalität der Dialoge."

Besprochen werden eine Ausstellung über die "Verhältnisse von Kulturproduktion und Stadtentwicklung" in den Berliner Kunst-Werken, und Frankfurter Kultur, Robert Wilsons "auf Hochglanz polierte" Choreografie "2 lips and dancers and space" im Bockenheimer Depot, Udo Samels Version von Schuberts "Schwanengesang" in den Kammerspielen, ein Auftritt von Boubacar Traore, Meister des Mali-Blues, das Musical "Cabaret" inszeniert von Matthew White im English Theatre sowie Joseph Haydns Oratorium "Schöpfung" mit der Chorgemeinschaft Neubeuern in der Alten Oper.

Welt, 29.11.2004

In seinem holländischen Tagebuch schreibt der Schriftsteller Leon de Winter: "In den Niederlanden sind Anstandsregeln in der politischen Debatte praktisch passe. Das haben wir zu einem großen Teil Theo van Gogh zu verdanken. Mit öffentlicher Zurückhaltung und gesellschaftlicher Heuchelei, zwei Prämissen für ein pflegliches Miteinander, hat er gründlich aufgeräumt. Er wollte sagen, was er dachte, genau wie Pim Fortuyn. Das ist pubertär und sozial gefährlich... Nach seinem Tod wird van Gogh zum liberalen Helden, der er nicht war.Ein Glaubensfanatiker hat einen krankhaften Provokateur ermordet. Dasist alles irrsinnig vertrackt."

Der ukrainische Journalist Juri Durkot betont, dass das Land nicht so gespalten ist, wie die Anhänger der Regierung glauben machen wollen: "Das Klischee, dass die Ukraine durch den größten Fluss des Landes, den Dnjepr, in zwei antagonistische Regionen geteilt wird, ist zweifellos überholt. Die Opposition hat sogar laut offizieller Auszählung nicht nur in der West- und der Zentralukraine gewonnen, sondern auch im Nordosten und in einigen östlichen Regionen."

Und der Bundeswehr-Historiker Michael Wolffsohn, der nach seinen strittigen Äußerungen zur Folter von Verteidigungsminister Peter Struck zum Gespräch zitiert wurde, rächt sich nun nach den Vorgängen in Coesfeld mit einem ziemlich giftigen Kommentar: "Mich hatten der Minister und seine nachredenden, mitlaufenden Mitkämpfer- mein Nachdenken über mehr Opferschutz als Täterschutz absichtlich verfälschend und aufbauschend - zum Abschuss freigegeben. Die Quälerei eigener Bürger wird nun von denselben Akteuren verniedlicht."

TAZ, 29.11.2004

Gabriele Goettle lässt sich von der Leiterin des Frauenforschungs-, Bildungs- u. Informationszentrums FFBIZ Ursula Nienhaus unterhaltsam erzählen, wie es in den Siebzigern zur Gründung des Frauenarchivs kam: "Wir hatten von Anfang an den Wunsch, dass möglichst viele kontroverse Ansichten vertreten werden sollten, auch parteipolitische Richtlinien, und der Konfliktaustragung einen besonderen Stellenwert beigemessen. Es gab ja schon dieses Harmoniegedusel in der Frauenbewegung, diese Sucht nach Einigkeit und Nichtbeachtung der Macht- und Hierarchieverhältnisse, das wurde ja eher geleugnet als aktiv angegangen. Und wir hatten dann ja im FFBIZ Amerikanerinnen und Deutsche, Jüdinnen und Nichtjüdinnen, koreanische Krankenschwestern, Japanerinnen - die hatten ja mit uns eine ähnliche Faschismusgeschichte -, die waren teils als Krankenschwestern, teils als Studentinnen da, aber wir hatten keine Türkin. Die Türkinnen waren zu diesem Zeitpunkt alle Fabrikarbeiterinnen, und das FFBIZ hatte in seinen ganzen Anfangsjahren nie eine Arbeiterin. Aber insgesamt waren da eben Lesben und Heteros und Frauen der unterschiedlichsten Richtungen und Berufe, die haben fast alle das FFBIZ mitgegründet, Bildungsveranstaltungen gemacht usw. Oft war es außerordentlich ungemütlich, es gab Krawall, Konflikte, Auseinandersetzungen, das Frauenprojekt war ziemlich unbeliebt, aber wir haben versucht, das Beste daraus zu machen, es blieb uns ja gar nichts anderes übrig."

Weiteres: Auf den Tagesthemen-Seiten glaubt Gerhard Dilger, dass der Fund der Tagebücher des KZ-Arztes Josef Mengele in Brasilien eine Diskussion über die Rolle des Landes im Holocaust und in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg anregen könnte. Der Rabbiner Henry Sobel aus Sao Paulo plädiert im Interview für eine Öffnung der Archive zu allen im Land versteckten Nazis.

Peter Unfried schildert in der zweiten taz, wie ein paar tazler mit dem Plakat "Schwarzwaldbauern für Schavan" die Meinung der Freiburger Bevölkerung zu einer möglichen Ministerpräsidentin Annette Schavan eingeholt haben. Helmut Höge liest in den Berichten eines Biobauers über Jugendlieben und ausgebrochene Rindviecher. Steffen Grimberg ist auf der Medienseite nach dem Fernsehfilm-Festival Baden-Baden wenig feierlich zumute.

Und Tom.

SZ, 29.11.2004

Die ukrainische Schriftstellerin Oksana Sabuschko hofft, dass die demokratischen Regungen ihres Heimatlandes diesmal nicht ungehört verhallen. Denn trotz aller Euphorie sei noch nichts entschieden. "Mädchen schmücken die Schilder der Sicherheitskräfte mit Nelken und tanzen mit den Soldaten auf Lastwagen. Trotzdem darf man die kriegslustigen Scharfmacher natürlich nicht unterschätzen. Vor allem deshalb nicht, weil sich mit ukrainischen Uniformen getarnte, russische Spezialeinheiten in der Menge befinden. Man kennt diese Einheiten schon aus Tschetschenien. . . Es sieht ganz so aus, als hätte Putin für Kiew 2004 die alten Strategiepapiere wieder aus der Schublade gekramt, die 1968 in Prag als Vorlage dienten. Das ist für uns die Bedrohung."

Morgen vor fünfzig Jahren ist Wilhelm Furtwängler gestorben. Die SZ widmet dem Jahrestag eine eigene Seite: Der in Toronto lehrende Historiker und Autor Michael H. Kater beleuchtet Furtwänglers Verquickung mit dem NS-Regime: "1944 stellte Goebbels 'mit großer Freude' fest, dass Furtwängler, 'je schlechter es uns geht, sich um so enger an unser Regime anschließt'. Er sei 'ein aufrechter Patriot und warmherziger Anhänger und Verfechter unserer Politik und Kriegführung. Man braucht ihm heute nur einen Wunsch zur Kenntnis zu bringen, und er erfüllt ihn gleich.'"

Wolfgang Schreiber porträtiert den Dirigenten. Und Reinhard J. Brembeck erfährt vom Bariton Dietrich Fischer-Dieskau, wie es war, mit Furtwängler zusammenzuarbeiten ("... ich habe festgestellt, dass das Orchester und das Publikum in einer Art transformiert wurden, die schwer zu beschreiben ist, die bei anderen Dirigenten so nicht da war. In jeder Geste, in jedem Schritt vermutete man etwas Seelisches. Es war stets ehrlicher Ausdruck einer Person im Ganzen."). Im Netz eine deutsche Biografie und die Seite der französischen Furtwängler-Gesellschaft.

Weitere Artikel: Franziska Augstein war dabei, als man auf einem Kongress in Berlin versuchte, Europa eine Seele zu geben. Fast hundert Referenten machten ebenso viel Vorschläge, wie das zu bewerkstelligen sei. Vor allem aber, so Gottfried Wagner, Generalsekretär der europäischen Kulturstiftung, brauche man Geld. "Derzeit, so Wagner, belaufe sich das Kulturbudget der EU auf sieben Cent pro Einwohner." (Einen Vortrag, den die Perlentaucherin Gabriella Gönczy bei dem Kongress hielt, finden Sie hier.) Wolfgang Schreiber berichtet über die prominenten Proteste gegen den Münchner Kulturabbau, der sich in der geplanten Abschaffung des br-Rundfunkorchesters manifestiert. Fritz Göttler schreibt zum Tod des Filmemachers Philippe de Broca und versteht nicht, warum die französische Filmförderung Jean-Pierre Jeunets neuen Streifen "Un long dimanche de fiançailles" als amerikanisch und deshalb nicht förderungswürdig ansieht. Auf der Medienseite rümpft Willi Winkler verächtlich die Nase über Uli Edels "Nibelungen", die für SAT1 nun zu einer "weltweit kompatiblen Schnurre" verkommen sind.

Besprochen werden die Aufführungen von Thomas Bernhards "Die Macht der Gewohnheit" und Tennessee Williams' "Katze auf dem heißen Blechdach" am Wiener Burgtheater ("Grobes Klamottentheater", schimpft Christopher Schmidt zu Andrea Breths Version von Williams' Stück, "und im Wort Klamotte haust ja auch die Motte".), eine Ausstellung im Medizinhistorischen Museum der Charite in Berlin über die Geschichte der Fitnessbewegung, und Bücher, darunter Volker Ullrichs "schmale, gelungene" Napoleon-Biografie, Das zweite "Schwarzbuch" über den Kommunismus sowie Wolf Jobst Siedlers Erinnerungen "Wir waren noch einmal davongekommen" als "fabelhafter Berlin-Roman" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).