Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.06.2005. Hundert Jahre Sartre: Die Berliner Zeitung erinnert daran, dass dieser Intellektuelle nicht nur Meinungen, sondern auch ein Werk hatte. Heinz Bude schildert in der SZ den Katzenjammer der Intellektuellen nach Sartres Feier der Revolte. Wolf Lepenies ist in der Welt nicht ganz sicher, ob Sartre tot oder lebendig ist. Der Tagesspiegel kommentiert Peter Handkes neuerliches Engagement für Milosevic in der neuen Nummer von Literaturen. In der NZZ beklagt Navid Kermani Wahlbetrug im Iran.

Berliner Zeitung, 21.06.2005

Arno Widmann schreibt zum hundertsten Geburtstag von Sartre: "Jean-Paul Sartre war kein Intellektueller. Sartre war einer der einflussreichsten Philosophen der Mitte des 20. Jahrhunderts, einer der meist gelesenen Romanautoren und ein überaus erfolgreicher Stückeschreiber. Wenn er sich zum Indochina-Krieg, zur Folter in Algerien, zu den Lagern in der Sowjetunion äußerte, dann tat er das als einer, der sich Achtung, Respekt, ja Liebe und Hass auf anderen Feldern als denen der bloßen Meinungsäußerung erworben hatte. Er war ein energischer Vertreter des Engagements, aber niemals dachte er auch nur im Entferntesten daran, das Engagement für die Sache selbst zu halten. Der Intellektuelle, wie wir ihn heute verstehen, dagegen ist jemand, der gerade kein Werk hat, sondern nur Meinungen."

Tagesspiegel, 21.06.2005

Im neuen Literaturen erklärt Peter Handke auf zwanzig Seiten, warum Slobodan Milosevic vor dem UN-Kriegsverbrecher-Tribunal in Den Haag keine höhere Gerechtigkeit zuteil wird und warum er, Handke, vor dem Gericht nicht als Zeuge für Milosevic aussagen wird. "Der Form nach eine Selbstrechtfertigung ... funktioniert der Text zugleich als Anklageschrift gegen die Welt mit viel Schaum vor dem Mund. Das ist seine Doppelstrategie: die Auseinandersetzung verweigern, aber sie bestimmen wollen. Posieren als Dichter, agieren als Journalist", kommentiert Gregor Dotzauer. Für ihn gehört Handke "nun endgültig zum 'dichterisch-militärischen Komplex'." (Mehr über Handkes Text hier.)

Welt, 21.06.2005

Der ehemalige französische Kulturminister Jack Lang empfiehlt im Interview den lieben Kollegen etwas weniger Arroganz. Sie sollten sich bemühen, von den Erfahrungen anderer Länder zu lernen. Auch von England? "Ja, warum nicht, auch wenn ich die Gesamtheit der britischen Politik nicht billige - vor allem beim Irak-Krieg. Doch muss man ehrlicherweise anerkennen, dass Blair den Öffentlichen Dienst verbessert und dort in wenigen Jahren fast eine Million neuer Stellen geschaffen hat. Darüber hinaus ist Blair sehr mutig, wenn er sich in seinem Land, wo Europa aus historischen und geografischen Gründen einen geringeren Stellenwert hat, als Europäer präsentiert. Ich rate somit gewissen französischen Politikern zu etwas mehr Bescheidenheit." Traurig stimmt Lang aber auch, "dass die große Mehrheit nicht das geringste Mitgefühl gegenüber den Ländern der Dritten Welt und anderen EU-Ländern gezeigt hat. Unsere Kampagne war eine einzige Nabelschau. Wir sprachen nur über uns, als lebten wir auf der Venus."

Und Wolf Lepenies fragt: "War Jean-Paul Sartre der 'größte Philosoph des 20. Jahrhunderts', wie seine Bewunderer behaupten? Oder wurde, wie ein Kollege spottete, sein philosophisches Hauptwerk, 'Das Sein und das Nichts', nur deshalb ein Erfolg, weil das Buch exakt ein Kilo wog und den Pariser Lebensmittelhändlern als Gewichtsersatz diente? Ich glaube weder das eine, noch das andere - wie ein Pariser Publizist im 17. Jahrhundert antwortete, als man ihn fragte, ob der Kardinal Mazarin tot oder noch am Leben sei. Man muss nicht alles von Sartre lesen, wie Bernard-Henri Levy fordert - aber man kann auf die Lektüre Sartres nicht verzichten, wenn man die Irrungen und Wirrungen der europäischen Intellektuellen im 20. Jahrhundert verstehen will."

NZZ, 21.06.2005

Für glatten Betrug hält Navid Kermani das iranische Wahlergebnis, dass den ultrakonservativen Ahmedinejad quasi aus dem Stegreif auf den zweiten Platz katapultiert hat: "Mit Mehdi Karrubi war es einem der dienstältesten Politiker der Islamischen Republik vorbehalten, am Samstagnachmittag erstmals öffentlich auszusprechen, was immer mehr Iraner dachten: dass sie betrogen worden sind, und zwar in großem Stile. In einer Pressekonferenz beschuldigte Karrubi den Wächterrat, das Militär und die Freiwilligenmiliz der Basidschis, die Wahlen zugunsten des radikalen Außenseiters manipuliert zu haben. Karrubi konkretisierte seine Vorwürfe zunächst nicht, sondern kündigte nur an, Beweise vorlegen zu können, Videoaufnahmen und abgehörte Gespräche. Dennoch war jedem Beobachter in Teheran klar, was Karrubi meinte. Mit eigenen Augen hatten viele Iraner gesehen, wie gegen Abend Wähler mit Bussen von Wahllokal zu Wahllokal gefahren wurden, um geschlossen zur Wahlurne zu gehen."

Weiteres: Alfred Zimmerlin berichtet vom Schweizer Tonkünstlerfest, das diesmal grenzübergreifend in Kreuzlingen und Konstanz stattfand. Besprochen werden der Auftakt zum Bruckner-Zyklus in der Tonhalle Zürich, Elizabeth Bowens Meisterwerk "Kalte Herzen" und Leander Scholz' Roman "Fünfzehn falsche Sekunden" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FR, 21.06.2005

Ina Hartwig befragt die aus Ungarn stammende Autorin Terezia Mora zum Konservatismus in ihrer Generation, der Mora eindeutig "Unbehagen" bereitet. Sie sei "mehr als einmal geschockt" gewesen von der konservativen Einstellung ihrer Altersgenossen, gesteht Mora. Wenn man wie sie "aus einem äußerst repressiven System" und einer "sehr traditionalistischen Umgebung" stamme, von Mora mit dem schönen Begriff des "k.u.k.-Kommunismus und Katholizismus" belegt, sei man diesbezüglich misstrauisch. Einen Grund für den Konservatismus auch bei jüngeren Leuten sieht Mora in einer enttäuschten Haltung oder empfundenen Machtlosigkeit gegenüber den Medien. Die Menschen verspürten ein Bedürfnis nach kleinen Strukturen: "Die Ordnung soll konserviert werden - was so viel heißt wie: mindestens zwei Autos für uns und maximal zwei Kinder für eine Frau in Pakistan."

Martina Meister greift in der Kolumne "Times Mager" den alten Streit Aron-Sartre auf: Lange galt in Frankreich das Diktum, schreibt sie: "Lieber mit Sartre irren als mit Aron Recht behalten." Heute sei Aron zwar moralisch im Recht, doch Sartre nach wie vor die schillerndere Figur, derjenige, an dem man sich eben - mit allen Irrtümern - reiben könne.

Ansonsten großes Besprechungs-Feuilleton: Klaus Jungheinrich bejubelt die "Jenufa"-Premiere an der Frankfurter Oper und Nikolaus Merck bespricht Dimiter Gotscheffs Berliner Inszenierung der "Wienerwaldgeschichten" mit Fritzi Haberlandt als "geborenem Opfer". Anneke Bokern bespricht einen Band über den neuen Traditionalismus in der niederländischen Architektur.

TAZ, 21.06.2005

Tobias Rapp hat sich beim Sonar-Festival in Barcelona die Band LCD Soundsystem angehört und staunt, dass auch "referenzgespickte, genuine Bescheidwissermusik ... im Stadionformat funktionieren" kann. Als Neuentdeckung stellt er Hot Chip aus England vor: fünf Jungs, die aussehen, als hätte ein verrückter Wissenschaftler bei dem Versuch, eine Boyband zu klonen, aus Versehen die falschen Zutaten benutzt und statt der fünf Schönlinge seien fünf Nerds den Reagenzgläsern entstiegen." Sie spielen, "als würden sich die Beach Boys mit der Human League und den Neptunes zum Tee treffen", so Rapp.

Dirk Baecker belehrt uns, dass man "Neoliberalismus und Marktstaatlichkeit gar nicht gegeneinander ausspielen" kann. In Wirklichkeit seien beide aufeinander angewiesen, aber "fatalerweise funktioniert diese Balance zwischen Neoliberalismus und Wohlfahrtsstaat nur dann, wenn es einen zweiten Arbeitsmarkt gibt."

In der tazzwei meint Christian Schneider, die "scheinbar banale Meldung, dass der (Bundes-)Präsident eine verfassungskonforme Entscheidung treffen wird", habe einen "leicht unheimlichen Unterton. Der Wunsch nach dem Gegenteil hat sich längst klammheimlich an die Stammtische herangeschlichen. Nein, es ist nicht der altbekannte rechte Ruf nach dem 'starken Mann', der den gordischen Knoten einfach durchschlagen wird. Aber der Wunsch nach souveräner Entscheidung jenseits des Parteiengerangels gewinnt zunehmend an Boden."

Besprochen wird die Aufführung des Klassikers "The Loss of Small Detail", mit dem die William Forsythe Company ihren Spiel- und Produktionsstandorts Dresden eröffnet hat.

Und Tom.

SZ, 21.06.2005

Christopher Schmidt wandelt durch Stuttgart, das ganz zum Festival "Theater der Welt" geworden ist. Es gibt nicht nur Dramen zu sehen. "6,4 Milliarden Reiskörner sind die Protagonisten von 'Of All the People in All the World' in einer Waggonhalle. Jedes Korn symbolisiert ein Menschenleben, 104 Tonnen Reis entsprechen der Weltbevölkerung. Die Performer von Stan's Cafe aus Birmingham versinnbildlichen statistisches Datenmaterial durch Reisberge. Der Erkenntnisgewinn ist erstaunlich. Die immer größeren Reisdünen führen einem das Wachstum der Weltbevölkerung in seiner ganzen Drastik vor Augen. Und die gleichzeitige Verknappung der Arbeit. Wie viele Heimatlose gibt es, und wie wenige Angestellte hat eine Firma wie Nokia. Wie groß ist die Anzahl palästinensischer Flüchtlinge, wie klein die israelische Bevölkerung. So viele Menschen, wie in Polen leben, essen an einem Tag weltweit Welt bei Mac Donald's. Wie Wenige über wie Viele herrschen; wer Macht hat, wer namenlos bleibt - so beeindruckend wurde das selten deutlich."

Hundert Jahre Sartre, eine Seite Sartre. Was unterscheidet uns von Jean-Paul, fragt der Soziologe Heinz Bude und entdeckt die Schule der nachholenden Skepsis, durch die er und all die anderen nachgeborenen Intellektuellen gegangen sind. "Wir misstrauen dem stellvertretenden Sprechen für die 'Unterdrückten und Beleidigten' wie der Resignation am gesellschaftlichen Ganzen. Wir haben erkannt, dass die andere Seite des Engagements eine kleinliche Melancholie der Selbstbewahrung ist. Der Intellektuelle kann allenfalls unter Berufung auf das, was er erforscht oder registriert hat, ein spezielles Wissen unter die Leute bringen, das die Dinge anders erscheinen lässt und den Zwängen der Sache einen Spielraum des Möglichen eröffnet. Engagement erscheint als narzisstisch, Kritik als dubios und Revolte als naiv."

Desweiteren gibt es kurze Kommentare zu Sartres Zeit in der Resistance, dem Wort "Barabum", Zeitgeist, Camus und "Nekrassov". Fritz Göttler erinnert an Sartres Ambitionen als Drehbuchschreiber, die Regisseur John Huston ablehnen musste. "Vier Stunden Ben Hur kann man machen, aber vier Stunden Psychokomplexe hält das texanische Publikum nicht aus." Neue Bücher zu Sartre gibt es hier.

Weitere Artikel: Gerhard Matzig rät der Kirche davon ab, mit Bikermessen und Seglergottesdiensten dem Zeitgeist hinterher zu hecheln." Dadurch betreiben sie auf einer formalen Ebene genau das, was Kirche eben nicht ausmacht - das Geschäft der Formlosigkeit." Michael Brenner plädiert für einen Verbleib der Judaistik in Frankfurt, in Kombination mit der neuen Professur zur Erforschung des Holocausts. Lisa Spitz liefert eine kleine Kulturgeschichte des Schaufensters, die in Deutschland erst 1830 ihren Anfang genommen hat. Evelyn Roll sympathisiert mit der lebensgroßen Adenauer-Skulptur auf dem Berliner Adenauerplatz. Im Medienteil stellt Willi Winkler Marcel Ophuls' recht unbekannten aber "meisterhaften" Dokumentarfilm "Nicht schuldig?" von 1973 vor. Claudia Tieschky erfährt vom scheidenden ZDF-Wettermann Uwe Wesp, dass gelegentliche Morddrohungen durchaus zum Geschäft gehören.

Besprochen werden zwei Picasso-Ausstellungen in Basel und Stuttgart, Klaus Michael Grübers Inszenierung von Leos Janaceks "Tagebuch eines Verschollenen" als Minioper bei den Wiener Festwochen, ein Auftritt des "rockigen" Tenors Rolando Villazãn im Münchner Herkulessaal, und Bücher, darunter Hans-Martin Schönherr-Manns "Sartre. Philosophie als Lebensform", Nicholas Cranes "anschauliches und reisefreudiges" Porträt des Kartografen Gerhard Mercator sowie Alessandro Bariccos Essays über Musiker und Philosophen "Sterben vor Lachen" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 21.06.2005

In Spanien lösen sich die Konservativen aus der Schockstarre, in die sie nach den Madrider Anschlägen durch den Verlust der Regierung Aznar versetzt worden waren. Dreimal hintereinander sind sie jetzt, mit Hermes-Schals gegen die Unbilden der Witterung geschützt, auf die Straße gegangen, um der Politik der jetzigen Regierung zu trotzen, schreibt Paul Ingendaay im Aufmacher: "Nach gut einem Jahr voller Groll und Benommenheit reiben sich jene, die in Aznars Spanien so sicher verankert schienen, die Augen und sehen die Welt anders. Wollen sie warten, bis sie wieder an der Macht sind? Oder sind sie bereit, sich auch außerhalb der parlamentarischen Arena bemerkbar zu machen, wie es der politische Gegner seit jeher tut? Vor die wenig verlockende Alternative gestellt, von einer gesellschaftlichen Entwicklung überrollt zu werden, die sie ablehnen, malen die konservativen Aktivisten Transparente, versenden E-Mails und schnüren die Schuhe."

Weitere Artikel: In der Leitglosse erinnert "Ri" daran, dass der Wechsel nicht mehr - wie einst vor 40 Jahren - auf Seiten jener Schriftsteller ist, die sich wahrscheinlich für einen Verbleib der Regierung Schröder engagieren werden. Übrigens wird gemeldet, dass Christa Wolff und Martin Walser, die vom Spiegel zu den Regierungstreuen gezählt wurden, bereits dementierten. In der Reihe über Verlegerinnen porträtiert Regina Mönch heute Katharina Wagenbach von der Friedenauer Presse. Harald Hartung gratuliert dem polnischen Dichterkollegen Adam Zagajewski zum Sechzigsten. In einem kleinen Interview scheidet der Sammler Harald Falckenberg die gute Kunst des Wiener Aktionisten Otto Muehl aus der Zeit vor seiner umstrittenen Kommune von der schlechten aus der Zeit danach - die gute Kunst zeigt der Sammler in den Hamburg-Harburger Phoenix-Fabrikhallen.

Auf der Medienseite resümiert Nina Rehfeld ein Treffen arabischer Journalisten von den Sendern Al Dschazira und Al Arabayia mit Kollegen von CNN in Atlanta. Christian Deutschmann stellt einige Features zu Sartre vor, die jetzt im Radio laufen. Kerstin Holm meldet, dass der Smolensker Journalist Nikolai Goschko für fünf Jahre ins Gefängnis gesteckt wird, weil er es wagte, den Mord an seinem Chefredakteur Sergej Nowikow dem Putin-Regime anzulasten.

Auf der letzten Seite liefert Andreas Rosenfelder eine atmosphärische Reportage aus einem amerikanischen Luftwaffenstützpunkt in der tiefsten Eifel. Andreas Platthaus besucht den Comicgarten in Berlin. Und Lorenz Jäger schildert seine jugendlichen Aha-Erlebnisse bei der Sartre-Lektüre, gegen die die Irrtümer des Philosophen nicht ins Gewicht fielen.

Besprochen werden die große Dschingis-Khan-Ausstellung in der Bundeskunsthalle, Janaceks "Jenufa" in Frankfurt und ein Auftritt der Soulband Morcheeba in Berlin.