Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.12.2005. Die SZ erklärt, wie der Kunstraub im Irak den Terror finanziert, und Andrzej Stasiuk erzählt eine kleine Geschichte der albanischen Stromversorgung. In der Welt erzählt Kenzaburo Oe, wie er einmal Mao Zedong begegnete. Die NZZ erzählt die Geschichte der "chin-il-pa", der Fraktion der koreanischen Bevölkerung, die einst mit Japan kollaborierte. Die FR beobachtet den Kampf der Opfer in Frankreich.

Welt, 14.12.2005

Wolf Lepenies hat sich in Tokio mit dem japanischen Literaturnobelpreisträger Kenzaburo Oe getroffen, der ihm auch erzählt, wie er mit 25 Jahren als Mitglied einer Schriftstellerdelegation Mao Zedong begegnete: "Mao sah niemanden von uns an, nur Tschu En-lai. Unentwegt redete er auf ihn ein. Wir sagten kein Wort. Mao rauchte eine Zigarette nach der anderen. Auf dem Tisch stand eine Zigarettendose der Marke 'Panda', das war die teuerste Zigarette, die es gab. Von Zeit zu Zeit versuchte Tschu, die Dose ein Stück weit wegzuschieben, damit der große Vorsitzende weniger rauchte. Dann griff Mao nach der Dose und zog sie wieder zu sich heran. Und rauchte ununterbrochen. Ich hatte Maos Schriften studiert, und auf einmal merkte ich, dass er sich mit Tschu En-lai nicht unterhielt, sondern pausenlos sich selbst, seine eigenen Werke zitierte. Und Tschu nickte nur dazu und sagte fast nichts. Plötzlich, nach einer Stunde vielleicht, hörte Mao zu reden auf, sah mich fest an und sagte, bevor er den Raum verließ, zu mir: 'Du bist jung, Du bist arm, Du bist völlig unbekannt. Du wirst ein guter Revolutionär!'"

Weiteres: Gerhard Gnauck wundert sich, wie wenig in Polen bisher über den Irakkrieg diskutiert wurde, selbst Andrzej Stasiuk habe seine entsprechenden Beiträge nur in deutschen Zeitungen veröffentlicht. Hanns-Georg Rodek meldet, dass das Kinopublikum immer älter wird. Und Stefan Keim berichtet vom Theaterfestival "Impulse". Dankwart Guratzsch setzt uns in Sachen Rechtschreibreform in Kenntnis der neuesten Beschlussvorlagen und Gerichtsurteile.

Besprochen werden die Ausstellung "Schlafzimmer" mit Fotografien von Herlinde Koebl im Frankfurter Museum für Kommunikation, das Album "Telegramm für X", mit dem sich Xavier Naidoo an die Spitze der deutschen Charts gesetzt hat, und VA Wölfls Tanzstück "Das Chrom und Du" in Düsseldorf.

Spiegel Online, 14.12.2005

Der grüne Politiker Cem Özdemir liest Dan Diners vielbesprochenes Buch "Versiegelte Zeit", das die Rückständigkeit der Islamischen Welt unter anderem mit dem Gewicht der sakralen arabischen Sprache erklärt: "Diners Betonung des Sakralen als Hindernis für die Modernisierung sollte keinesfalls so verstanden werden, als müsse der islamischen Welt von heute auf morgen die Religion ausgetrieben werden. Zu einem erfolgreichen demokratischen Gemeinwesen gehört die Minimierung des Einflusses des Sakralen, genau das ist in Europa im Gefolge der Aufklärung geschehen."

TAZ, 14.12.2005

Tobias Rapp hat den Untergang der Strokes beobachtet, die bei einem Konzert in Berlin ihr drittes Album vorstellten. "Es wird nicht reichen. 'First Impression of Earth' wird die Strokes nicht retten, wird nach ihrem gefloppten zweiten Album nicht noch einmal den Zauber ihres Debüts 'Is This It' entfachen. Ein Album reicht für die Unsterblichkeit, für die Karriere nicht. Das dritte muss es bringen. Sonst bist du weg vom Fenster. Nicht dass die Strokes unschuldig wären an einer Atmosphäre, die die Veröffentlichung ihres neuen Albums erwartet wie den Börsengang eines Lifestyle-Unternehmens - doch wie sie da so stehen auf der Bühne des kleinen Berliner Clubs Maria am Ostbahnhof für das einzige Deutschlandkonzert ihrer Promo-Europa-Kurztour: Man hatte ein wenig Mitleid. Was für einen Aufwand das auf einmal bedeutet, eine Aufregung zu erzeugen, die sich vor vier Jahren noch von allein ergab."

Weitere Artikel: Claudia Gass berichtet über das "chorische Prinzip", dem neuen "theatralischen Mittel der Stunde", das derzeit in der Produktion "Kirchenlieder. Ein Chorprojekt" von Ulrich Rasche am Stuttgarter Schauspiel wieder zur Anwendung kommt. In einer Glosse erklärt Uli Hannemann, warum Angst vor den Amerikanern berechtigt ist: Weil ihnen alles zuzutrauen sei.

Besprochen wird die Abschiedsausstellung "Parallele Welten" von Kurator Nicolaus Schafhausen im Frankfurter Kunstverein, der von dort ans Rotterdamer Witte de With wechselt.

Schließlich Tom.

NZZ, 14.12.2005

Hoo Nam Seelmann erzählt die faszinierende Geschichte der "chin-il-pa", also der Fraktion der koreanischen Bevölkerung, die einst über Jahrzehnte mit den japanischen Besatzern kollaborierte und auch nach dem Krieg ihren Einfluss bewahrte. Erst heute erinnert man sich und kämpft für die Einrichtung von Forschungsstellen, um diese Vergangenheit aufzuarbeiten: "In einer Demokratie und im Internetzeitalter ist es heute in Korea nicht mehr möglich, sich hinter dem einst mit Absicht errichteten Tabu zu verschanzen. Als das Parlament der Forschungsstelle keine finanzielle Unterstützung gewähren wollte, wurde sofort im Internet erfolgreich eine Sammelaktion gestartet. In ganz Korea haben sich Bürgerinitiativen gebildet, die Informationen auf lokaler Ebene sammeln und ins Netz stellen. Zum ersten Mal fand eine Ausstellung mit Werken von 'chin-il-pa'-Künstlern statt - für die meisten Koreaner ein Schock."

Besprochen werden eine vorbildliche Aufführung von Mussorgskys "Boris Godunow" in Berlin, Peter Jacksons "State-of-the-Art-Update", der Neuverfilmung von "King Kong", und Bücher, darunter Mischa Meiers Studie über die Pest (mehr hier) und Marta Kijowskas Spaziergang durch Krakau (mehr hier).

FR, 14.12.2005

Martina Meister informiert über eine "komplexe" Debatte, die in Frankreich über die koloniale Vergangenheit entbrannt ist. Anlass dafür ist ein Streit über ein Gesetz, das die positive Rolle des Kolonialismus in den Lehrplänen berücksichtigt sehen will. "Allenthalben klagen die Gruppen ihr Recht auf Anerkennung ein, die sich von der offiziellen Geschichte vernachlässigt fühlen: Einerseits 'Vertriebene', Algerienkämpfer und Harkis, also Algerier, die für Frankreich gekämpft haben, auf der anderen Seite die Opfer der Kolonialisierung. Es sind regelrechte Gedächtnis- und Geschichtslobbys entstanden, die ihre Interessen durchsetzen. Diese neue Form der Opferkonkurrenz und des Partisanengedächtnisses beunruhigt die Verfechter der Republik zu Recht. Denn 'Koloniale Ausländerfeindlichkeit' wird im Zuge dieser Identitätskämpfe bewusst gegen Antisemitismus ausgespielt. Schwarze beklagen Rassismus, Franzosen den 'Rassismus gegen Weiße'. Auch das umstrittene Gesetz ist Produkt einer Geschichtslobby: Es sind die franco-französischen Algerienkämpfer, die um eine späte Anerkennung als Helden der Geschichte buhlen."

In Times mager denkt Harry Nutt über die "Würde des Amtes über die Amtszeit hinaus" nach und wertet Schröders "auffälliges Bedürfnis im ökonomischen Feld" als eine neue Qualität der "Hypertrophie des Wirtschaftlichen". Und auf der Medienseite empfiehlt Tilmann Gangloff eine gelungene ZDF-Reportage über Menschen jenseits der 90.

Besprochen werden das Berliner Konzert der Strokes, Modest Mussorgskys "Boris Godunow" in der Inszenierung von Dmitri Tcherniakow und unter musikalischer Leitung von Daniel Barenboim an der Berliner Staatsoper, eine sechsteilige Kölner Porträtkonzert-Reihe für den neuseeländischen Musiker Hayden Chisholm, die Uraufführung von Rolf Riehms "Nuages Immortels Focusing on Solos (Medea in Avignon)" bei der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen und Bücher, darunter Hanns-Josef Ortheils neuer Roman "Die geheimen Stunden der Nacht" und die Erinnerungen das langjährigen Lektors des Fischer-Verlags J. Hellmut Freund. (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 14.12.2005

Die chinesische Wirtschaft wird von den führenden Funktionären des Landes aufgefordert, Marken zu schaffen, die auch im Westen bekannt werden, berichtet Mark Siemons. Bisher ist es noch nicht gelungen, aber Siemons ist zuversichtlich: "An der Flexibilität fehlt es nicht, notfalls von eigenen Vorstellungen abzugehen, um dem Kunden zu gefallen. Die deutschen Chinarestaurants zeigen seit Jahrzehnten, zu welcher Verleugnung und Verfremdung der eigenen Hochkultur - in diesem Fall: Kochkultur - chinesische Geschäftsleute in der Lage sind, wenn sie einem anderen Geschmack entgegenkommen wollen."

Weitere Artikel: Heinrich Wefing liest die Jugendbücher des auf Wunsch Arnold Schwarzeneggers hingerichteten "Tookie" Williams. Andreas Rosenfelder inspiziert die "Landschaft der elektronischen Spiele vor Weihnachten". Andreas Rossmann berichtet aus Moers von den Trauerfeierlichkeiten für Hanns Dieter Hüsch. Martin Otto lauschte einem Symposion über die Staatstheoretiker Ernst Forsthoff und Martin Drath in Jena. Auf der Medienseite porträtiert Karl-Peter Schwarz den kroatischen Journalisten Drago Hedl, der für seine Recherchen über kroatische Kriegsverbrechen an Serben Morddrohungen erhält.

Auf der letzten Seite publiziert die FAZ eine Rede Arno Lustigers aus Anlass der arg verspäteten und posthumen Wiederzuerkennung akademischer Grade ehemaliger jüdischer Absolventen der Kölner Universität. Robert von Lucius hat dem Nobelkonzert in Stockholm zugehört. Und Wolfgang Sandner porträtiert den Chansonier und Impresario Andre Heller.

Besprochen werden eine Ausstellung der Skulpturensammlung Bollert in München, Barbara Freys Inszenierung von Jon Fosses Stück "Winter" in Basel, Jazzkonzerte der Reihe "Pianoworks" in Frankfurt, Richard Strauss' "Intermezzo" im Mittelsächsischen Theater Freiberg/Döbeln und eine Ausstellung mit frühen Fotografien August Sanders in Linz.

SZ, 14.12.2005

Im Aufmacher beschreibt Matthew Bogdanos, Oberst der US-Marine-Reserve, stellvertretender Bezirksstaatsanwalt von Manhattan und Buchautor ("Thieves of Baghdad", zusammen mit William Patrick), wie die irakische Raubkunst-Industrie auch den Terror finanziert. "Der Tauschhandel von Kunst für Waffen ist ein zu neues Phänomen, als dass man schon harte Statistiken darüber vorlegen könnte. Aber meiner Meinung nach rangiert er als Geldquelle nur knapp hinter Entführungen für Lösegeld und steht auf einer Stufe mit erzwungenen Spenden von Irakern. Plünderungen sind schon immer eine Art Heimindustrie im Irak gewesen, in einem Land, dessen reiche Geschichte unter anderem die Erfindungen der Töpferei und des Rades hervorgebracht hat."

Johannes Willms erklärt die Hintergründe des "französischen Zorns" über den Ausfall der Austerlitz-Feiern anlässlich des 200. Jahrestages der Schlacht. So hat der Historiker Pierre Nora vorgestern in Le Monde seinem Ärger Luft gemacht: "Man sei damit auf 'den Boden der Schande und der Lächerlichkeit' gesunken ... Frankreich entsandte zu der großen Flottenparade, mit der in Großbritannien des 200. Jahrestags der Seeschlacht von Trafalgar gedacht wurde, die eine schwere Niederlage Napoleons war, sein größtes Schiff, den Flugzeugträger 'Charles de Gaulle'. Dessen Namenspatron, so Nora, hätte die Teilnahme an den Feierlichkeiten, zu denen eine französische Niederlage den Anlass gab, kaum behagt."

Andrzej Stasiuk erzählt eine Geschichte aus Albanien. Sie beginnt damit, "dass mein albanischer Verleger mir schrieb: 'Sorry, aber dein Buch kann nicht zum geplanten Termin erscheinen, sondern kommt wahrscheinlich ein bis zwei Monate später. In Tirana gibt es acht bis zehn Stunden am Tag keinen Strom.' Das ist ein recht anständiger Grund für eine Verspätung, dachte ich ..."

Weitere Artikel: In einem Interview gibt Liev Schreiber Auskunft über seinen Kinoerstling "Alles ist erleuchtet" nach einem Roman von Jonathan Safran Foer. Gaby Mayr resümiert eine Bochumer Tagung über den "Weltfrieden als Vision und politische Strategie". Lothar Müller kommentiert einen Artikel des Leiters des Hamburger Literaturhauses Rainer Moritz in der Welt, in dem dieser dem Literaturbetrieb die Leviten gelesen hatte. "dill" informiert über die Entscheidung im Rechtsstreit um die Produktionsrechte für Marcel Breuers Hocker "B 9".

Auf der Schallplattenseite beschreibt Jonathan Fischer das "pokulturelle Eigenleben", das Soul und Blues im Süden der USA führen. Matthias Roeckl stellt den kleinen Live-Club Nublu in Manhattan vor. Besprochen werden ein siebenteiliges Album mit 191 Versionen von "Lili Marleen", die dritte CD der Sängerin Souad Massi, und in der Kolumne "Das dreckige Dutzend" geht es um Alben weniger bekannter Gruppen und Stilrichtungen jenseits des Mainstreams, unter anderem von Senor Coconut, Seu Jorge, Laasko und St. Thomas. Zu lesen ist außerdem ein kurzes Interview mit zwei Mitgliedern der Gruppe Black Mountain.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Hauptwerken von Willem de Kooning im Kunstmuseum Basel, das Berliner Konzert der Strokes, ein "vertanzter" Ballettabend des Neumeier-Ensembles in Hamburg und Bücher, darunter ein Essayband von Milan Kundera über die Kunst des Romans und eine Studie über "Wahrheit und Vergangenheit" von Michael Dummett (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).