Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.06.2006. In der Welt erzählt Ralf König, warum es ihn juckte, einen Comic über einen Mufti zu zeichnen, der sich in einen schwulen Lover verliebt. In der SZ erklärt Thomas Brussig, warum der neue Patriotismus ein guter Patriotismus ist. Die taz berichtet über drastischen Hörerschwund bei Jugendradios und die Rettung im Internet. In der FAZ ruft die Geisteswissenschaflerin Mirjam Schaub die gesamte Kollegenschaft zum Streik auf. Im Standard diagnostiziert Andre Glucksmann die Somalisierung der Weltgesellschaft.

Welt, 19.06.2006

Der Comiczeichner Ralf König hat sich in seinem Comic "Dschinn Dschinn" seinen Zorn über die Karikaturenaffäre von der Seele gezeichnet. Darin erzählt er die Geschichte eines Mufti, der sich in einen schwulen Verführer verliebt. Vorher hatte er versucht, in einem Comic "1001 Nacht" aufzugreifen. Im Interview mit Wieland Freund erzählt er, wie es ihm dabei ging: "Ich mache seit 25 Jahren Comics und habe immer gezeichnet, was ich zeichnen wollte. Ob sich da jemand über einen Pimmel oder einen Witz über die Heilige Jungfrau Maria aufregt, war mir wurscht. Bei diesem Buch aber hatte ich eine Schere im Kopf. Ich hatte Hemmungen, Reizwörter wie Allah oder Scharia zu verwenden. Und am Ende musste ich mir eingestehen, dass ich mich drum herum geschlängelt hatte - das Wort Islam fällt im ganzen Buch nicht einmal. Das hat mich sehr beschäftigt: Dass man mitten in Europa, mitten in Köln, wo ich wohne, als Comiczeichner plötzlich anfängt, gegenüber einer Religion, die noch nicht mal die unsere ist, so vorsichtig zu sein."

Weitere Artikel: Manuel Brug gratuliert Anneliese Rothenberger zum Achtzigsten. Sven Felix Kellerhoff stellt eine Neuausgabe der Tagebücher Goebbels' vor. Gemeldet wird, dass Barbara Epstein, Mitbegründerin der New York Review of Books, gestorben ist (hier der Nachruf in der Review selbst). Thomas Brussig setzt seine WM-Kolumne fort. Und außerdem singt Manuel Brug eine kleine Hymne auf Kent Nagano, der sein letztes Konzert als Chef des Deutschen Sinfonie-Orchesters gab.

Gemeldet wird, dass Peter Handke auf Initiative Claus Peymanns einen "Berliner Heinrich-Heine-Preis" bekommen soll. Und für alle, die am Samstag nicht den Perlentaucher lesen, verweisen wir noch einmal auf das ausführliche Interview, in dem die NZZ Peter Handke mit ein paar Fakten konfrontiert.

Besprochen werden Barbara Freys Inszenierung von "Arsen und Spitzenhäubchen" in Wien und ein Konzert Chico Buarques in Berlin.

FAZ, 19.06.2006

Die Philosophiedozentin Mirjam Schaub ruft die Geisteswissenschaftler wegen Liebesentzug durch Politik und Universitäten auf die Barrikaden. Ein Streik "würde über Nacht Politik und Justiz lähmen, die Theater verdunkeln und die Arbeit in den Redaktionen stilllegen. Sie meinen, das übertrifft Ihre Vorstellungskraft? National ausgerufene Deutungsstreiks, offensive Sinnproduktionsdrosselung, bis hin zu Interpretationsstopp und Kommunikationsverweigerung? Ein Kandidat für eine Professur an einer Kunsthochschule hat es vor einiger Zeit vorgezogen, sich bei seinem Bewerbungsgespräch in Schweigen zu hüllen. Er hat die Professur für Konzeptkunst bekommen."

Nachdem ihn ausnahmslos alle Inszenierungen der "Dona Rosita" von Federico Garcia Lorca der vergangenen Jahrzehnte enttäuscht haben, hat Gerhard Stadelmaier nun dank Armin Holz und Ilse Ritter eine Vision. "Im Schauspiel Bochum, tritt, nein, schwebt ein Wesen auf: in flammend rotem, halblangem Haar, angetan mit einem herrlich luftigen, weit schwingenden blumenmusterübersäten Volantkleid, das sie umhüllt wie eine dunkelgelbe Farbwolke. Dona Rosita ist hier nicht von dieser Theaterwelt. Die über sechzig Jahre alte Ilse Ritter spielt ein junges Mädchen, das eben frisch verliebt ist in ihren Vetter, der ihr die Ehe verspricht."

Weitere Artikel: Kerstin Holm berichtet über die schlimmen Zustände innerhalb der russischen Armee und die couragierten Proteste der Rekrutenmütter. Am vergangenen Dienstag ist der Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka von Schülern mit dem Weilheimer Literaturpreis ausgezeichnet wurden, die FAZ bringt nun seine pädagogische Rede über das Dilemma von Gewalt und Gegengewalt. Eberhard Rathgeb vermutet hinter dem Beschluss der Mehrwertsteuererhöhung während der WM politische Raffinesse. Stephan Mösch gratuliert der Sängerin Anneliese Rothenberger zum Achtzigsten. Beim Treffen der europäischen Völkerrechtler an der Pariser Sorbonne ging es um Europa und das Verhältnis von Macht und Normen, berichtet Alexandra Kemmerer. Ellen Kohlhaas berichtet über die Göttinger Händelfestspielen, Eberhard Straub über eine Tagung zu den Marienfenstern der St. Marien-Kirche in Frankfurt an der Oder. Jordan Mejias blättet in amerikanischen Zeitschriften wie The New Republic und Harper's.

Auf der Medienseite widmet sich Petra Tabeling den Traumata der Kollegen, die von Krieg und Katastrophen berichten. Auf der letzten Seite klagt Aleksandra Ilina über die willkürliche An- und Aberkennung von ausländischen Diplomen durch die deutschen Behörden. Jordan Mejias schildert die Stimmung auf dem Times Square nach dem 1:1 der USA gegen Italien. Peter Rawert porträtiert den Wiener k.u.k. Salonmagier Johann Nepomuk Hofzinser.

Besprochen werden zwei "wunderbare" Ausstellungen zu Eva Hesse im Drawing Center und dem Jewish Museum in New York, Hasko Webers "entkernte" Version von Henrik Ibsens "Klein Eyolf" in Stuttgart, und Bücher, darunter ein Band über den Lebensraum Küche, Philipp Bloms Roman "Luxor" sowie neue Bände der Gesammelten Werke des tschechischen Dichters Vladimir Holan (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Standard, 19.06.2006

Im Irak entsteht nicht ein zweites Vietnam und al-Zarkawi war nicht Ho Chi Minh, stellt der französische Philosoph Andre Glucksmann klar. Hier wie in anderen Teilen der Welt findet statt, was er die Somalisierung der Welt nennt: "Die Bevölkerung - als Geisel genommen, verängstigt, geopfert - wird zur Kriegsbeute der lokalen Bandenführer ohne Glaube und Moral. Unter dem Banner flüchtiger Vorwände - Religion, Ethnie, zusammengepfuschte rassistische oder nationalistische Ideologien, verzerrte Erinnerungsgebote - streiten sich mit Kalaschnikows bewaffnete Gruppen um die Macht. Sie kämpfen weniger untereinander als gegen Zivilisten, die 95 Prozent der Opfer ausmachen, Frauen und Kinder an erster Stelle.... Die Herausforderung der selbstständigen Kämpfer, die Sklaven ihrer Beliebigkeit sind, lässt wenig Zeit für Ausflüchte. Entweder finden wir uns mit einer allgemeinen Somalisierung ab und suchen Zuflucht in einer illusionären europäisch-asiatischen Festung. Oder wir lassen ein demokratisches, militärisches und kritisches Europa-Atlantik-Bündnis wieder aufleben."

TAZ, 19.06.2006

Im Gespräch mit Hortense Pisano erzählt Kurator Florian Waldvogel, warum die 6. Manifesta, eine Biennale europäischer Kunst, die auf Zypern stattfinden sollte, nun abgesagt ist. Barbara Weidle kritisiert die Werbung für eine geplante Ausstellung des New Yorker Guggenheim-Museums in Bonn. Besprochen wird die große Jonathan-Meese-Ausstellung in Hamburg.

Auf der Medienseite bringt Max Hängler einen interessanten Bericht zum drastischen Hörerschwund bei Jugendradios und zum Versuch der Sender, mit Podcasts dagegenzuhalten.

Und Tom.

FR, 19.06.2006

Auch in Polen wurden die Informationen aus Adolf Eichmanns Tagebuchnotizen unterdrückt, die in dieser Sache recherchierenden Thomas Harlan und Krystina Zywulska "kaltgestellt", weiß Liane Dirks. "Die Veröffentlichungen in Polityka wurden nicht fortgesetzt. Die Arbeit an dem Buch wurde erschwert, zum Schluss verunmöglicht. Die Aufzeichnungen Eichmanns, inzwischen als fünffache Kopie vermeintlich sicher hinterlegt, verschwanden. Beim polnischen Anwalt wurde der Tresor aufgebrochen, der Lektor des Verlags wurde entlassen, nach einer Weile auch der Cheflektor, später wurde der Verleger ausgetauscht. Nach einer längeren Odyssee und Versuchen seitens Feltrinellis, positiv Einfluss zu nehmen, musste Harlan am 25. Juni 1963 Polen verlassen. Krystyna Zywulska war in derartige Ungnade gefallen, dass man sogar ihr Auschwitzbuch aus der Gedenkstätte entfernte. Einige Monate später beging der Lektor, der an dem Buch mitgewirkt hatte, Selbstmord. Zur selben Zeit wurde übrigens das erste deutsch-polnische Handelsabkommen erarbeitet. Mag man nun wirklich glauben, dass es nur um Adenauers Staatssekretär, Herrn Globke, ging, der so dringend geschützt werden musste?"

Weiteres: In einem Flatiron-Letter befürchtet Marcia Pally, dass die neubestimmte Nationalsprache Englisch bei ihrem Lieblingskoreaner nur Verwirrung stiften kann. Hans-Klaus Jungheinrich denkt an die nun achtzigjährige Anneliese Rothenberger und ihre "feine, scharf fokussierte, im engen Vibrato leicht flimmernde und damit ihre drahtartige Härte um eine Winzigkeit ins Samtige wirken lassende Sopranstimme". In Times mager mokiert sich Elke Buhr über die sich verbreitende Praxis der "Listening Sessions". Gemeldet wird, dass einige Schauspieler und Publizisten eine Initiative zur Verleihung eines "Berliner Heinrich-Heine-Preises für Peter Handke" ins Leben gerufen haben.

Besprochen werden Peter Mussbachs Inszenierung von Franz Lehars "Lustiger Witwe" an der Berliner Staatsoper.

NZZ, 19.06.2006

Georges Waser kommt auf die Diskussion um die Kunstsammlung der britischen Queen zu sprechen, deren rund 7.000 Gemälde, 30.000 Zeichnungen und 500.000 Stiche der Öffentlichkeit kaum zugänglich sind. Jürgen Dittrich besucht nach neunzig Jahren die Schlachtfelder von Verdun. Derek Weber hat die Akustik im umgebauten Kleinen Festspielhaus in Salzburg, das nun als "Haus für Mozart" firmiert, getestet und für gut befunden. Und Franz Haas informiert über Alessandro Bariccos ganzseitigen Versuche in La Repubblica, seine als Massenware verunglimpften Bücher zu verteidigen.

Besprochen werden die Neuinszenierung von Leo Janaceks Oper "Vec Makropulos" mit einem etwas zu lauten Orchester unter Philippe Jordan und das Open-Air-Festival Greenfield in Interlaken.

SZ, 19.06.2006

Auch er hat sich die deutschen Farben aufs Gesicht gemalt, gesteht Thomas Brussig im politischen Teil: "Der alte Patriotismus ist tot, endgültig. Doch ganz ohne Patriotismus fehlt was. Jetzt ist etwas da, das diese Leerstelle besetzt. Zunächst für ein paar Wochen. Es ist ein neuer Patriotismus. Neuer Patriotismus heißt: Nicht der alte. Ein anderer. Wir probieren noch. Denn der alte Patriotismus lebte in einem Deutschland, das es nicht mehr gibt. Der heutige Patriotismus wird sich vom alten Patriotismus in dem Maße unterscheiden, wie das heutige Deutschland vom alten."

Weitere Artikel: Für den Aufmacher besucht Gottfried Knapp das pünktlich zum Jubiläumsjahr fertiggestellte "Haus für Mozart" in Salzburg. Stefan Ulrich nimmt eine jüngst aufgespürte archäologische Sensation bei Rom in Augenschein, die Grabkammer eines etruskischen Prinzenpaares aus der Zeit um 690 vor Christus mit den ältesten Wandmalereien, die je in einem etruskischen Grab gefunden wurden. Fritz Göttler weist auf eine Aktion der New York Times hin, die einige Architekten bat, eine architektonische Vision für die Grenze zwischen den USA und Mexiko zu erfinden. Günther Schauerte, Stellvertretender Generaldirektor der Staatlichen Museen zu Berlin, begrüßt, dass die Bundesregierung die Unesco-Konvention Kulturgüterschutz in Friedenszeiten unterzeichnet, verlangt aber Ausweitungen und Verschärfungen der Regelung. Jens Malte Fischer gratuliert der Sopranistin Anneliese Rothenberger zum Achtzigsten.

Fritz Göttler bespricht einige neue DVDs mit alten Filmen. Henning Klüver stimmt auf den römischen Kultursommer ein. "Matt" stellt das Online-Portal "Deutsch-Polnische Musikbörse" vor, mit dem "zweisprachig über die Musikentwicklung und die Musikkultur in den Regionen Deutschlands und Polens" informiert werden soll. Sebastian Schoepp legt einen kleinen Essay über den Linksruck in den Ländern Lateinamerikas vor. Auf der Literaturseite berichtet Christoph Haas vom 12. Erlanger Comic-Salon. Gemeldet wird, dass Peter Handke auf Initiative Claus Peymanns einen "Berliner Heinrich-Heine-Preis" bekommen soll. Auf der Medienseite berichtet Hans Leyendecker, dass die Frankfurter Rundschau an den Konzern Neven DuMont verkauft werden soll.

Besprochen wird Armin Holz' Inszenierung von Garcia Lorcas "Dona Rosita" am Schauspielhaus Bochum.