Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.06.2006. In der SZ entwickelt Herfried Münkler eine Psychologie des Terrorismus und seiner Bekämpfung. Die taz sucht nach Migration im Theater und findet sie bei Feridun Zaimoglu. In der FAZ bekennt Patrick Modiano seine Liebe zur Stadt Berlin, die er allerdings noch nie besucht hat. In der FR genießt Georg Klein beim Singen der Nationalhymne das Gefühl, ein kommender Toter zu sein. In der Welt wendet Thomas Brussig sein Augenmerk für eine Sekunde vom Fußball ab und staunt: Verdammt, eine Gesundheitsreform, die sich gewaschen hat!

FR, 27.06.2006

Der Autor Georg Klein empfiehlt das Singen der Nationalhymne. "Unsere stärksten Gefühle lassen uns für eine kurze Spanne spüren, dass wir die kommenden Toten sind. Deshalb ist es schön, sie zu zweit, und besonders rührend, sie in einer Gemeinschaft von ähnlich Gestimmten durchleben zu dürfen. Gemeinsam singend, genießen wir uns als die baldigen Toten. Die Gegenwart, die unentwegt in den nächsten Schritt fällt, um nicht zu stürzen, hält sich dann für ein eigentümliches Weilchen mit ihrem rechten Ellbogen bei der Sehnsucht und mit dem linken bei der Wehmut eingehakt."

Hans-Jürgen Linke bringt der Tod des Bären Bruno times-mager-gerecht ins Grübeln. "Wenn man zusammenrechnet, wieviele Menschen in den letzten 170 Jahren in Deutschland von Bären zu Tode gebracht wurden, scheidet Rache als Motiv aus. Es scheint also eher um Ordnung zu gehen." Michael Kohlers Begeisterung hält sich in Grenzen, als er auf die kommende Einweihung der ehemaligen Kohlenwäsche der Zeche Zollverein und die begleitenden Ausstellungen mit einer "Dadaisten-Disco" eingestimmt werden sollte. Susanne Broos porträtiert den Grafiker und Illustrator Philip Waechter, Sohn von F. K. Waechter.

Welt, 27.06.2006

In seiner WM-Kolumne riskiert Thomas Brussig einen Seitenblick auf das politische Geschehen: "Da ist von einer Gesundheitsreform die Rede, zu deren Zwecke Steuern in einem Umfang erhoben werden sollen, die einer Mehrwertsteuererhöhung auf 25 Prozent entsprächen. Aber der einzige Aufschrei, den dieses Land noch kennt, ist der Torschrei. Insofern hat Jürgen Klinsmanns Angriff auf Verkrustungen einen überraschenden Zwischenerfolg: Weil wir sehen wollen, wie unsre Jungs spielen, sehen wir nichts anderes - und außerhalb unseres Blickfeldes wird eine Gesundheitsreform geschraubt, die sich gewaschen hat. Womit zumindest bewiesen wäre: Es sind nicht die Politiker, die keine Reformen hinkriegen - vielmehr scheitert deren schöpferische Phantasie am eingespielten Spiel der Bedenkenträger."

Weitere Artikel: Wieland Freund nennt das mit 150.000 Euro geförderte Literaturportal einen "bildungspolitischen Unfall": "Gäbe es nicht Portale wie den Perlentaucher oder den Blütenleser, man müsste um das Abendland im Internet-Zeitalter noch heftiger fürchten, als man es ohnehin schon tut." Michael Stürmer wünscht sich eine Gedenkstätte für gefallene deutsche Soldaten. Sven Felix Kellerhoff empfiehlt Butz Peters' Buch "Der letzte Mythos der RAF" über den Tod des Terroristen Wolfgang Grams und den folgenden "Medienskandal". Klaus Lüber beruhigt, dass flache Bildschirme nicht notwendig flache Bilder senden müssen. Und "bas." erinnert an den Verleger und Enzyklopädisten Joseph Meyer, der vor 150 Jahren gestorben ist.

TAZ, 27.06.2006

Auf der Kulturseite resümiert Katrin Bettina Müller die Wiesbadener Theaterbiennale, in der sich viele Stücke mit der Migration befassten - zuweilen allerdings pädagogisch überfrachtet: "Das Theater, gebunden an die Sprache und meist an regionale Institutionen, tut sich schwer mit dem Kontext von Migrationsgesellschaften, schwerer jedenfalls als Musik, Tanz, bildende Kunst und Film." Am besten gefielen Müller Feridun Zaimoglus "Schwarze Jungfern".

Außerdem besucht Christian Broecking für seine Jazzkolumne den Radiosender Real Jazz in New York. Besprochen werden eine Ausstellung über das Werk des Konzeptualisten Edward Krasiski in Wien, das neue Heft der Zeitschrift Mittelweg 36 und das neue Album von Busta Rhymes.

Schließlich Tom.

SZ, 27.06.2006

Herfried Münkler versucht sich an einer kompakten Analyse des neuen Terrorismus und hat einen eher lakonischen Ratschlag für die Bevölkerung der anvisierten Länder parat. "Je weniger sie sich in Furcht und Schrecken versetzen lässt, desto schneller zeigt sich die Schwäche der terroristischen Gruppen. Ihre Stärke erwächst aus dem Zugriff auf die psychische Verfassung der Bevölkerung; Hysterie und Panik steigern diesen Zugriff. Die entscheidende Frontlinie bei der Reaktion auf terroristische Angriffe liegt in der gelassenen Reaktion der Menschen: Wenn sie sich in den Tagen nach dem Anschlag so verhalten, wie sie sich auch ohne Terrorattacken verhalten hätten, ist der Angriff abgeschlagen."

In einem offenen Brief im Medienteil verabschiedet Michael Jürgs den ARD-Chefredakteur Hartmann von der Tann nicht ohne Bitterkeit in den Ruhestand. "Wo aber waren Sie, verehrter Herr von der Tann, als Kultur verbannt und Politmagazine beschnitten, und Gesellschaft mit Society verwechselt wurde? Im Urlaub? Auf Dienstreise? In der Kantine?"

Weitere Artikel: Jens-Christian Rabe berichtet, dass gegen die bangladeschische Autorin Taslima Nasreen in Kalkutta eine Fatwa erlassen worden ist: Derjenige, der ihr das "Gesicht schwärzt" und sie aus dem Land jagt, soll 870 Euro bekommen. Der Direktor der Guggenheim Foundation Thomas Krens spricht im Interview mit Stefan Koldehoff über die Ausstellung in der Bundeskunsthalle Bonn und den unverminderten Expansionskurs: "Wir arbeiten an Hongkong, Singapur und Peking." Jens Bisky geht nicht mit Wolfgang Thierse d'accord, der der "Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas" mit zusätzlichen Geldern die Forschungsarbeit ermöglichen will. Im letzten Teil seiner Reportagereihe aus dem Kongo berichtet Svante Weyler über die Zunahme an Straßenkindern, die erst der Hexerei bezichtigt und dann von Exorzismus-Sekten missbraucht werden.

"Friede seiner Tatze", meint Christopher Schmidt zur Erschießung des Bären Bruno, den er als "genialischen Pop-Rebell" in Erinnerung behalten wissen will. Gert Kähler informiert die Hamburger, dass sie sich nicht über die Architektur der geplanten Zentralbibliothek am historischen Domplatz, sondern die privaten Investoren erregen sollten. Juliane Matthey wirbt für Niederdeutsch alias Plattdeutsch an den norddeutschen Schulen. Harald Eggebrecht füllt eine "Zwischenzeit" mit Familienurlaub und John Wayne. Gemeldet wird, dass die Seiten YouTube und MySpace die Video-Suche im Internet dominieren und die Großen Google, AOL, Yahoo und MSN auf Distanz halten.

Auf der Literaturseite erfährt Franziska Meier aus zwei noch nicht übersetzten italienischen Büchern mehr über die Kollaboration der italienischen Intellektuellen mit dem Mussolini-Regime. Besonders zu empfehlen ist offenbar Mirella Serris "I Redenti". Lothar Müller stellt die Bachmann-Preisträgerin Kathrin Passig vor, die an einem Lexikon des Unwissens arbeitet. Der Geburtsort von Gabriel Garcia Marquez wird nicht in Aracataca-Macondo nach einer Stadt in "Hundert Jahre Einsamkeit" umbenannt, meldet Martin Reischke. Auf der Medienseite stellt Christiane Langröck-Kögel Holger Christmann vor, der Park Avenue entwickelte und kurz vor dem Erscheinen des ersten Hefts die Redaktion im Streit verließ .

Besprochen werden eine Ausstellung mit Fotografien von Händen aus der amerikanischen Sammlung Buhl im Museum Folkwang und Bärbel Frischmanns Fichte-Schlegel-Studie (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

NZZ, 27.06.2006

Andrea Köhler kommentiert etwas lustlos die Liste der besten amerikanischen Romane der letzten 25 Jahre, die eine Jury aus 125 Schriftstellern zusammengestellt hat und die von Toni Morrisons "Menschenkind" angeführt wird. Roger Friedrich begutachtet die neu restaurierte Biblioteca cantonale in Lugano.

Besprochen werden die Ausstellung "Zero" im Düsseldorfer Kunst-Palast, die sich der Avantgarde-Gruppe der fünfziger und sechziger Jahre widmet, eine neue Inszenierung des "Cyrano de Bergerac" an der Pariser Comedie-Francaise, ein Schostakowitsch-Konzert des Tonhalle-Orchesters Zürich und Bücher, darunter Fred Wanders Erinnerungen "Das gute Leben oder Von der Fröhlichkeit im Schrecken" und Robert Menasses Poetikvorlesung "Die Zerstörung der Welt als Wille und Vorstellung" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 27.06.2006

Joseph Hanimann unternimmt einen Spaziergang durch Paris mit dem Romancier Patrick Modiano, der die Stadt kennt wie seine Westentasche und überlegt, ob er nicht auch mal über Berlin schreiben sollte, wo er noch nie war: "Berlin kommt mir aus der Ferne wie ein Gegen-Paris vor, auf sandiger Erde, ewig unfertig, mit untilgbaren Lücken - einer meiner Träume wäre tatsächlich, einen Berlin-Roman zu schreiben."

Weitere Artikel: Jürgen Kaube glossiert das gewaltsame Ableben des Bären Bruno. Dirk Schümer kolportiert italienische Spekulationen über ein Manuskript in der Florentiner Riccardi-Bibliothek, das nach jüngsten Forschungen von Boccaccio höchstselbst stammen könnte. Ernst Horst hat einem Münchner Vortrag des Pariser Ethnologen Maurice Godelier über die Frage, "was die Bestandteile einer Gesellschaft sind", zugehört. Andreas Platthaus berichtet, dass das piefige Mobiliar aus Erich Mielkes Leipziger Residenz vom Stasi-Museum am Ort erworben wurde. Alexandra Kemmerer lauschte einer Berliner Performance des Theologen Cornel West über die Demokratie und andere Menschheitsfragen. Annette Steinich berichtet über ein Festival alter Musik in der Chiquitania, einer Region im östlichen Tiefland Boliviens.

Auf der DVD-Seite geht's um eine Jim-Jarmusch-Edition, eine Louis-Malle-Edition, um den Klassiker "Menschen am Sonntag" und um Filmvorspänne von Saul Bass, die im Internet zu besichtigen sind. Auf der Medienseite porträtiert Matthias Hannemann den Deutschen Roman Schatz, der in Finnland zu Fernsehruhm gelangte. Nina Rehfeld meldet, dass amerikanische Medien 750.000 Dollar Schadenersatz an einen Taiwanesen bezahlt haben, den sie zu Unrecht der Spionage verdächtigt hatten. Jürg Altwegg kommentiert französische Diskussionen über den Namen des kommenden internationalen französischen Nachrichtenkanals CFII.

Auf der letzten Seite bringt Gustav Falke Reisenotizen aus aus dem türkischen Kurdistan. Hannes Hintermeier schreibt über weitere Wachstumsfortschritte des Buchhändlers Thalia, der jetzt das Salzburger Traditionshaus Wagner kaufte. Und Jordan Mejias staunt über Warren Buffett, der 35 Milliarden Dollar bei der Stiftung seines Freundes Bill Gates unterbringt und nicht einmal seinen Namen verewigt sehen will.

Besprochen werden eine CD von "The Divine Comedy", Stücke der Wiesbadener Theaterbiennale und eine Balanchine-Choregrafie zu Beginn der Hamburger Balletttage.