Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.09.2006. In der NZZ verteidigt V.S. Naipaul die Errungenschaften des Empires. Die taz will sich mit dem Pop-Islam verbünden. Der Tagesspiegel zweifelt an der Möglichkeit des Dialogs zwischen arabischen und westlichen Intellektuellen. In der SZ will der ungarische Autor Peter Zilahy die Budapester Unruhen nicht recht ernst nehmen. In der FAZ klagt Walter Kempowski über die Verkennung seines Werks durch den Literaturbetrieb und auch über Günter Grass. In der Berliner Zeitung verneigt sich Kurt Flasch vor der Unfehlbarkeit des Papstes, um dann der Fehlbarkeit des Professor Ratzinger nachzuspüren.

NZZ, 22.09.2006

Literaturnobelpreisträger V.S. Naipaul spricht in einem Interview mit Moritz Behrendt und Daniel Gerlach über die Ironie, das Reisen, den Export von Demokratie und die Errungenschaften des Empires: "Wir haben durch das Empire viel gewonnen. Wir Inder bekamen Dinge, von denen wir vorher nie gehört hatten. Gerichte, Rechtsverbindlichkeit, die Ideen vom Wert des Menschen. Die Errungenschaften von Renaissance und Reformation. Vorher gab es in Indien nicht einmal Privatbesitz. Alles gehörte gewissermassen den Königen. Indien ist dort, wo es heute ist, weil es das Empire gab."

Max Nyffeler verheißt dem Kunstfest in Weimar, "ein Unternehmen mit Zukunft" zu sein. Besprochen wird die Ausstellung "Kult Bild" im Frankfurter Städel-Museum.

Für die Filmseite besucht Andreas Maurer die Dreharbeiten zum Schweizer Puppenanimationsfilm "Max & Co" und Christoph Egger berichtet vom Internationalen Animationsfilmfestival Hiroshima.

Auf der Medienseite berichtet Stefan Krempl, dass der einstige Mitbegründer der Wikipedia Larry Sanger nun seine eigene Onlin-Enzyklopädie ins Leben rufen will: "Das 'Bürger-Kompendium' soll das Prinzip der gemeinsamen Erfassung von Wissensinhalten wahren, aber eine elitäre Ausrichtung erhalten und mehr Autoritäten aus der Wissenschaft zur Mitarbeit bewegen. Anonyme Mitarbeit soll nicht mehr möglich sein. Insgesamt soll die Erstellung der frei verfügbaren Inhalte stärker an professionelle Redaktionsabläufe bei klassischen Enzyklopädien angeglichen werden."

Welt, 22.09.2006

Wieland Freund berichtet von einem Autritt des venezolanischen Präsidenten Hugo Chavez vor den Vereinten Nationen: mit einem Buch von Noam Chomsky in der Hand nannte er Bush einen Teufel: "'Hybris' heißt das erstmals 2004 erschienene Werk auf Deutsch. Oprah Winfrey und Elke Heidenreich dürften vor Neid erblassen - ein vergleichbares Publikum haben ihre Buchempfehlungen nie. Beim US-Internetbuchhändler Amazon.com jedenfalls schaffte es Chomskys Buch binnen Stunden in die Top 10. So hoch war nicht einmal William Blums 'Rogue State' eingestiegen, nachdem Osama bin Laden es Anfang des Jahres in einer seiner heillosen Tonbandbotschaften empfahl."

Der Schriftsteller Christoph Peters erklärt im Interview, warum in seinem neuen Werk ein deutscher Islamist und ein deutscher Botschafter in Ägypten die Hauptpersonen sind: "Schaut man sich den Ernst an, mit dem die meisten Muslime ihre Religion leben, ohne deshalb Fundamentalisten oder gar Terroristen zu sein, muss man daraus ja nicht zwangsläufig den Schluss ziehen, dass die alle zu dumm sind, zu kapieren, dass Gott für die Welt bedeutungslos ist. Man könnte auch einen Schritt zurücktreten und sich fragen, ob in deren Glauben und religiöser Praxis möglicherweise etwas zu finden ist, das sie dem Ziel eines erfüllten Lebens näher bringt als die Waren-Werte des Kapitalismus."

Weitere Artikel: Ulf Meyer stellt das neue Hans-Otto-Theater von Gottfried Böhm vor. Michael Pilz berichtet von der Popkomm. Manuel Brug schreibt den Nachruf auf den Schweizer Dirigenten Armin Jordan. Ernst Cramer wirft einen Blick zurück auf das Leben von Axel Springer, der vor 21 Jahren starb. Hanns-Georg Rodek schreibt den Nachruf auf den Kameramann Sven Nykvist.

Besprochen werden die Picasso-Ausstellungen in Wien und Düsseldorf, Agnes Vardas Ausstellung "L'ile et elle - die Insel und sie" in der Pariser Fondation Cartier, die Inszenierung von Roland Schimmelpfennigs "Ambrosia" durch Jürgen Gosch an den Kammerspielen des Deutschen Theaters Berlin, die Aufführung der drei Tanzwerke von Schostakowitsch am Moskauer Bolschoi Theater und eine CD mit retrofuturistischen Tanzliedern von der französischen Band Cassius.

TAZ, 22.09.2006

Im Interview mit Volker Hummel erzählt der chinesische Regisseur Jia Zhangke, wie er seinen in Cannes ausgezeichneten Film "Sanxia Haoren" durch die Zensur bekam, offenbar ein mit zwanzig Funktionären besetztes Gremium: "Vor allem gefiel ihnen nicht, dass im Titel 'Drei Schluchten' vorkommt ('Sanxia Haoren' bedeutet 'Die guten Menschen der Drei Schluchten', Anm. V. H.). Allerdings bekam ich keine Antwort auf meine Frage, was sie denn daran störe, da der Film nun mal dort spiele. Also blieb der Titel. Eine anderer Änderungswunsch betraf eine Szene, die in einer Fabrik spielt. Dort hingen riesige Porträts von Marx, Lenin und Mao an der Wand, und sie wollten, dass die rausgeschnitten werden. Sie vermuteten einen ironischen Unterton. Woran man sehen kann, dass die Leute in der Zensurbehörde keine Ahnung vom Film haben, das sind ganz gewöhnliche Parteikader. Als ich darauf aufmerksam machte, dass ich die Bilder so vorfand, und zurückfragte, ob die drei Herren mittlerweile politisch verpönt seien, durfte die Szene drinbleiben. Außerdem störte man sich an der Aufnahme eines sechzehnjährigen Jungen mit einer Zigarette."

Besprochen werden die jüngste Berliner Inszenierung von Jürgen Gosch (mit der sich Gosch, wie Eva Behrendt meint, den alteuropäischen Mittelstand vorknöpft), der Berliner Tourneestart von The Rapture sowie die neuen Alben der Scissor Sisters und Darkel.

Auf der Meinungsseite ruft Julia Gerlach dazu auf, sich mit dem Pop-Islam gegen den Islam des Dschihads zu verbünden: "Die pop-islamische Bewegung hat - ebenso wie die Dschihad-Bewegung - ihren Ursprung in der arabischen Welt. Während die Dschihadis den Ideen und Anweisungen von Bin Laden und Co. lauschen, verehren die Pop-Muslime ihre Stars wie den britischen Sänger Sami Yusuf, den ägyptischen TV-Prediger Amr Khaled, oder sie lesen in den Büchern des Vordenkers des Euro-Islam, Tariq Ramadan. Beide Bewegungen sehen die Rolle des Muslims nicht nur auf dem Gebetsteppich. Dem Kampfgedanken der Dschihadis setzt die Pop-Bewegung Erfolgsstreben, Engagement für die Gesellschaft und das Motto: 'Nimm dein Leben in die eigene Hand!' entgegen." Gerlach spricht sich dafür aus, mit Organisationen wie der Muslimischen Jugend und der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs zusammenzuarbeiten.

Und Tom.

FR, 22.09.2006

Daniel Kothenschulte zitiert in seinem Nachruf auf den Kameramann Sven Nykvist eine schöne Hommage von Ingmar Bergman an seinen langjährigen Mitarbeiter. "Manchmal betrauere ich, keine Filme mehr zu machen, und mehr als alles andere vermisse ich die Arbeit mit Sven Nykvist. Vielleicht weil wir beide so gefangen waren von den Problemen des Lichts, dieses zärtlichen, gefährlichen, traumhaften, lebenden, toten, klaren, nebligen, heißen, grausamen, nackten, plötzlichen, frühlingshaften, fallenden, geraden, schiefen, sinnlichen, gedämpften, giftigen, beruhigenden, fahlen Lichts."

In Times mager will Ursula März nicht nur magere Models verbieten, sondern auch einen Sprach-Maß- oder Gewalt-Maß-Index einführen. An Büchern werden Joachim Fests Jugenderinnerungen "Ich nicht" und Gerhard Henschels "feurige" Suada gegen die Bild-Zeitung "Gossenreport" vorgestellt. (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Tagesspiegel, 22.09.2006

Die Korrespondentin Andrea Nüsse denkt über die Schwierigkeiten des Dialogs zwischen arabischen und westlichen Intellektuellen nach und zitiert unter anderem den Theaterautor Ali Salem: "Der 70-Jährige glaubt nicht an den Dialog. Allerdings macht er dafür hauptsächlich die arabische Seite verantwortlich: Schriftsteller und Journalisten in Ägypten wie in anderen arabischen Ländern hätten sich im 20. Jahrhundert als 'intellektuelle Brigade' im Kampf gegen den Imperialismus verstanden. Diese Tradition der Ideologisierung habe sich bis heute erhalten, auch wenn sie bei den Jüngeren nachlasse. Noch immer ließen sich Intellektuelle von Regimen manipulieren oder vereinnahmen. Nach 50 Jahren Totalitarismus sei es nicht leicht, plötzlich als Individuum zu denken, schränkt Salem ein. Außerdem seien einige Intellektuelle neidisch auf die Freiheiten der Kollegen im Westen oder hätten einen Minderwertigkeitskomplex angesichts der Rückständigkeit der arabisch-muslimischen Welt. Beides erschwere einen Dialog auf Augenhöhe."

Berliner Zeitung, 22.09.2006

Der Historiker Kurt Flasch verneigt sich vor der Unfehlbarkeit des Papstes, um dann der Fehlbarkeit des Professor Ratzinger nachzuspüren, der in seiner Regensburger Rede Kant falsch zitiert habe. "Kant habe das Erbe der Reformatoren auf die Spitze getrieben. Kant, heißt es wörtlich, behaupte, er 'habe das Denken beiseite schaffen müssen, um dem Glauben Platz zu machen'. Dies Zitat ist falsch. Die versammelte bayerische Intelligenz nahm daran keinen Anstoß: Hat Kant wirklich gesagt, er habe das Denken beseitigen wollen? Das Zitat heißt richtig: 'Ich musste also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen'. Bei Kant und in Wirklichkeit sind Denken und Wissen nicht dasselbe. Man kann sich vielerlei denken, ohne etwas zu wissen. Kant hat gesagt, was er unter Wissen verstand: Sinnliche Anschauung plus Denken. Auch 'Glauben' ist hier im Kantischen Sinn zu nehmen: nicht Kirchenglaube, sondern der Vernunftglaube oder die denkende Erfahrung unbedingten Sollens in der praktischen Vernunft. Bis zum Beweis des Gegenteils kann ich nicht glauben, dass ein Professor von der Bildung Ratzingers Kant so elementar entstellt hätte." Flasch vermutet, es waren die Redenschreiber des Papstes: "Sie könnten in der Landseelsorge in Niederbayern nützliche Arbeit im Weinberg des Herrn leisten."
Stichwörter: Flasch, Kurt

FAZ, 22.09.2006

Walter Kempowski spricht in einem langen Interview mit Edo Reents und Hannes Hintermeier über die Verkennung seines Werks durch den Literaturbetrieb, über die Erfahrung der Folter, unter der er seine Mutter verriet, über die acht Jahre Gefängnis in Bautzen, und er kommt auch noch einmal auf den Fall Grass zurück: "Als ich von der SS-Geschichte erfuhr, habe ich den Reportern am Telefon gesagt: 'So spät? Aber: Wer selbst ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.' Ich hatte irgendwie Mitleid mit ihm, aber das ist offensichtlich gar nicht angebracht. Grass hat ein dickes Fell, dem macht das überhaupt nichts aus. Und das, was er in sechzig Jahren in die Gegend posaunt hat, tut ihm nicht im geringsten leid. Ein Mensch in dieser Situation sollte künftig schweigen."

Weitere Artikel: Regina Mönch hörte der Berliner Rede Horst Köhlers vor Neuköllner Schülern zu und fand sie onkelhaft. Joachim Müller-Jung präsentiert Satellitenfotos, die zeigen, in welchem Maß das arktische Eis schon geschmolzen ist - demnächst öffnet sich eine Schifffahrtsstraße zum Nordpol. Dietmar Dath glossiert den touristischen Flug einer Multimillionärin ins All. Eberhard Rathgeb verfolgte in Frankfurt ein Gespräch zwischen George Steiner und Durs Grünbein. Rose-Maria Gropp berichtet, dass das Land Baden-Württemberg Handschriften verkauft, um das Schloss Salem zu restaurieren. Alexander Cammann resümiert ein Kolloquium über die "Zeitgeschichte auf der öffentlichen Bühne" in Berlin. Andreas Kilb verfolgte ein Berliner Akademiegespräch über die Zukunft des Goethe-Instituts. Gemeldet wird, dass Paul Ingendaay den Aspekte-Literaturpreis erhält. Jürgen Kesting gratuliert dem englischen Bassisten John Tomlinson zum Sechzigsten. Wolfgang Sandner gratuliert dem Tanzkritiker Jochen Schmidt ebenfalls zum Sechzigsten. Verena Lueken schreibt zum Tod von Ingmar Bergmans Kameramann Sven Nykvist.

Auf der Medienseite annonciert Michael Hanfeld die kommende Fernsehgebühr für Computer. Und Jutta Sommerbauer notiert den Freispruch für die türkische Autorin Elif Shafak.

Für die letzte Seite unterhält sich Mark Siemons mit dem chinesischen Kulturkritiker Zhu Dake über postmoderne Ironie in China. Reiner Burger zitiert Klagen des Chefs der Dresdner Kunstsammlungen, Martin Roth, in der Zeit über Personalabbau. Und Lisa Zeitz porträtiert die in den USA tätige Kunstsammlerin Marieluise Hessel, die ihre Sammlung dem Bard College im Staate New York vermachte.

Besprochen werden Michael Winterbottoms Film "Road to Guantanamo", Jürgen Goschs Inszenierung von Roland Schimmelpfennigs Stück "Ambrosia" in Berlin, ein Konzert der Band Hot Chip in Berlin, die Choreografie "Sacred Monsters" von und mit Sylvie Guillem und Akram Khan in London und Sachbücher, darunter Ayaan Hirsi Alis laut Christian Geyer "atemberaubendes" Buch "Mein Leben, meine Freiheit" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 22.09.2006

200 altbekannte Schlachtenbummler hat ein sarkastischer Peter Zilahy (mehr) vor der Budapester Fernsehanstalt gezählt, und will die Unruhen nicht überbewerten. "Zur Nachricht werden solche Ereignisse und Zahlen nur, weil so etwas in Budapest zum ersten Mal geschieht. In Berlin werden an jedem ersten Mai zwei- oder dreimal so viele Polizisten verletzt. In Paris wurden 1.000 Autos angezündet, bei uns zehn." Das eigentliche Ereignis sei ein anderes. "Das gab es noch nie, dass die Fans der beiden gegnerischen Fußballmannschaften Fradi und Ujpest, die immer den größten Radau veranstalten, sich in der Hoffnung auf den Sieg gegen die Polizisten zusammentaten. Dieses (in der Geschichte des ungarischen Fußballs beispiellose) Ereignis hat ein Fußballfan dem Fernsehen gegenüber als Revolution bezeichnet. So erfuhren wir, dass etwas geschehen ist und sich morgen vielleicht unser Leben ändert. Damit hat niemand gerechnet."

Weiteres: Fritz Göttler schreibt den Nachruf auf den Kameramann Sven Nykvist, der mit Ingmar Bergman und Woody Allen zusammenarbeitete. Das Hans-Otto-Theater hat das Zeug, zum neuen Wahrzeichen Potsdams zu werden, findet Falk Jaeger. Martin Mosebach begutachtet Delhi in seinem indischen Tagebuch von der Rikscha aus. Bernd Dörries lässt sich von Bernhard Erbprinz von Baden erklären, warum zum Erhalt des Schlosses Salem Handschriften verkauft werden müssen. Die Macher von White Cube Berlin haben nun ihren Vorschlag für eine temporäre Kunsthalle am Schlossplatz vorgelegt, meldet Frank Thinius. Jörg Königsdorf war dabei, als die neue Intendantin der Berliner Philharmoniker Pamela Rosenberg in der American Academy überraschend schonungslos mit dem amerikanischen System der Kulturfinanzierung abrechnete.

Auf der Medienseite meldet Carla Palm, dass Pro-Sieben-Sat-1-Hauptaktionär Haim Saban von einem amerikanischen Senatsausschuss der umfangreichen Steuerhinterziehung verdächtigt wird.

Besprochen werden die Ausstellung "Der Kuss. Die Paare" mit Skulpturen von Auguste Rodin in der Münchner Hypo-Kunsthalle, Stefan Bachmanns von "beliebigen Regieeinfällen" geplagte Inszenierung von Thomas Jonigks "Liebe Kannibalen Godard" am Hamburger Thalia Theater, ein gepflegtes Konzert mit Laurie Anderson und Steve Nieve auf der Ruhrtriennale in Essen, und Bücher, darunter Christoph Ransmayrs Roman "Der fliegende Berg" sowie Axel Brüggemanns "sagenhaft unkonventionelles" Buch über "Wagners Welt" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).