Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
31.10.2006. Die für ihre Rezensionen berühmte taz geißelt Kulturbanausen in den übrigen Feuilletons. Die NZZ misst Größen beim Potenzgerangel Schweizer Architekten. Die Welt denkt über wahrhaftige politische Sprache nach. In der FR beschreibt Artur Becker den deutsch-polnischen Missverstand. Die FAZ protestiert gegen neue Einheitsschulen in Berlin. In der SZ beschreibt Andrzej Stasiuk den schönsten Feiertag in Polen: Allerseelen.

FR, 31.10.2006

Der Autor Artur Becker denkt über seine deutsch-polnische Identität nach und das Verhältnis der beiden Länder zueinander: "Die Deutschen haben sich trotz ihrer glorreichen Wiedervereinigung noch nicht richtig von dem Riesen Russland gelöst, vor allem psychologisch nicht. Und die Polen begreifen nicht, dass sie mit ihrer Angst vor Deutschland - und vor allem vor Russland - immer wieder nur neue Angst produzieren und ernten. Das ist eben dieses fatale, künstlich erzeugte Jalta- und Oder-Neiße-Syndrom unserer gemeinsamen Herkunft und Geburt. Und nur mal so nebenbei gesagt: Die Deutschen und die Polen haben sich noch nie richtig verstanden - trotz des berühmten Kniefalls von Warschau, trotz der hierzulande sehr beliebten Bücher von Szczypiorski, trotz der großartigen BRD-Hilfe in der Solidarnosc-Zeit."

Sylvia Staude berichtet von der Dance-Biennale in München. In Times mager begutachtet Harry Nutt die Errungenschaft einer sechstausendjährigen Kürbiskultur. Besprochen werden Stein Winges Aufführung von Rimski-Korsakows "Zarenbraut" an der Oper Frankfurt und Kent Naganos Start bei der Bayerischen Staatsoper mit Richard Strauss und Wolfgang Rihm.

TAZ, 31.10.2006

In der Reihe Kritik der Kritik nimmt sich Daniel Bax heute die Kulturbanausen in den Feuilletons vor, vornehmlich FAZ, Spiegel und - ja! - den Perlentaucher, die sich in der Integrationsdebatte angeblich gern in die kulturkämpferische Pose werfen, anstatt anständig zu rezensieren. "Das ist paradox: Gerade in dem Moment, in dem türkischstämmigen Künstlern der Durchbruch in den Mainstream gelungen ist, die kulturelle Integration also auch auf der Ebene der Hoch- und Massenkultur unübersehbar geworden ist, verfällt die Integrationsdebatte in regressive Zuckungen. Türkischstämmige Schriftsteller gewinnen Literaturpreise und schreiben Bestseller, türkischstämmige Filmemacher reüssieren auf internationalen Filmfestivals, auch an den Kinokassen, und sobald man den Fernseher einschaltet, sieht man türkischstämmige Comedians. Gleichzeitig fabulieren deutsche Kulturjournalisten vom 'Scheitern der Integration' und dem 'Ende der multikulturellen Illusionen'. In welcher Welt leben die eigentlich?" (In einer Welt, in der auch Necla Kelek und Seyran Ates sicher leben dürfen.)

Weiteres: Wie man kunstvoll scheitern kann, erzählt Kito Nedo: Die geplatzte Veranstaltungsreihe Manifesta 6, die dieses Jahr in Nikosia stattfinden sollte, steht als Unitednationsplaza in Berlin wieder auf. Heike Blümner sorgt sich nach dem Abschied der Modemesse Bread & Butter um Berlins kreativen Ruf. Daniel Schreiber rekapituliert die New Yorker Affäre um den israelkritischen Historiker Tony Judt. Besprochen wird Elfriede Jelineks Stück "Ulrike Maria Stuart" am Hamburger Thalia Theater (das Simone Kaempf "bei all dem" auch witzig fand).

Und noch Tom.

NZZ, 31.10.2006

Aus der Ukraine berichtet Gerhard Gnauck von Versuchen der Geschichtsaufarbeitung und der Stiftung einer nationalen Identität, die dadurch behindert werden, dass die beiden großen politischen Lager einen entgegengesetzten Blick auf die Vergangenheit haben. Dies zeigt sich unter anderem in der Ehrung ehemals verfeindeter Armeen: "Während in Lemberg im Westen vor wenigen Jahren ein wuchtiger Obelisk für die Soldaten der 'Division Galizien' errichtet wurde, entstand in Donezk im Osten zur gleichen Zeit ein Denkmal für die sowjetischen 'Ritter der Pflicht' (aus NKWD, KGB und SBU). Nur der Stoff, in den die Mythen gemeißelt werden, ist in Lemberg und Donezk der gleiche: roter Granit."

Hubertus Adam sieht angesichts aktueller Projekte der Architekten Gigon/Guyer (der geplante Prime-Tower in Zürich) und Herzog & de Meuron (der geplante Bau1 in Basel) ein Comeback der Hochhäuser in der Schweiz. "Die Tendenz zu ungewöhnlichen Formen, die es erlaubt, in einem Rudel den Leitbau zu erkennen (wie Norman Fosters 'Gurke' in London), bricht sich auch hierzulande Bahn: Das Potenzgerangel wird nicht mehr anhand des Metermaßes ausagiert. Vielmehr gewinnt Zeichenhaftigkeit an Bedeutung."

Besprochen werden ein Mozart-Zyklus in der Tonhalle Zürich und Bücher, darunter Suketu Mehtas "Bombay, Maximum City", Istvan Eörsis "Im geschlossenen Raum" und Silvio Blatters Roman "Eine unerledigte Geschichte" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Welt, 31.10.2006

Nach einem Treffen mit Günter Grass und anderen Kollegen präsentiert der Schriftsteller Burkhard Spinnen seine Gedanken zur richtigen politischen Literatur. Zum einen natürlich "Schluss mit der Schizografie!", zum anderen muss die Sprache das A und O bleiben. "Literatur ist nicht der Ort, an dem die Probleme der Staatssekretäre gelöst werden; hier wird vielmehr die Probe auf den Stand ihrer Sagbarkeit gemacht. Ich wage ein Beispiel: Solange von einer Reform des so genannten Gesundheitswesens gesprochen wird, kann nichts Wesentliches gelingen. Würde irgendwo (und der Ort kann nur die Literatur sein) erkennbar gemacht, dass wir uns eigentlich um eine Neudefinition des Todes in Zeiten der Intensivmedizin zu bemühen haben, bestünde vielleicht eine Chance auf Gesetze, die mehr bewirken als einen vorläufigen Interessensausgleich von Lobbys."

Weiteres: Peter Dittmar annonciert eine Auktion bei Sotheby's, bei der 173 Stücke von vergangenen Weltausstellungen veräußert werden. Hendrik Werner weist auf das Online-Austauschforum "Yahoo Clever" hin, dessen deutsche Version am Wochenende startete. Der Galerist Bernd Fesel begrüßt die 55-Millionen-Spende für einen Neubau des Essener Folkwang Museums, mahnt aber eine im Unterhalt sparsame Variante an.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Werken von Giovanni Bellini, Tizian und Giorgione im Kunsthistorischen Museum Wien, Sofia Coppolas "unentschiedener" Film "Marie Antoinette" und eine Aufführung von Nikolai Rimski-Korsakows Oper "Zarenbraut" in Frankfurt,

FAZ, 31.10.2006

Regina Mönch ringt die Hände angesichts neuer Versuche, in Berlin die Einheitsschule umfassend zu testen. "All die bekannten Misserfolgsstudien über Gesamtschulen" würden ebenso ignoriert wie die in Berlin selbst gemachten Erfahrungen mit der Einheitsschule, die bis in die Zwanziger zurückreichten. "Das letzte Mal wurde die Einheitsschule 1991 Geschichte. Innerhalb weniger Monate entschieden Ost-Berlins Eltern sich - nach vier Jahrzehnten verordneter Einheitsschule - für das dreigliedrige System. Es war eine Abstimmung mit den Füßen und gegen die ursprünglichen Intentionen der damals rot-grünen Stadtregierung."

Eva-Maria Magel schildert am Beispiel zweier Internetseiten den unterschiedlichen Umgang mit der Kriminalität in Südafrika: bei crimexposouthafrica.org "kann jeder Südafrikaner seit einigen Monaten seine persönlichen Begegnungen mit dem Bösen ins Internet stellen. Die Auswahl ist groß. Südafrika konkurriert um die Weltspitze, was Kriminalität angeht." Die Seite realsouthafrica.co.za glaubt dagegen nicht an einen moralischen Verfall des Landes: "Fröhliche Fotos der 'Rainbow nation' schmücken die Seite, das Forum beschwört Südafrikas Erfolge, die Gastfreundschaft und die Tugend des 'Ubuntu', der Solidarität."

Weitere Artikel: In der Leitglosse geißelt aro. einen Kabarettabend von Erik Gedeon über die Große Koalition. Michael Althen resümiert die Hofer Filmtage. Martin Lhotzky hörte an "sechs Jelinek-Jubeltagen" in Wien "anspruchsvolle bis schwierige Referate". Catrin Lorch hat bei der Düsseldorfer Quadriennale Werke von Nauman, De Bruyckere, Honert und Margolles gesehen. Joseph Croitoru wirft einen Blick in osteuropäische Zeitschriften, in denen zwei Kritikerinnen des kommunistischen Totalitarismus zu Wort kommen: Doina Jela in Timpul und Hannah Arendt in Osteuropa. Im Leitartikel auf der Seite 1 nimmt Heike Schmoll die gerade erschienene "Bibel in gerechter Sprache" aufs Korn: Da würden im Sinne einer politischen Korrektheit "Unterschiede zwischen Judentum und Christentum nivelliert, selbst philologische Fehlentscheidungen in Kauf genommen."

Auf der DVD-Seite stellt Bert Rebhandl die DVD-Editionen bei Arte vor (darunter Marcel Ophüls' Doku über Kriegsberichterstatter, "Veillees d'armes"). Weiter geht's um DVDs von Werner Herzog ("Grizzly Man"), Eric Rohmer ("Triple Agent") und Greg Araki ("Mysterious Skin").

Auf der letzten Seite porträtiert Wiebke Hüster den Ballettmeister Nikolas Sergejew, der mit den Aufzeichnungen von 24 Choreografien vor den Bolschewiki in den Westen flüchtete. Dirk Schümer gibt lang seinem Entzücken über die Villa Vigoni Ausdruck, die heute ein deutsch-italienisches Zentrum birgt. Und Katja Gelinsky informiert uns über den Einsatz von Hollywoodstars für eine neue Energiesteuer in Kalifornien: Mit dem Geld sollen alternative Energien gefördert werden.

Besprochen werden die Kleopatra-Ausstellung im Bucerius-Forum in Hamburg, Reiner Lists Installation "Window" im Berliner Museum für Fotografie und Rimski-Korsakows Oper "Die Zarenbraut" in Frankfurt.

SZ, 31.10.2006

Andrzej Stasiuk schreibt über Allerseelen, seiner Meinung nach nicht nur einer der wichtigsten, sondern mit seinen leeren, von Feuern erleuchteten Friedhöfen einer der schönsten Feiertage in Polen. "In einer Entfernung von sieben, acht Kilometern habe ich an die zehn Friedhöfe. Ich schreibe 'ich habe', denn seit vielen Jahren bemühe ich mich, sie um Allerseelen herum alle aufzusuchen. Einige liegen in der Einöde, in entvölkerten Tälern, die früher Dörfer waren. Ich komme angefahren, zünde Grablichter an und verlese die kyrillisch geschriebenen Namen."

Titus Arnu besucht den Illustrator Nikolaus Heidelbach, der in einem Kinderbuch auch schon mal Kinder das Totsein üben lässt. Hermann Unterstöger, der selbst immer wieder gern über Sprachliches sinniert, beäugt den jungen Kollegen und "Deutschlehrer der Nation" Bastian Sick. Helmut Böttiger gratuliert dem Schriftsteller Günter de Bruyn zum Achtzigsten. Anke Hilbrenner resümiert eine Düsseldorfer Tagung, auf der der Körper kulturtheoretisch auseinandergenommen wurde. Glücklich erforscht Gottfried Knapp die neue Ostasiengalerie in Dresden, die in einem Teil des Zwingers untergebracht ist und vom New Yorker Edeldesigner Peter Marino in Szene gesetzt wurde. Vasco Boenisch weist auf die massiven Einsparungen beim Theater Bonn hin, wo weitere 6,1 Millionen im Jahr gekürzt werden sollen. Harald Eggebrecht nutzt eine Zwischenzeit, um sich an den Lumpensammler von einst zu erinnern.

Besprochen werden die biografisch inspirierte Choreografie "La Vie du danseur" des bald achtzigjährigen Maurice Bejart in Lausanne, Jürgen Kruses Inszenierung von Tennessee Williams' "Die Glasmenagerie" in Luzern, Sacha Baron Cohens grenzüberschreitende Satire "Borat", ein Auftritt von George Michael in München ("Live eine der größten Stimmen, die der britische Pop je hervorgebracht hat", schwärmt Tobias Kniebe), das Album "Out Now" der Band Lychee Lassi, und Bücher, darunter Günter de Bruyns Simultanchronik "Als Poesie gut" aus Berlins Kunstwelt im späten 18. Jahrhundert, zwei Bücher über die Gemeinsamkeiten von Mensch und Schimpanse sowie Stefan Moses' Bildband über "Ilse Aichinger" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).